Identitäten im Pfarramt: Denkanstöße aus Theorie und Praxis
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Über dieses E-Book
Anhand der Beiträge wird deutlich, dass die Bildung pastoraler Identität als lebenslange Aufgabe der Pfarrerinnen und Pfarrer zu verstehen ist. Kirchenleitung und Universität wollen den Weg dazu ebnen, ohne eine Identität als anzustrebendes Ideal vorzugeben. Die Vielseitigkeit der Ansätze wird Orientierungspunkte an die Hand geben, die verworrene Transformationsprozesse des kirchlichen Amtes in Ansätzen entzerren können.
Mit Beiträgen von Thilo Auers, Peter Bubmann, Oliver Georg Hartmann, Ralf Matthes, Stephan Mikusch, Alexander Proksch, Martin Scheidegger, Isolde Schmucker, Wolfgang Schoberth, Frank Seifert und Frank Zellinsky.
[Identities in the Parish Ministry. Thought-Provoking Impulses from Theory and Practice]
Not least due to structural debates within the church, the self-understanding of church officials is currently being questioned. The volume of essays pursues precisely this question and sheds light on identities that have become fluid in the parish ministry. In order to avoid overly one-sided approaches, various positions from university and church formation as well as pastoral practice are collected here. The contributions show that the formation of pastoral identity is to be understood as a lifelong task of pastors. Church leaders and the university want to pave the way for this, without prescribing an identity as a desirable ideal. The diversity of the approaches will provide points of orientation that can help to untangle the confused transformation processes of the church ministry.
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Buchvorschau
Identitäten im Pfarramt - Evangelische Verlagsanstalt
Stephan Mikusch | Alexander Proksch (Hrsg.)
IDENTITÄTEN IM PFARRAMT
DENKANSTÖßE AUS THEORIE UND PRAXIS
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: Zacharias Bähring, Leipzig
Satz: Stephan Mikusch, Erlangen
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-374-06206-5
www.eva-leipzig.de
VORWORT DER HERAUSGEBER
Der Plural im Buchtitel irritiert. Ursprünglich galt »Identität« in Bezug auf eine personale Einheit und auf soziale Rollen als unzählbar, doch in Zeiten schnelllebiger Selbstbilder und scheinbar grenzenloser Selbstkonstruktion relativiert sich der singuläre Sprachgebrauch. Längst ist der Identitätsbegriff zudem in kirchliche und pastoraltheologische Diskussionen eingesickert und saugt als das Reizwort »Pastorale Identität« vielzählige Selbstzuschreibungen und Rollenmuster kirchlicher Amtspersonen auf. Die plurale Form berücksichtigt nur zeitgenössische Analysen, die eigentümliche Berufsidentität von Pfarrinnen und Pfarrern stellt sich keineswegs mehr als monolithischer Block dar. Nur einer mehrdimensionalen Betrachtung gelingt heute eine angemessene Annäherung an das pastorale Rollentableau. Als unerlässlich erweist sich hierbei eine Berücksichtigung geschlechtlicher Identitäten. In diesem Band erwartet ein anderer Schwerpunkt. Der Blick auf ausgewählte »Identitäten« pastoraler Grundstrukturen soll das Verständnis für die Verknüpfung von Amt und Person schärfen. Eine Einsicht bewahrheitet sich dabei einmal umso mehr: Die Koexistenz mehrerer Qualitäten der Theologen und Theologinnen für den Pfarrberuf entzieht sich fortan einer verkürzten, punktuellen Bestimmung des Amtsverständnisses.
Die Rede von »Identität« im Kontext eines kirchlichen Amtes der evangelischen Kirchen indessen ist nicht neu. Sie genoss schon immer besondere Aufmerksamkeit. Die Frage nach der eigenen Identität bewegt Pfarrerinnen und Pfarrer jedoch gegenwärtig einmal mehr angesichts der Fülle an Kirchenreformen und einer abnehmenden Plausibilität des kirchlich gebundenen Amtsbegriffs. Nicht zuletzt durch die Originalität des Berufs »Pfarrers« bleibt der Wunsch einerseits nach konturierten Rollenbildern, andererseits nach einer Ausgewogenheit von Arbeits- und Privatleben in diesem Berufsstand besonders ausgeprägt.
Hier wie auch die beinah inflationäre Anwendung des Terminus »Identität« in jüngsten kulturwissenschaftlichen Debatten, in der Psychologie und neuerdings in bestimmten politischen Kreisen verweist es auf eine Unsicherheit ehemals unhinterfragbarer Sozialstrukturen und individueller Selbstverortung. »Identität« entwickelt sich in Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Umwelt. Durch gegenwärtige gesellschaftliche, physische und letztendlich religiöse Einflüsse gerinnen eine Erwartungshaltung an sich selbst wie auch diverse Fremdbilder an die eigene Person. Die Organisationsgestalt der verfassten Volkskirche ist freilich eingebettet in diese Transformationswellen der Gesellschaft. Allein dadurch wird das pastorale Selbstverständnis von aktuellen Anfragen umspült und hat sich einer eingehenden Selbstreflexion zu stellen.
Die Beiträge in diesem Buch geben darauf ganz unterschiedliche Antworten, die sich zu einem Perspektivenmosaik zusammenfügen. Es würde auf diesem Feld zu kurz greifen, eine einseitige Wahrnehmung aus der Warte theoretischer oder anwendungsbezogener Überlegungen den Vorrang zu geben. Allein der gleichrangige Austausch zwischen der universitär verankerten Theologie, landeskirchlichen Positionen und Verantwortlichen aus der pastoralen Fort- und Weiterbildung sowie der pastoralen Praxis nimmt eine prozessuale Identitätsbildung ernst. Das Gespräch zwischen jenen berufsfeldbezogenen neuralgischen Punkten hat sich als fruchtbar erwiesen. Diesem Band ist daher eine Tagung am Erlanger Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität im Jahr 2018 vorangegangen. Wir danken den stud. theol. David Hamel und Mira Rupp, die uns bei der Durchführung dieser Tagung tatkräftig unterstützt haben. Manche Beiträge sind auf dem Hintergrund dieser Aussprache und der damaligen Vorträge erwachsen, andere sind als Resonanz auf die damaligen Impulse hinzugefügt. Allen Autorinnen und Autoren der vorliegenden Publikation sind wir zu großem Dank verpflichtet, dass sie an diesem Vorhaben mitgewirkt haben.
Auf der letzten Etappe des Druckwerkes waren uns stud. theol. Veronika Bibelriether und stud. theol. Susanna Haßel eine zuverlässige Hilfe. Sie haben sorgfältig Korrektur gelesen, wofür ihnen zu danken ist. Eine organisatorische Unterstützung bot uns das Sekretariat des Lehrstuhls für Praktische Theologie, namentlich Frau Susanne Galsterer, ohne die schon unsere Tagung nicht das geworden wäre, was sie gewesen ist. Ihr ist für alle Mühe ein herzlicher Dank auszusprechen.
Ohne Druckkostenzuschüsse ließen sich solche Bände nicht veröffentlichen. Dank ist daher allen zu sagen, die zur Verwirklichung der Publikation beigetragen haben. Es sind dies die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Luise-Prell-Stiftung sowie die Dorothea und Dr. Dr. Richard Zantner-Busch-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg. Schließlich danken wir der Evangelischen Verlagsanstalt für die Veröffentlichung und die unkomplizierte Zusammenarbeit.
Die Anstöße der folgenden Schriften sollen nicht nur Einzelmeinungen konservieren. Sie wollen hineinwirken in eine Zeit, in der manche Weiche neu gestellt werden muss. Dieses Buch will für unsere Zukunft seinen Beitrag dazu leisten.
Erlangen, im Juli 2019
Stephan Mikusch & Alexander Proksch
INHALT
COVER
TITEL
IMPRESSUM
VORWORT DER HERAUSGEBER
AKADEMISCHE REFLEXIONEN
(K)EIN CHRIST WIE JEDER ANDERE?
Ekklesiologische und soteriologische Bemerkungen zum ordinierten Amt
Wolfgang Schoberth
PASTORALE IDENTITÄT IM MITEINANDER DER BERUFSGRUPPEN
Peter Bubmann
TIEFENAUFKLÄRUNG UND (PROTO-)THEOLOGIE
Konsequenzen für das Theologiestudium
Stephan Mikusch
SPIRITUELLE IDENTITÄT
Gestaltete Glaubenspraxis als pastoraler Referenzrahmen
Alexander Proksch
REFLEXIONEN AUS KIRCHENLEITENDER PERSPEKTIVE
ENGAGIERT, KIRCHENNAH UND EIN SPIEGEL DER VOLKSKIRCHE
Eine Untersuchung zum Nachwuchs für den Pfarrberuf
Frank Seifert
PASTORALE IDENTITÄT IN ZEITEN DES WANDELS
Perspektiven für die Ausbildung
Isolde Schmucker
LEITUNG MIT FORMAT
Erfahrungen aus dem Prozess »Berufsbild: Pfarrerin, Pfarrer« und Überlegungen zu einem evangelischen Leitungsverständnis im 21. Jahrhundert
Stefan Ark Nitsche
REFLEXIONEN AUS DER ZWEITEN AUSBILDUNGSPHASE UND DER KIRCHLICHEN PRAXIS
WENN DAS WIRKLICHE LEBEN DAZUKOMMT
Pastorale Identität in Selbst- und Welterfahrung
Frank Zelinsky
PASTORALE IDENTITÄT IN DER KIRCHE ALS JAZZBAND
Improvisationsfähigkeit als Kernkompetenz
Martin Scheidegger
ZUGANGS- UND TIEFENDIMENSIONEN IN DER BILDUNG PASTORALER IDENTITÄT
Eine systemische Perspektive auf die Arbeit mit Vikarinnen und Vikaren
Thilo Auers
WIE EIN HERBERGSVATER
Die pastoralen Herausforderungen der Gegenwart im Spiegel von Manfred Josuttis‘ Klassiker »Der Pfarrer ist anders«
Oliver Georg Hartmann/Ralf Matthes
STICHWORTVERZEICHNIS
AUTORENVERZEICHNIS
WEITERE BÜCHER
ENDNOTEN
AKADEMISCHE REFLEXIONEN
(
K)EIN CHRIST WIE JEDER ANDERE?
Ekklesiologische und soteriologische Bemerkungen zum ordinierten Amt
Wolfgang Schoberth
Ist der Pfarrer, ist die Pfarrerin ein Christ wie jeder andere? Die Form, in der mir die Frage gestellt ist, erlaubt ein Ja oder ein Nein; meine Antwort ist dementsprechend ein kräftiges Ja und Nein. Das ist nun keine rhetorische Pointe; vielmehr sprechen für beide Antworten nicht nur viele gute Gründe, es wird sich auch zeigen, wie ich im Folgenden kurz darlegen und begründen will, dass die Frage überhaupt nur in der Spannung von Ja und Nein sachgemäß zu beantworten ist. Eine Klärung dessen, was im Titel unserer Tagung als »Identität(en) und Pfarramt« im Blick ist, was sich aber auch dann im Leben in diesem eigentümlichen Beruf bewähren kann, muss von dieser Dialektik ausgehen.
Die Frage nach der Identität der Pfarrerin und des Pfarrers ist zumindest in dreifacher Hinsicht zu stellen, die genau unterschieden werden müssen, auch wenn sie miteinander verbunden sind: Das eine ist die Frage nach der »Person«, also nach meiner je eigenen Identität als Pfarrer; ein anderes ist die Frage nach dem Beruf oder, um bei dem etwas hölzernen, aber eingeführten Begriff zu bleiben, der »Profession«. Ein Drittes wiederum ist dann die Frage nach dem »Amt« – und ich will zeigen, dass nur von einem theologisch genau reflektierten Verständnis des Amtes die anstehenden Fragen sinnvoll und hilfreich zu bearbeiten sind. Hier muss auch genau unterschieden werden, weil jede der Dimensionen eine eigene Perspektive und eigene Begründungszusammenhänge hat. Aus der Vermischung dieser Dimensionen wiederum entsteht eine Vielzahl von Verwirrungen, die große Teile der einschlägigen Diskussion prägen und Irritationen sowohl im Blick von außen wie in der Selbstwahrnehmung von Pfarrerinnen und Pfarrern produzieren. Sie aufzulösen, ist darum eine elementare Aufgabe im Nachdenken über Identität(en) und Pfarramt.
Ich sehe hier ein theologisches Defizit – genauer: ein Defizit an Theologie, das diese Verunsicherung hervorbringt. Darum ist auch die naheliegende Folgerung, dass nur eine intensivere und bessere Theologie die notwendige Korrektur ermöglichen kann. Dazu will ich einen kleinen Beitrag leisten.
1 IRREDUZIBEL INDIVIDUELL: DIE »PERSON« DER PFARRERIN/DES PFARRERS
Zunächst: Pfarrerin und Pfarrer sind nicht wie alle anderen. Jeder Pfarrerin und jeder Pfarrer ist irreduzibel individuell. Jede und jeder hat eine andere und eigene Geschichte; ihr und sein Glaube ist geprägt durch diese Geschichte. Nun muss man freilich gleich dazusetzen, dass das auch für die anderen gilt: Auch alle anderen sind nicht wie alle anderen – kein Christ und keine Christin ist wie jeder und jede andere. Für jeden gilt, dass ihr Glaube geprägt ist durch ihre je eigene Biographie.
Es wäre also dialektisch zu formulieren: Weil Pfarrerin und Pfarrer nicht wie alle anderen sind, sind sie so individuell wie alle anderen auch. Das ist kein Spiel mit Worten, sondern verweist auf ein Wesensmerkmal des Christseins, für das das Ineinander von Gemeinsamem und Besonderem grundlegend ist; das gilt nicht erst für das Pfarrerin- oder Pfarrersein. Glaube ist immer eine höchstpersönliche Sache; Glaube ist immer genau mein Glaube – aber er ist eben darin immer auch zugleich der eine Glaube.
Das müsste dann freilich auch konsequent zur Geltung gebracht werden.¹ Eben dies ist sowohl in der Systematischen wie in der Praktische Theologie oft nicht der Fall, obwohl die eigentümliche Verschränkung von Allgemeinem und Besonderem sowohl in der Wahrnehmung der kirchlichen Wirklichkeit als auch für die Frage nach der Identität von Pfarrerinnen und Pfarrern von grundlegender Bedeutung ist. Das beginnt bereits bei der Frage nach der persönlichen Glaubensidentität, in der es eben darum geht, wie meine Glaubensgeschichte und die spezifische Situation in meinem Berufsleben zusammenstimmen können.
Hier zeigt sich ein grundlegendes methodologisches Problem, auf das ich gleich zurückkommen muss: Ebenso wie jede Pfarrerin und jeder Pfarrer anders ist, sind Ausdrücke wie »die Gemeinde« oder »die Christen« Verallgemeinerungen, die sich rasch auflösen, wenn man näher zusieht. Auch und gerade dort, wo sie die »Praxis« begreifbar machen wollen, sind sie bestenfalls Generalisierungen und erfassen darum nicht das Einzelne.
Im Blick auf die Person aber gibt es nur Konkreta: Dieser Mensch und diese Gemeinde oder diese spezifische Aufgabe. Eben darum aber haben hier allgemeine Beschreibungen nur geringe Aussagkraft. Darum ist hier eine kurze methodologische Reflexion nötig, weil hier das grundlegende Problem erkennbar wird, das mit dem Anschluss an die Sozialwissenschaften verbunden ist. Aus ihm resultiert nämlich die paradoxe Lage, dass die sog. »empirische Wende« in der Theologie zu einer eigenen Verengung der Wahrnehmung führen kann und weithin geführt hat.² Um es pointiert zu formulieren: Die Theologie nimmt durch die empirische Wende keineswegs, wie oft beansprucht, mehr Wirklichkeit wahr, sondern nimmt Wirklichkeit anders wahr – und vielleicht sogar eine andere Wirklichkeit. Und es spricht einiges dafür, dass sie insgesamt weniger wahrnimmt, weil an die Stelle der Aufmerksamkeit für die jeweilige lokale Wirklichkeit die Orientierung an allgemeine Paradigmen und Konzepte getreten ist, die allenfalls Durchschnittliches, nicht aber das jetzt und hier Wirkliche erfassen. Jedenfalls wäre konkret erst zu zeigen, ob die »empirische« Wahrnehmung wirklich angemessen oder angemessener für die Aufgabe von Theologie und Kirche ist. Gerade in der theologischen Rezeption fehlt sehr oft das methodische Bewusstsein dafür, wie empirische Methoden Bilder von Wirklichkeit generieren, welche Aspekte sie genauer zu sehen ermöglichen und welche sie abblenden. Sind es nicht gerade die für die Wirklichkeit des Glaubens und für das kirchliche Handeln relevanten Dimensionen, die hier abgeblendet werden? Die notorische Erfolglosigkeit von Strategien, die auf den Resultaten der empirischen Wende basieren, legt diese Vermutung zumindest nahe.
Auf unsere Frage angewendet wäre zu vermuten, dass diese Wende das Problem, das wir heute diskutieren, zu nicht geringen Teilen erst hervorgebracht hat. Die Verunsicherung von Pfarrerinnen und Pfarrern hinsichtlich ihrer »Identität« könnte methodisch generiert sein, weil sie auf Fragestellungen basiert, die für die Selbstwahrnehmung nicht unmittelbar hilfreich und dann auch irreführend sein können. Das ist in der methodischen Struktur empirischer Forschung angelegt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der empirische Blick allemal ein verallgemeinernder Blick sein muss, der vom Konkreten absieht. Empirische Zugangsweisen haben immer den Vor- und zugleich Nachteil, dass sie verallgemeinern müssen; wie alle Wissenschaft muss empirische Forschung das Individuelle abblenden und nivellieren, um Typen zu bilden. Das lässt sich in dem bekannten Diktum zusammenfassen, dass das, was für alle gilt, keineswegs für jeden gilt. Allgemeine Tendenzen haben für den konkreten Fall keine prognostische Aussagekraft – wenn sie denn überhaupt Erklärungskraft haben und Validität für die Wirklichkeitswahrnehmung besitzen sollten.
An dieser Stelle ist auch zu betonen, dass das irreduzibel Individuelle immer schon die kirchliche Wirklichkeit war, und die Verallgemeinerungen, mit denen die gängigen Theorien die Vergangenheit beschreiben, eher vereinheitlichende Projektionen als verlässliche Befunde sind. Die soziologische Individualisierungsthese sollte hier nicht in die Irre führen; der genauere Blick zeigt auch hier die Vielgestaltigkeit dessen, was sich dem heutigen Bewusstsein als vormoderne Einheit zu präsentieren scheint. In jedem Fall sind heute freilich nicht nur die Pfarrerinnen und Pfarrer höchst individuell: Die Gemeinden, in denen sie tätig sind, sind es auch; und nicht nur zwischen den verschiedenen Gemeinden gibt es erhebliche Unterschiede, sondern auch in jeder einzelnen Gemeinde finden sich genug Differenzierungen. Das allein lässt schon zweifelhaft erscheinen, dass allgemeine Modelle orientieren und handlungsleitend sein könnten.
Auch für die hier behandelte Frage nach der Verbindung von Glaubensidentität und Beruf, ist festzuhalten, dass das noch kein Spezifikum von Pfarrerinnen und Pfarrern ist. Diese Frage stellt sich vielmehr jeder Christin und jedem Christen; und jeder Beruf stellt spezifische Herausforderungen an das Christsein derjenigen, die ihn ausüben.
Dass die Verbindung von Glaubensidentität und Berufsidentität keine einfache Sache ist, gilt ebenso für christliche Medizinerinnen und Juristen und für Menschen in allen anderen Berufen. Der Blick auf die Probleme des Pfarrberufs sollte nicht dazu verleiten, das zu unterschätzen. Sicher gewinnt das eine eigene Dynamik, wenn der Glaube selbst in eigentümlicher Weise Inhalt der beruflichen Tätigkeit ist. Aber diese Herausforderung stellt sich nicht nur jeder intellektuellen Beschäftigung mit dem Glauben, wie sie auch Lehrerinnen und Lehrer, christliche Journalisten und Wissenschaftlerinnen bearbeiten müssen. Darauf will ich am Ende zurückkommen, weil hier in spezifischer Weise das Amt betroffen ist.
2 PERSON UND INSTITUTION: DIE »PROFESSION«
Zunächst aber zu der zweiten Dimension, der Frage nach der Profession. Hier gilt es ebenfalls die genannte Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderen genau zu beachten, weil dies ja genau die Stelle ist, an der die persönliche Identität und institutionelle Anforderung aufeinandertreffen. Institutionen, also auch Kirchenleitungen, handeln notwendigerweise mit Blick auf übergreifende Strukturen und damit Verallgemeinerbares, während Pfarrerinnen und Pfarrer sich in ihrer Arbeit in ihrer Gemeinde im schlechthin nicht Verallgemeinerbaren bewegen, nämlich in dieser Gemeinde und bei diesen Menschen. Wenn ich meine Gemeinde aber als Exempel allgemeiner Entwicklungen wahrnehme, werde ich sie verfehlen.³
Das hat also für die Frage nach der professionellen Identität also auch weitreichende Bedeutung, insofern nämlich Pfarrerinnen und Pfarrer jeweils in Gemeinden kommen, die selbst schon eine genuine geprägte Gestalt haben, bestimmte Strukturen aufweisen und bestimmte personelle und sachliche Ressourcen haben. Identität ist nicht daraus zu gewinnen, dass man eigene Vorstellungen implementieren will, und seien es kirchentheoretisch approbierte; Identität heißt vielmehr – im Blick auf die berufliche Realität wie auf die eigene Biographie – dass man sich einlässt auf das jeweils Gewordene, also auf die Realität, die ist, und dann gerade darin einen Weg für sich und mit den anderen findet.
Auch in der Relation von Kirchenleitung und Pfarrerinnen und Pfarrern, sind Person und Institution verwoben, wobei sie auch wiederum klar unterschieden werden müssen. Das beginnt bei den ganz individuellen Lebensumständen der Pfarrinnen und Pfarrer, die mit den Gegebenheiten am Ort in Einklang gebracht werden müssen, was z. B. die Größe des Pfarrhauses anbelangt – solche scheinbar trivialen Fragen sind bekanntlich oft besonders schwierig zu lösen. Schon da begegnen sich individuelle und institutionelle Interessen und stehen oft auch miteinander in Spannung. Das strukturelle Interesse und die Beziehung auf die Person müssen hier zusammenkommen; dabei kann eben die Unterscheidung der Dimensionen hilfreich sein: Die legitimen Interessen einer Institution und die Bedürfnisse von Personen sind unterschieden und folgen unterschiedlichen Logiken; sie müssen aber doch zusammengebracht werden, was leichter fällt, wenn die unterschiedlichen Relevanzen in ihrer jeweiligen Notwendigkeit wahrgenommen und nicht vermengt werden.
Hinsichtlich der Profession gilt nun ganz eindeutig, dass die Pfarrerin und der Pfarrer nicht Christen sind wie jede andere. Eben dies macht ja das Professionelle aus, wie denn der Begriff der Profession auf Abgrenzung von den Nicht-Professionellen und damit auf Hierarchie gegründet ist.⁴ Pfarrerinnen und Pfarrer sind in dieser Perspektive keine Christen wie alle anderen, sondern durch Ausbildung und institutionelle Beauftragung den Gemeindegliedern gegenübergestellt.
Auch wenn der Professionsbegriff in den Diskussionen zum Pfarrberuf selten genauer untersucht wird und in der Regel als unscharfer Ausdruck für die Besonderheiten der Anforderungen und Organisation des Pfarrberufs gebraucht wird, ist diese Abgrenzung konstitutiv. Das zeigt sich auch in der Wahrnehmung durch »die anderen«: Pfarrerin und Pfarrer sind Teil und Repräsentant einer Institution - ob sie das wollen oder nicht. Das ist wiederum zunächst nicht theologisch, sondern soziologisch zu erfassen, weil es um die spezifischen Erwartungen geht, die an die Funktionsträger gerichtet werden. Die Anwesenheit von Pfarrinnen und Pfarrern in der Gemeinde ist in dieser Perspektive dadurch begründet, dass sie hier eine bestimmte Funktion übernehmen, und das heißt, dass sie bestimmten Erwartungen ausgesetzt sind. Diese Erwartungen sind zunächst ganz legitim, weil sie eben aus der Logik der Funktion hervorgehen, die den Pfarrberuf kennzeichnen. Freilich können das durchaus widersprüchliche Erwartungen sein: sowohl zwischen verschiedenen Gruppen in der Gemeinde als auch über die Gemeinde als den unmittelbaren Adressaten des beruflichen Handelns von Pfarrerinnen und Pfarrern hinaus.
Diese divergierenden Erwartungen sind dann wiederum zu vermitteln mit den institutionellen Erwartungen. Aus der Perspektive der Kirche als Institution ist ihre Aufgabe auch als strategisches Handeln zu beschreiben: Pfarrerinnen und Pfarrer haben die Aufgabe, den Bestand und die Funktionsfähigkeit der Institution vor Ort zu gewährleisten. Sie sollen also auch eine Managementaufgabe erfüllen, die allemal auf Verallgemeinerungen basiert. Das kann auch gar nicht anders sein, weil der Blick hier auf das Ganze der Institution geht, also auch die Absehung vom Konkreten impliziert. Solche Ausrichtung am Ganzen ist geradezu die Eigenart strategischen Handelns. Weil das aber immer wieder mit den Spezifika im jeweiligen Kontext vermittelt werden muss, haben Pfarrerin und Pfarrer also auch die Aufgabe, die Vermittlung von institutionellem Interesse und den Erwartungen ihrer Gemeinden zu realisieren.
Eine der genuinen Schwierigkeiten des Pfarrberufs besteht darin, diese verschiedenen Vermittlungsaufgaben zu erfüllen und dabei die Dimensionen der Personalität – der eigenen wie der der Menschen, mit denen man beruflich Umgang hat – zu respektieren. Das beginnt in der Herausforderung, zwischen den einzelnen Tätigkeiten eines Tages und den jeweils dabei begegnenden Menschen differenzieren zu können und zugleich praktische Übergänge zu finden, wenn etwa nach Organisationsdiskussionen die ganz anderen Anforderungen eines Kasualgesprächs anstehen. Die Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem ist hier auch darin zu erkennen, dass die Kasualie, aber auch ein Geburtstagsbesuch für Pfarrerinnen und Pfarrer Routine ist, während sie für die Menschen, mit denen sie zu tun haben, einzigartig ist. Professionalität hieße hier, das zu würdigen ohne Einzigartigkeit vorzutäuschen, die ohnehin niemand glauben würde, weil jeder um die Routinisierung bei den professionellen Akteuren weiß. Die Aufgabe wäre also zu vermitteln zwischen der Allgemeinheit institutionellen Handelns und der Einzigartigkeit der Lebensgeschichte des Gegenübers, also die eigene Routine so wahrzunehmen, dass sie der Einzigartigkeit auf Seiten der anderen entspricht. Authentizität⁵ ist also nicht zu verwechseln mit der Verwischung der Differenz von Person und Profession, sondern entsteht vielmehr aus der genuinen Wahrnehmung der Profession.⁶
Weil die Situationen, auf die Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrem beruflichen Handeln treffen, unvorhersehbar sind – sowohl in der weiten Perspektive (diese Gemeinde ist anders als alle anderen) als auch in der engen (dieses Gespräch und diese Kasualie ist einzigartig) – kann Identität in Professionsperspektive nur heißen, in diesen Situationen so agieren zu können, dass ich mich dabei wiedererkennen kann. Dabei ergibt sich die berufliche Identität der Pfarrerin und des Pfarrers zunächst ganz unmittelbar daraus, dass sie gebraucht werden, und die Aufmerksamkeit darauf ist eine elementare Aufgabe.
Von hier aus zeigt sich aber auch die Problematik des Professionsbegriffs für die Beschreibung des Pfarrberufs; und diese Problematik hat es mit der Notwendigkeit einer gründlichen Diskussion des Berufsbilds zu tun. Diese Diskussion ist ja nicht zuletzt darum notwendig geworden, weil die Konturen des Pfarrberufs unklar geworden sind, was mit dem Gefühl der fortschreitenden Überforderung verbunden ist. Der Pfarrberuf hat nun im Gegensatz zu anderen Professionen die Besonderheit, dass er gerade nicht durch einen einzelnen spezifischen Funktionszusammenhang bestimmt ist, sondern eine Vielzahl von Funktionen integrieren muss. Anders als z. B. in der Medizin, dem Rechtssystem oder auch der Schule gibt es hier kein definiertes Setting, das auch die Grenze von Persönlichem und Professionellem, und dann wiederum die Grenze des Professionellen markieren könnte. Sowohl diese unklare Abgrenzung als auch die Herausforderung, die verschiedenen und verschiedenartigen Funktionen und Erwartungszusammenhänge zu integrieren und dann auch gegeneinander zu gewichten, stellen eine der stärksten Herausforderungen dieses Berufs dar. Die Zuständigkeit von Pfarrerinnen und Pfarrern scheint nirgendwo eindeutig zu enden; weil Christsein das ganze Leben umfasst, fallen auch alle seine Dimensionen in den Bereich des beruflichen Handelns von Pfarrern und Pfarrerinnen. Eben dadurch fällt eines der konstitutiven Momente des Professionsbegriffs in sich zusammen, weshalb die Professionstheorie sich als ungeeignet erweist, das spezifische Profil des Pfarrberufs zu beschreiben.
Die Konzentration auf die Perspektive der Professionalität muss mithin in diesem besonderen Beruf zwangsläufig auf Überforderung hinauslaufen. Wenn man von den Bedürfnissen und Ansprüchen ausgeht, die Pfarrerinnen und Pfarrern begegnen, und wenn von hier aus ihre Identität begründet werden soll, ist Überforderung unvermeidlich, weil man nie genug getan hat, um alle Bedürfnisse zu erfüllen, und weil immer noch mehr gegeben werden könnte und sollte.⁷ Zu dieser Überforderung hat gerade das Abstellen auf die professionstheoretische Perspektive beigetragen: Weil die »Profession« des Pfarrers nun gerade nicht (mehr) durch spezifische Handlungsfelder gekennzeichnet ist – die klassische Trias von Predigt, Unterricht, Seelsorge hätte vielleicht noch Orientierung geben können – sondern einerseits jeweils neu bestimmt werden muss und dabei andererseits potentiell unabschließbar wird, ist Überforderung vorgezeichnet.
Die notwendige Orientierung, die ein Untergehen in der Vielfalt der Ansprüche verhindern kann, ist also an anderer Stelle zu suchen. Hier muss nun die entscheidende dritte Dimension neben und vor Person und Professionalität ins Spiel kommen: Das Amt. Dabei wird sich zeigen: Es gibt nichts Realistischeres als ordentliche Dogmatik.⁸ Ich will nun also zeigen, dass sich die Frage nach der Identität von Pfarrerinnen und Pfarrern sinnvoll und vor allem hilfreich nur bearbeiten lässt auf der Grundlage eines soliden Amtsbegriffs.
3 GRUND UND GRENZE: DAS AMT
Diese Perspektive erfordert als erstes die konsequente Unterscheidung von den Dimensionen der Person und der Profession. Wenn vom Amt die Rede ist, dann ist zunächst gerade nicht von uns die Rede. Es ist nicht nach unserer Identität gefragt und ebenso wenig nach der Profession und der Wahrnehmung des Berufs. Gerade deshalb eröffnet diese Perspektive Freiheitsräume. Die dogmatische Reflexion hat dabei geradezu eine Entlastungsfunktion, indem sie von den drängenden Ansprüchen wegführt; sie führt aber genau dahin, woraus das alltägliche Handeln allererst seinen Sinn bezieht. Ohne solchen Sinn ist alles Handeln pure Geschäftigkeit; und es gibt nichts Ermüdenderes als Tätigkeiten, deren Sinnhaftigkeit sich mir