Wider das Vergessen: Buchstabensalat im Kopf
Von Brigitte Wulf
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Über dieses E-Book
Die Reise meines erkrankten Vaters ins Ungewisse wurde geprägt von etlichen kleinen und großen Katastrophen. Es kam zu Situationen, die uns überraschten, schockierten, sprachlos machten, aber auch zu solchen, in denen wir uns vor Lachen nicht mehr beruhigen konnten. Situationen, die sehr viel Kraft und Energie kosteten, Überredungskunst und Geduld nötig machten, altersstarsinnigen Widerstand auslösten, den Glauben an Gott und die Menschheit verlieren ließen. Die Hoffnung, dass alles ein gutes Ende nehmen würde, bestand bei meiner Mutter jedoch bis zuletzt.
Ich erzähle von meinen persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit. Vielen pflegenden Angehörigen, aber auch im Pflegedienst Tätigen, wird die eine oder andere beschriebene Situation bekannt vorkommen, manches wird auch ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern.
Die Besonderheit jedes Einzelfalles, aber auch die vielen Gemeinsamkeiten in der Krankheit und der Pflege können uns kollektiv einen neuen Umgang mit der Krankheit als auch mit unserem eigenen Leben ermöglichen.
Die Erkrankung meines Vaters zu erleben und zu erfahren ist ein unendlich wertvoller Bestandteil meines Lebens geworden, wofür ich sehr dankbar bin.
Brigitte Wulf
Brigitte Wulf, Jg. 1958, systemisch, psychologische Beratung, Schwerpunkt Trauertherapie und Seelsorge, Heilpraktikerausbildung, 40-jährige Erfahrung in Kliniken und eigener Praxis. Freiberufliche Dozentin an verschiedenen medizinischen Berufsakademien mit den Schwerpunkten Sterben, Tod, Trauer, sowie dem Thema Achtsamkeit. Langjährige ehrenamtliche Tätigkeit für die Verwaisten Eltern S-H, Initiatorin der Himmelsbäume Föhr.
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Buchvorschau
Wider das Vergessen - Brigitte Wulf
Vorwort
Demenz geht uns alle an
Beziehung trotz(t) Demenz
Eine Tochter schreibt und malt von der Zeit mit ihrem demenziell veränderten Vater und ihrer Mutter. Brigitte Wulf hat ihre Eltern in den Jahren der Demenz ihres Vaters begleitet. Im Rückblick schildert sie die enormen Herausforderungen, vor die vor allem die direkt pflegenden Angehörigen gestellt werden. Mehr und mehr verlieren sie den Menschen, den sie einmal gekannt und geliebt haben. Und sie wollen die Veränderungen nicht wahrhaben – was die Situation zusätzlich erschwert, aber wer sollte es ihnen verdenken?
Das Buch von Brigitte Wulf ist ein zutiefst ehrliches Werk. Die Autorin sieht mit klarem Blick die Schwere, und sie benennt auch solche Themen, die sonst oft, und meist aus Scham, verschwiegen werden. Dafür – und für das Vertrauen, das sie damit uns Lesenden entgegenbringt – möchte ich ihr herzlich danken.
Besonders berührend sind – neben den kunstvollen, die Texte ergänzenden Zeichnungen – aber auch jene anderen Momente, von denen sie eben auch zu berichten weiß: Auch mit – oder manchmal gerade wegen – der Demenz gibt es erfüllte Augenblicke.
Es ist, als hebe sich für einen Moment der Schleier, der sich über das gelebte Leben gelegt hat. Sogar manch neue Perspektive blitzt dann auf – oder ein verändertes, auch heilsames Miteinander, nicht zuletzt etwa in der Vater-Tochter-Beziehung. So kommt Brigitte Wulf an einigen Stellen ihres wichtigen Buches zu der vorsichtig gestellten Frage: „Gibt es eine positive Demenz?"
In meiner Sprache würde ich es so sagen: Auch das demenziell veränderte Leben sieht Gott ähnlich. Und auch unter den Bedingungen der Demenz bleibt Leben bunt und vielfältig und lebenswert. Gleichwohl stehen wir vor großen gesellschaftlichen Aufgaben – besonders deutlich nachzulesen in dem Kapitel über einen Krankenhausaufenthalt.
Dem Buch wünsche ich viele aufmerksame Leserinnen und Leser. Und ich bin dankbar, einer der ersten von diesen gewesen sein zu dürfen.
Tobias Götting
Ev.-Luth. Pastor Hamburg, im Ehrenamt:
Vorsitzender der Alzheimer Gesellschaft Hamburg e.V.
www.alzheimer-hamburg.de
Inhalt
In Gedenken an meine Eltern
Gewesenes Ganzesoder Lebensmelodie in G-Dur
Wer lebt in dir?
Leben mit Demenzoder Abschied vom Ich
Fremd geworden
Nicht mehr da sein
Abbau im Krankenhausoder Wie mein Vater aus dem Fenster sprang
Fremde Menschen machen Angst
Defekte Synapsen
Ich bin noch da
Gedanken einer Ehefrau
Ein Betreuer muss heroder Meine Mutter verliert den Glauben an alles, was ihr bisher Halt im Leben gab
Ansichten – Einsichten – Fehlsichten – Weitsichten
Nachtaktiv – verkehrte Welt
Sequenzen eines Vormittagsoder Haribokonfekt macht glücklich
Unverstanden
Kenne ich Sie?
Wanderer
Umsorgt
Spaziergang am Nachmittag oder Solche Tiere hatten wir auch mal
Fremde Umgebung
Gibt es eine positive Demenz?
Mein schönstes Weihnachtsgeschenkoder Gibt es eine positive Demenz?
Wahrnehmung von Veränderungen
Eine Reise in die Nacht
Überforderung und Selbstüberschätzungoder Wie kann es zu häuslicher Gewalt kommen?
Nebel des Herbstes
Mein Herz wird nicht dement
Andere
Ambulante Tagespflegeoder Mein Vater geht zur Arbeit
Königsdisziplin Singen
Die drei auf der Bank
Am Meer
Ausflug nach Föhroder Noch einmal sehen, wo meine Tochter wohnt
Sehen und wahrnehmen
Ohne Liebe
Lebensmelodie für meinen Vater
Schmerzliches Verlangen, namenlose Unruhe
Die Farbe Gelb
Mein Vater büxt ausoder Kaffeetrinken mit der Polizei
Tanz
Gedicht meiner Mutter an ihren Ehemann
Über meine Mutteroder Sie gab mehr als ihre Liebe
Mein Vater denkt an seine Ehefrau
Umgeben von dir
Meine Trauer – deine Trauer
Trauer braucht Zeit und Raum
Abschied von den Elternoder Wie meine Trauer mich neu werden ließ
Waise
Intermezzo
Morgens am Meer
Solidargemeinschaft der Trauernden
Auch Helden werden dementoder Was macht eigentlich Old Shatterhand?
Gedanken meines Vaters
Dieb des Lichts
Abschied vom Bewusstsein
Buchstabensalat im Kopf macht frei
Worte
Zirkus der verlorenen Kommunikation
Flügelschlag
Rückzug und Öffnung
Erste Schritte in neuen Schuhen
Abschiede
Hoffnungen
Aufmerksamkeit
Selbstüberschätzung
Hauch des Lebens
Fragen an die Autorin
Danksagung
In meinem Hirne rumort es und knackt,
Ich glaube, da wird ein Koffer gepackt,
Und mein Verstand reist ab – o wehe –
noch früher, als ich selber gehe.
(Heinrich Heine, „Babylonische Sorgen", 1854)
Für meine Kinder
Catharina, Martin und Matthias
In Gedenken an meine Eltern
„Ich glaube,
dass die Liebe etwas ist,
das gemeinsame Bande und eine gemeinsame Geschichte schafft,
dass nichts euch so aneinander bindet wie das,
was ihr miteinander erlitten, erlebt, geliebt und erfahren habt."
(Louis Evely)
Gewesenes Ganzes
oder
Lebensmelodie in G-Dur
Lebensmelodie, gefunden hast du sie nie
Du führst jetzt leicht und geschickt meine Hand
gibst mir Kraft aus einem unbekannten Land
Lebensmelodie, für dich finde ich sie.
Gewesenes Ganzes
Geraubtes, genommenes Gekanntes
gewachsen, geschlagen, gehorsamspflichtig, geknüppelter Gutmacher
gefroren, gehungert, gelitten, gefangen, Gefängnis, gequält, gepeinigt, gebrochen, geflüchtet
gestraft, gezeichnet, gestört, gesucht, gedauert
Geliebte Gefährtin, gefunden, gehalten, gelebt, geachtet, gefundenes Ganzes
Geburten eins, zwei, drei
gespielt, getanzt, gesungen, gefeiert, gefundenes Glück, gestandener Garant
gekränkelt, gestörte Gemütslage, Gedächtnislücken, geduldig gefügt, gemeinsam gepflegt
geschwächt, gestorben, gegangen, gesegnet, getrauert.
Gewesenes Ganzes
Lebensmelodie, dir schenke ich sie, kein verzauberter Ton ist je für dich erklungen,
Note für Note werde ich dein Abschiedslied summen,
Erinnerungen, Teil meines Lebens lässt kein Vergessen zu
in diesen Zeilen, mein Vater, zählst nur du.
Wer lebt in dir?
Wer lebt in dir, mein Vater?
Großer, starker, stattlicher Mann
Bewundernd, stolz schaute ich auf dich
Wer lebt in dir, mein Vater?
zierlich, schmächtig, zerbrechlicher Mann
traurig, mitleidig schaute ich auf dich
Tränenreicher Abschied
War mein starker Vater doch schon tot?
Eine Weile noch lebte mein kranker Vater mit uns
Danke, dass wir diesen Vater kennenlernen durften, wenn auch nur für kurze Zeit
Leben mit Demenz
oder
Abschied vom Ich
Ich habe meinen Vater verloren, als er noch am Leben war. Ein mir bis dahin bekannter, mit vertrauten Lebensgewohnheiten lebender Mann verlor nach und nach seine Identität.
Er war körperlich anwesend und mental doch woanders, wir waren für ihn sichtbar, doch manchmal weder greifbar noch begreifbar.
Seine Augen sehen zu mir hin, doch sehen sie nicht, wer ich bin. Seine Ohren hören, was ich sage, doch versteht er nicht meine Frage. Sein Mund isst Kuchen und auch Eis, doch weiß er nicht, was er verspeist. Seine traurigen Augen schauen ziellos umher, sein Blick, sein hilfloses Handeln berühren mich sehr. Wenn ich ihn sehe, nehme ich Veränderungen wahr, mein Vater ist nicht mehr der, der er einmal war.
Mein Vater war ein einfacher, bodenständiger Mann, streng, autoritär, ruppig, pessimistisch misstrauisch, groß und stark. Drohte er zornig zu werden, nahmen wir