Digitale Kirche: Momentaufnahmen und Impulse
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Über dieses E-Book
[Digital Church. Snapshots and Impulses]
How does the Protestant Church take up the issue of digitization and how does it integrate it into its actions? This book reflects this question from a church-theoretical perspective. On the one hand, it shows which church images are used by church organisations to present digitisation initiatives. On the other hand, it examines how church staff members use digital applications and possibilities in their everyday work and what experiences they have with them. In this way, trends and outlines of the current debate can be reflected and the opportunities and limits of digital applications and possibilities in the Church's everyday work can be precisely depicted.
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Buchvorschau
Digitale Kirche - Gerald Kretzschmar
1. Einleitung
Von März bis Juni 2018 widmete die Wiener Albertina Keith Haring eine große Ausstellung. 2018 wäre der Künstler 60 Jahre alt geworden. Haring war ein präziser Beobachter des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in den 70er und 80er Jahren. In seinem Bild »Die Raupe« aus dem Jahr 1983 greift er kritisch die damaligen Aktivitäten im Silicon Valley in Sachen Chiptechnologie und Computerentwicklung auf. Auf dem Bild sieht man eine überdimensional große Raupe, deren Kopf ein Computer ist. Die Raupe trampelt achtlos über kopflose Menschen hinweg. Auf der Raupe sitzt ein kleiner Mensch, der versucht, die Raupe zu reiten und mit einem Stock zu lenken. In dem Informationstext der Albertina zu diesem Bild wird erläutert, dass die Raupe in Harings Werk sowohl für Verwandlung und Metamorphose als auch für Fresssucht und Gier stehe. In einer Reihe von Darstellungen gleiche sie darum einem Monster. In dem Bild »Die Raupe« steht die Raupe für das Angsteinflößende, Bedrohliche. Der Informationstext der Albertina präsentiert ein Zitat Harings aus dem Jahr 1978. Dort heißt es: »Der Silizium-Computerchip ist zur neuen Lebensform geworden. Die einzige Aufgabe des Menschen wird schließlich darin bestehen, dem Computer zu dienen. Sind wir bereits an diesem Punkt angekommen? Ja, in vielerlei Hinsicht.« So Haring 1978. Was würde Haring wohl zum aktuellen Stand der Digitalisierung in unserer Gesellschaft sagen?
Die Ausführungen des vorliegenden Bandes befassen sich mit der Frage, wie die evangelische Kirche die Digitalisierungsthematik aufgreift und in ihr Handeln integriert.
Die Reflexion dieser Frage erfolgt aus kirchentheoretischer Perspektive. Und das auf zweierlei Weise.
Zunächst werden prominente Papiere und Initiativen zum Thema Digitalisierung näher betrachtet, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Zwar kann und will die getroffene Auswahl von Texten und Initiativen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Wohl aber zeigt sie, wie die Kirche auf das Phänomen der Digitalisierung in Programmen und Impulspapieren reagiert hat. Hoffnungen und Chancen werden mit den Möglichkeiten der Digitalisierung verbunden. Es gibt aber auch Befürchtungen und kritische Fragen. Außerdem kann man den Texten und Initiativen entnehmen, welche Resonanzen das Digitalisierungsthema im Blick auf das kirchliche Selbstverständnis auslöst. Welche Kirchenbilder transportieren die Texte und Initiativen? Wie inszeniert sich Kirche in der Öffentlichkeit, wenn sie sich mit dem Thema Digitalisierung befasst? Der Fokus meiner Analysen liegt somit auf der Wahrnehmung der Resonanzen, die das Thema Digitalisierung in der evangelischen Landschaft in Deutschland in der Summe auslöst. In diesem Sinn sind die folgenden Analysen als Momentaufnahme zu verstehen, die zeigt, mit welchen Kirchenbildern sich kirchliche Organisationen bei der Erstpräsentation oder einer besonders öffentlichkeitswirksamen Präsentation von Digitalisierungsinitiativen in Szene setzen.
Eine zweite Momentaufnahme richtet den Fokus auf die Ebene der beruflichen Alltagspraxis in der Kirche. Im Unterschied zu den kirchenoffiziellen Digitalisierungspapieren und
-initiativen
, die es seit noch nicht einmal zehn Jahren gibt, befassen sich viele Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch andere kirchliche Mitarbeitende im Haupt- und Ehrenamt, schon bedeutend länger mit digitalen Anwendungen und Möglichkeiten. Erwecken die kirchlichen Digitalisierungstexte und –initiativen in weiten Teilen den Eindruck, als sei Digitalisierung und Kirche ein recht neues Thema, das sich erst allmählich in kirchlichen Praxisvollzügen niederschlägt, können kirchliche Mitarbeitende zum Teil bereits auf langjährige Erfahrungen mit der Nutzung digitaler Anwendungen und Möglichkeiten im Rahmen ihrer beruflichen Praxis zurückschauen. Zu dem, was die kirchlichen Texte und Initiativen vorwiegend hypothetisch als Chancen und Möglichkeiten, aber auch als Herausforderungen oder gar Gefahren der Digitalisierung in der Kirche benennen, können kirchliche Mitarbeitende in der Regel sehr detailliert sagen, wie sich das in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld tatsächlich darstellt. Der zweite Hauptteil dieses Bandes wendet sich darum der Frage zu, wie kirchliche Mitarbeitende digitale Anwendungen und Möglichkeiten in ihrem beruflichen Alltag nutzen und welche Erfahrungen sie damit machen. Konkret werden hier drei Interviews mit Pfarrern dokumentiert, die in ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern und kirchlichen Kontexten tätig sind und schon seit langem digitale Anwendungen und Möglichkeiten nutzen. Wie im ersten Hauptteil so geht es auch hier nicht um den Anspruch von Repräsentativität. Trotzdem ist davon auszugehen, dass die drei empirischen Schlaglichter Tendenzen und Konturen widerspiegeln, die Chancen und Grenzen digitaler Anwendungen und Möglichkeiten in der beruflichen Alltagspraxis der Kirche recht präzise abbilden.
Der Schlussteil des Bandes bringt die Momentaufnahmen der zuvor getrennt betrachteten kirchlichen Handlungsebenen miteinander ins Gespräch und formuliert Impulse, die der Orientierung des kirchlichen Umgangs mit der Digitalisierung dienen sollen.
2. Digitalisierung in kirchlichen Texten und Initiativen
Der zeitliche Rahmen der folgenden Analysen reicht vom Jahr 2012 bis ins Jahr 2018. Dieser Zeitraum mag kurz erscheinen. Doch zum einen wird das Thema Digitalisierung erst zu Beginn der 10er Jahre zum Gegenstand prominenter kirchlicher Verlautbarungen. Und zum anderen schlägt sich die äußerst schnelle Fortentwicklung digitaler Technologien auch in den kirchlichen Papieren so sehr nieder, dass selbst für die kurze Zeit von 2012 bis 2018 markante Konturen und Entwicklungslinien in der kirchlichen Wahrnehmung der Digitalisierung zutage treten.
2.1 »Das Netz sinnvoll nutzen – Die Internet-Strategie der ELKB«
²
Im Jahr 2012 legt die Bayerische Landeskirche wohl als erste der bundesdeutschen Landeskirchen ein Gesamtkonzept für den kirchlichen Umgang mit dem digitalen Wandel vor. Indem im Untertitel der offiziellen landeskirchlichen Broschüre von einer »Internet-Strategie« die Rede ist, werden automatisch kirchentheoretische Assoziationen hervorgerufen, die als Fragen formuliert etwa so lauten könnten: Befindet sich die Kirche in einer Art Kriegszustand, einem quasi militärischen Konflikt, in dem die beteiligten Akteure nach einer möglichst effizienten Strategie suchen, um die gegnerische Seite zu schwächen oder sie gar zu besiegen? Oder, weniger militärisch gedacht, sieht sich die Kirche einer Größe gegenüber, die ihr fremd, nicht-kirchlich ist? Eine Größe, die erschreckend oder auch faszinierend auf sie wirkt?
Das Geleitwort der Broschüre, unterzeichnet von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und Oberkirchenrat Detlev Bierbaum, bietet Anhaltspunkte für jede dieser Assoziationen. So stellen Bedford-Strohm und Bierbaum fest: »Das Internet ist zum Leitmedium unserer Gesellschaft geworden. Diesem Leitmedium kann und will sich unsere Kirche nicht verweigern« (3). Die Diktion des Zitates legt nun keinen Kriegszustand nahe, wohl aber so etwas wie das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Größen, wobei sich die eine, nämlich die Kirche, der anderen, dem Internet, nicht entziehen kann. Die Kirche muss sich daher mit dem Internet auseinandersetzen. Man kann das Zitat dann so lesen, dass aus der Not eine Tugend gemacht wird: Die Kirche kann sich dem neuen Leitmedium nicht entziehen und tritt stattdessen die Flucht nach vorne an, indem sie es nutzen will. Die der Kirche gegenüberstehende Größe Internet wird dabei einerseits als faszinierend wahrgenommen, indem missionstheologisch die Möglichkeit hervorgehoben wird, »Menschen, die wenig Kontakt zur Kirche haben, in ihren medialen Räumen anzutreffen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen« (ebd.). Andererseits werden aber auch die aufschreckenden, problematischen Aspekte des Internets benannt. Seine Gefahren und Risiken werden angesprochen, die daraus resultierende Notwendigkeit zu medienethischer Reflexion internetbasierter Kommunikationsformen wird betont so wie das »Gespür für die richtige Relation zwischen medialer und persönlicher Kommunikation« (4).
In der Konkretion trägt die Broschüre vor allem einen missionstheologischen Charakter. Unter dem Gesichtspunkt der »Internen Kommunikation« (5) wird durch die Nutzung des Netzes die Garantierung und Förderung »zeitgemäßer[r] Information und Kommunikation der Mitarbeitenden der ELKB untereinander« (ebd.) erhofft. Aber auch die Bildung von Gemeinschaften im Internet sowie die Unterstützung bestehender Gemeinschaften »durch Kontakt und Kommunikation« (ebd.) wird angestrebt, um so »das Evangelium Jesu Christi zu verbreiten« (ebd.).
Auf der Ebene der »Externen Kommunikation« (ebd.) ist das Ziel ebenfalls die Verbreitung des Evangeliums, indem die ELKB im Internet »verstärkt Öffentlichkeit und Präsenz« (ebd.) zeigt und die »Internetarbeit« (ebd.) der diversen kirchlichen Organisationebenen unterstützt.
Nach grundsätzlichen Informationen zur Zunahme internetbasierter Interaktionen und veränderter Nutzungsanforderungen vor allem unter Jugendlichen (vgl. 6f.) wird die Internetstrategie der ELKB weiter fokussiert. So nehme die »Kommunikation der Kirche im Netz« (8) vor allem die Menschen in den Blick, »die gerade nicht fest in kirchliche Strukturen oder Gemeinde eingebunden sind« (ebd.). Um diese Menschen zu erreichen, müsse »das Evangelium in vielfältiger Form im Netz präsent« (ebd.) sein. Man wolle auf neue »Formen der Vergemeinschaftung« (ebd.) reagieren und diese »neuen Räume« (ebd.) bewusst betreten, »um Menschen dort anzutreffen, wo sie sich aufhalten« (ebd.).
Das Kirchenbild bzw. die Ekklesiologie, mit der sich die Kirche im Internet präsentieren möchte, umfasst die Dimensionen Koinonia, Martyria, Leiturgia und Diakonia. Diese im Umfeld der Michaelsbruderschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierten Wesensmerkmale des Auftrags von Kirche sollen auch »in der Welt des Netzes zum Tragen« (9) kommen. Auch hier bildet sich die missionstheologische Intention der Broschüre ab: Der Kirche steht die ›Welt des Netzes‹ gegenüber, in das hinein sie ihren Auftrag vermitteln möchte.
Um diesen Auftrag zu erfüllen, schildert die Broschüre, wie man sich die Beziehungen, »die im Netz geknüpft werden« (ebd.), vorstellen kann. Im Unterschied zu ›starken Beziehungen‹ wie zum Beispiel intensive Freundschaftspflege, drängten im Netz ›schwache Beziehungen‹ in den Vordergrund (vgl. ebd.). Gemeint seien damit zum Beispiel »zufällige, kurzzeitige Bekanntschaften in einem Blog« (ebd.). Die Broschüre plädiert dafür, diese »schwachen Netzwerkbeziehungen als Formen der Gemeinschaft von Menschen« (10) zu würdigen und sich darauf einzustellen. Ebenso gelte es, die Individualisierung zu akzeptieren, auf deren Grundlage Menschen überhaupt erst in Gemeinschaft zueinander treten können. Schließlich sieht die Broschüre in den ›schwachen Beziehungen‹ des Netzes zwar keine Bereitschaft mehr, sich aufopfernd ehrenamtlich zu engagieren, wohl aber eine gewisse Gegenseitigkeitsorientierung, die das »Ernstnehmen des Individuums mit dem Engagement für die Gemeinschaft verbindet« (ebd.).
Als kirchentheoretische Kategorie, die die ›schwachen Beziehungen‹ im Netz in gewisser Weise kirchlich greifbar machen kann, nutzt die Broschüre den Begriff der Konziliarität. Dieser Begriff stehe dafür, dass das »Individuum in den Vordergrund« (11) rücke, und dafür, dass der »Gleichberechtigungsgedanke« (ebd.) hier ernst genommen werde. Beides, Wertschätzung des Individuums und Gleichberechtigungsgedanke, sei für den »Protestantismus und die evangelische Kirche wesensbestimmend« (ebd.). Indem sich die Kirche aus dieser Haltung heraus den ›schwachen Beziehungen‹ im Netz zuwendet, so die Hoffnung der Broschüre, könne es im Sinne des Begriffs der Konziliarität gelingen, die »Partizipation am ›inhaltlichen Diskurs zu aktivieren‹« (ebd.; Zitat im Zitat von Thomas Zeilinger). Dies sei »um so drängender, da die individuell-lebendige Frömmigkeit des und der Einzelnen sowie ganzer Gruppen – in und neben dem klassischen Gemeindeleben – immer mehr an Kraft gewinnt« (ebd.). Im Sinne einer öffentlichen Theologie gehe es darum, »den öffentlichen Raum des Internets zu nutzen und darin die Kraft wie die Befreiung durch die Botschaft des Evangeliums zu vermitteln« (12).
In diesem öffentlichen Raum des Internets rechnet die Broschüre mit einer regelrechten Internetgemeinde, die aus »unterschiedlichen Gruppen mit vielen Interessen« (14) bestehe. In der »Internetgemeinde gibt es Menschen, die aktiv nach Angeboten der Kirche suchen […] und solche, die man durch das spezifische