Lautlesen: Eine unterschätzte Praxis
Von Dietrich Sagert
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Über dieses E-Book
In der gottesdienstlichen Realität gewinnt man landauf, landab jedoch den Eindruck, als sei das laute Lesen eine wenig geschätzte Praxis. In Tonfall, Aussprache und Geste wirken Lesungen in den Kirchen oft wie gefangen in der Strategie einer pastoralen Fehlervermeidung. Beobachtungen jahrelanger Übungspraxis innerhalb der Arbeit des Zentrums bilden den Ausgangspunkt der interessanten Reflexionen in diesem Buch und führen laut und lesen eng zusammen.
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Buchvorschau
Lautlesen - Dietrich Sagert
KIRCHE IM AUFBRUCH
Reformprozess der EKD
Herausgegeben vom Kirchenamt der EKD
Band 28
Dietrich Sagert
Lautlesen
Eine unterschätzte Praxis
Im Auftrag des
Zentrums für evangelische
Gottesdienst- und Predigtkultur
Dietrich Sagert, Dr. phil., Jahrgang 1963, studierte Theologie, Philosophie, Musik und Theater. Er wurde im Bereich Kulturwissenschaft über Andrej Tarkowskij (HU Berlin) promoviert und arbeitete als Theaterregisseur u. a. in Paris und Luxemburg. Derzeit ist er Referent für Redekunst/Rhetorik am Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur der EKD in Wittenberg. Sagert lebt in Berlin.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2020 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Printed in Germany
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Gesamtgestaltung: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Coverfoto: © Christian Melms, Wittenberg
Druck und Binden: CPI books GmbH, Leck
ISBN 9783374063376
www.eva-leipzig.de
Für Lil und Leonard
Einführung
Ob in großen christlichen Gottesdiensten oder in kleinen (Andachten), ob mit vielen Beteiligten oder wenigen, ob in großer, gar televisionierter Öffentlichkeit oder verborgen: In keinem anderen Zusammenhang werden in dieser Regelmäßigkeit Texte vorgelesen. Diese Praxis der Lesung ist eine Besonderheit, die sich vergleichbar nur in anderen religiösen Kontexten findet.
Was dort laut gelesen wird, ist zumindest Weltliteratur.
Im christlichen Kontext werden Abschnitte aus der Bibel, dem Alten und dem Neuen Testament gelesen. Ökumenisch konsensuell werden diese Texte als Wort Gottes verstanden. Sie spielen als solches für alle christlichen Kirchen, insbesondere für die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen des Wortes, eine theologisch konstitutive Rolle. Sie kulminiert in der Lehre von der Offenbarung. Oftmals sind die Lesungen in liturgische Kontexte eingebaut, die ihre besondere Bedeutung heraus- und die Lesenden damit in besondere Situationen hineinstellen. Die bekannteste erinnert an die Berufung des Propheten Jesaja, dem eine glühende Kohle in den Mund gelegt wird, um den Vorgang einer Reinigung bzw. Transformation zu beschreiben, der nötig ist, um das Wort Gottes zum Ausdruck bringen zu können.
In erschreckendem Gegensatz zu dieser theologisch-rituellen Überhöhung der Lesung steht eine so gut wie komplette Vernachlässigung ihrer eigentlichen Praxis, des lauten Lesens selbst.
Doch wie wäre es, wenn in den christlichen Gottesdiensten oder Andachten, ob mit vielen Beteiligten oder wenigen, ob in großer, gar televisionierter Öffentlichkeit oder verborgen, ob von einer Bischöfin oder einem Laien diese Texte zumindest wie Weltliteratur laut gelesen würden?
So manche praktisch-theologische Debatte um den Gottesdienst, seine Qualität, allerlei Schnickschnack und Drumherum hätten sich erledigt, wenn die großartigen Texte der Bibel geübt und nicht nur vom Blatt (ab)gelesen würden.
Beobachtungen aus jahrelanger Übungspraxis innerhalb der Arbeit des Zentrums für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur bilden den Ausgangspunkt des vorliegenden Buches. Es schlägt eine andere Herangehensweise an das laute Lesen vor und reflektiert diese Praxis aus unterschiedlichen Kontexten.
Wenn die Gemeinden langsam kleiner werden, die Kirchen innerhalb eines Gemeindebezirkes zahlreicher, wenn es weniger ordinierte Pfarrerinnen und Pfarrer gibt … Was geschieht dann mit dem Gottesdienst? Welche kleinen Formen gibt es? Auf welche Formen kann man sich verlassen? Was können Gruppen ohne Vorsitz alleine feiern und wie? Was kann in Kirchen geschehen, in denen kaum noch Gottesdienste stattfinden?
Laut Lesen als übende bzw. geübte Praxis könnte der konkrete Anfang einer Antwort auf diese immer dringlicher werdenden Fragen einer kommenden Kirche sein. An den Gebetsruf anknüpfend: Herr, fange bei mir an! kann das nur heißen: Ich fange bei mir an. Fangen Sie also bei sich an! Sie können in Ihrer persönlichen Praxis des lauten Lesens von der Gewissheit ausgehen, dass die Texte selbst ihre besten Lehrmeister sein werden, wenn Sie sie nur laut lesen. Sonst bleiben sie Ihnen verschlossen und denen, die Ihnen zuhören, auch.
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
I Laut Lesen
II Lesung
III Wer da?
IV Lautlesen II
V Liturgie und Drama
VI Man weiß nicht, wie er sich verhält
VII Wortverständlich wäre ich tot
VIII The plum tree is white today
IX Laut lesen als minorisierende Praxis
X Verloschen?
XI Leseprobe
XII Laut lesen gegen den Krieg
XIII Eine kleine Liturgie der Lesung
XIV Quoten
XV Exercitium verbi
XVI Prima vista
XVII Lesepult
XVIII Zeilenumbruch versus Sinn
XIX Der Philosoph
XX Pilgern
XXI Artikulation
XXII Konkret
XXIII Blicke
XXIV Bibel lesen
XXV Vokale
Editorische Notiz
I Laut Lesen
¹
‚Lautes Lesen‘ ist nach dem Erzählen eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit. An den großen Texten der Weltliteratur bildet sich insbesondere durch lautes Lesen die eigene Sprachfähigkeit heraus. Für den deutschen Sprachraum spielte hierbei die Bibel, insbesondere in der Übersetzung Martin Luthers, eine herausragende Rolle. Die Kraft ihrer Sprache kann man noch heute spüren, wenn man sie jungen Menschen, die die Bibel nicht oder nur wenig kennen, laut vorliest. Selbstverständlich sind große Texte auch geeignet, das laute Lesen selbst zu üben. Das ist unverzichtbar für öffentliches lautes Vorlesen, etwa während eines Gottesdienstes. Aufmerksame Ohren bemerken nach wenigen Worten, ob die Lektorin geübt ist. Kein Schauspieler liest öffentlich Texte, ohne minutiös vorbereitet zu sein. Leicht wirkendes Können Geübter verführt dazu, zu glauben, nicht üben zu müssen. Üben heißt aber auch: vertraut werden. Wenn ein mit dem Text nicht vertrauter Leser nicht gleich ins Stocken gerät, rettet er sich meist in didaktische Manierismen: pastorale Fehlervermeidungsstrategien. Auch einem erklärenden Lesen sollte man eher misstrauen, es bevormundet die Hörenden, indem es Verstehens-Muster vorgibt.
Öffentliches lautes Lesen ist die öffentliche Fortsetzung nicht öffentlicher Lesepraxis. Auch sie tut gut daran, das laute Lesen im Repertoire zu haben. Komplexe Texte, etwa philosophische, lassen sich übrigens meist leichter verstehen, wenn man sie sich laut vorliest. Zudem ist lautes Lesen ein Genuss …
Zur Kulturtechnik lautes Lesen kommt eine spirituelle Technik hinzu. Das laute Lesen heiliger Texte für sich und in der Öffentlichkeit wird praktiziert, seit es geschriebene Texte gibt. In dieser Praxis bildeten sich wiederum verschiedene Techniken heraus. Sie reichen von einem Rezitieren mit erhobener Stimme, was man nicht nur aus akustischen Gründen tat, sondern auch, um Würde und Autorität der gelesenen Texte herauszustellen. Ein singendes Sprechen (Psalmodie) zumeist in genau bestimmten Tonfolgen kennzeichnet den festlichen Vortrag, oftmals sogar in verteilten Rollen, bis hin zum Singen. Viele dieser Techniken haben sich in unterschiedlichen Ausformungen in der christlichen liturgischen Praxis erhalten und sind in musikalische Praxis übergegangen (Sprechgesang, Rezitativ, Arie).
Lautes Lesen als spirituelle Technik ist schon im Alten Testament belegt, etwa im Buch Deuteronomium (31,10 f.). Es ließe sich eine Homiletik aus der Lesung heraus entwickeln. Im Neuen Testament wird dies von der synagogalen Praxis her nahegelegt (vgl. Apg 13,15 und Lk 4,16–21).
Die liturgische Lesung, die lectio, nimmt im christlichen Gottesdienst aller Konfessionen einen zentralen Platz ein. Heute werden meist ausgewählte Ausschnitte (Perikopen) gelesen. Es gibt aber auch die fortlaufende Bibellese, die lectio continua.
Die Traditionen der Lesung biblischer Texte, täglich und im Rhythmus des liturgischen Kirchenjahres, zeigen die