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Barmherzigkeit heute: Mit offenen Augen leben
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Barmherzigkeit heute: Mit offenen Augen leben
eBook386 Seiten4 Stunden

Barmherzigkeit heute: Mit offenen Augen leben

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Über dieses E-Book

Barmherzigkeit ist eines der zentralen Themen von Papst Franziskus. Aber warum? Junge Autoren nähern sich diesem Begriff und stellen sich der zentralen Frage: Wozu heute noch barmherzig sein? Sie zeigen, dass Barmherzigkeit kein ausschließlich christlicher Gedanke ist, sondern allgemein wichtig ist für die moderne Welt.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum28. Juni 2019
ISBN9783451812736
Barmherzigkeit heute: Mit offenen Augen leben

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    Buchvorschau

    Barmherzigkeit heute - Verlag Herder

    Christiana N. C. M. Idika, Paul Metzlaff,

    Martin W. Ramb und Holger Zaborowski (Hg.)

    Barmherzigkeit heute

    Mit offenen Augen leben

    Abb019

    Über die Herausgeber

    Christiana C. M. M. N. Idika DMMM, Dr. phil., geb. 1975, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Weltkirche und Mission, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt am Main.

    Paul Metzlaff, geb. 1987, studierte Philosophie und Theologie in München und ist derzeit Referent im Bereich Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz.

    Martin W. Ramb, geb. 1969, studierte Philosophie, Andragogik und Theologie in Vallendar und Bonn. Als Schulamtsdirektor i. K. leitet er die Abteilung für Religionspädagogik, Medien und Kultur im Bischöflichen Ordinariat Limburg und ist Chefredakteur des Bildungsmagazins »Eulenfisch«.

    Holger Zaborowski, D. Phil, Dr. phil., geb. 1974, ­Professor für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik an der Philo­sophisch-­Theologischen Hochschule Vallendar und seit 2017 Rektor der Hochschule.

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    Die Bibeltexte sind entnommen aus:

    Die Bibel. Die Heilige Schrift

    des Alten und Neuen Bundes.

    Vollständige deutsche Ausgabe

    © Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

    Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand

    Umschlagmotiv: Georg Tannen, Share

    E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

    ISBN E-Book 978-3-451-81273-6

    ISBN Print 978-3-451-37896-6

    Inhalt

    Geleitwort von Philippe Pozzo di Borgo zur »Jungen Akademie Barmherzigkeit«

    Vorwort der Herausgeber

    I. Barmherzigkeit – theologische, philosophische und praktische Zugänge

    Bischof Karl-Heinz Wiesemann

    Die Herausforderung der Barmherzigkeit für die Kirche – heute

    Ansgar Wucherpfennig SJ

    Kein Zorn Gottes ohne sein Erbarmen – biblische Perspektiven zur Barmherzigkeit

    Paul Metzlaff

    »Barmherzigkeit« bei den Päpsten Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus als Interpreten des II. Vaticanums

    Ursula Nothelle-Wildfeuer

    Anerkennung statt Barmherzigkeit?

    Ulrike Kostka

    Barmherzigkeit als Testfall für eine glaubwürdige diakonische Kirche

    Holger Zaborowski

    Vom anderen berührt. Die Revolution der Barmherzigkeit

    Martin W. Ramb

    Barmherzigkeit verwandelt. Ein biblischer Roadmovie

    Patrick Roth

    Abrahams Erbarmen

    Anke Felicitas Böckenförde MMS

    Der Barmherzigkeit Gottes auf der Spur!

    Franziskus von Heereman

    Das Libanonprojekt der Gemeinschaft junger Malteser

    Andreas Thelen-Eiselen

    »Seid barmherzig« – Die Werke der Barmherzigkeit im Daumenkino. Fotoprojekt einer 9. Klasse im Religionsunterricht

    Benedikt Gleich

    Barmherzige Unternehmen – eine (gefährliche) Gratwanderung zwischen Greenwashing und Idealismus

    Ottmar Fuchs

    Jubiläum der Barmherzigkeit Gottes

    Susanne Krahe

    Gefühlsduselei oder solidarische Handlung. Über Nutzen und Schaden des Mitleids

    Christiana N. C. M. Idika

    The Normativity of Mercy

    Michelle Becka

    Barmherzigkeit – Von der Wesensbeschreibung Gottes zur sozialethischen Relevanz?

    Franziska Dübgen

    Ist Gnade gerecht? Zum Begnadigungsrecht in Demokratien

    II. Dokumentation der »Jungen Akademie Barmherzigkeit« (2016)

    Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gehören ganz eng zusammen.

    Bischof Stephan Ackermann

    Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft

    Die ausgezeichneten Projekte

    1. Soziales Projekt

    2. Kunst und Musik

    3. Social Media und Film

    4. Literatur

    5. Wissenschaft und Essay

    Kurzbiographien der Preisträgerinnen und Preisträger

    Autorenverzeichnis

    Geleitwort von Philippe Pozzo di Borgo zur »Jungen Akademie Barmherzigkeit«

    Ich bedauere es ebenso wie Sie, dass ich ausgerechnet beim Thema Barmherzigkeit während der Veranstaltung nicht bei Ihnen sein kann.

    Sie bitten mich, ein Grußwort an die Teilnehmer der Jungen Akademie zu schreiben.

    Ich spüre eine gewisse Zurückhaltung angesichts einer solchen Verantwortung. Sollte ich es trotzdem wagen, dann würde ich als wesentliche Qualität der Barmherzigkeit vor allem ihre Demut anführen. Haben wir keine Angst, barmherzig zu sein, haben wir keine Angst, demütig zu sein. Noch in der größten Behinderung, im größten Unglück, in der Angst, die das Unterschiedensein und Zerbrechliche begleitet, ist die Barmherzigkeit vor allem eine Sache der Demut.

    Ich möchte zum Verständnis eine Passage aus dem Tagebuch von Henri-Frédéric Amiel vom 25. November 1863 zitieren: »Die Barmherzigkeit erträgt alles, sie macht noch mehr, sie streckt die Hand aus, sie bietet der Abscheu und dem Widerwillen die Stirn, sie bringt die stillen Abneigungen des Körpers und die versteckten Aversionen des Geschmacks zum Schweigen; statt sich zu verteidigen, versucht sie, Gutes zu tun; statt eine Barriere zu errichten, reißt sie solche nieder, die sich von selbst ergeben; statt darauf zu schauen, was trennt, sucht sie nach dem, was näherbringt; in den Massenseelen erblickt sie die Seele.«

    Die Barmherzigkeit lehrt uns Entwaffnung und Abrüstung; sie ruft jeden von uns dazu auf, sich nicht auf sich selbst zu konzen­trieren, den anderen in seiner unbestimmten Andersheit wahrzunehmen und auf den Ruf der Würde des Anderen, der so weit weg und doch ein Bruder ist, mit Wohlwollen zu antworten.

    Machen Sie während Ihrer Akademie ausgiebig Gebrauch von der Stille, und konzentrieren Sie sich nicht allein auf sich. Als aktive Subjekte werden Sie aufmerkasam für den anderen und erkennen Sie seinen Weg der Würde.

    Ich wünsche Ihnen einen gelungenen Austausch und eine wertvolle Tagung.

    Mit freundschaftlichen Grüßen

    Philippe Pozzo di Borgo

    Vorwort der Herausgeber

    Papst Franziskus hat am 13. März 2015 im Petersdom ein außerordentliches Heiliges Jahr angekündigt. Vom 8. Dezember 2015 bis zum 20. November 2016 feierte die Kirche dieses Jahr unter dem Thema »Barmherzig wie der Vater« (Lk 6,36). Auch der XXXI. Weltjugendtag in Krakau (25. bis 31. Juli 2016) stand unter dem Motto »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden« (Mt 5,7).

    Welche Bedeutung steckt hinter diesem antiquiert erscheinenden Wort »Barmherzigkeit«? Und welche Art von Beziehung könnte es von Gott zu uns und von uns zu unseren Mitmenschen aussagen? Wo scheint unser Schrei nach einem barmherzigen Gott lautlos zu verstummen? Was bedeuten die 14 Werke der leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit heute? Wie können sie in die heutige Zeit übersetzt werden? Und wie können uns neue Formen der Vermittlung dabei helfen?

    Diese Fragen standen im Vordergrund eines Wettbewerbs zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit. Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wettbewerbs – Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 25 Jahren – konnten Beiträge in fünf Kategorien einreichen: 1) Soziales Projekt, 2) Kunst und Musik, 3) Social Media und Film, 4) Dichtung (Poetry Slam) und Literatur, 5) Wissenschaft und Essays. Die Jury unter Vorsitz des damaligen Jugendbischofs der Deutschen Bischofskonferenz Dr. Karl-Heinz Wiesemann bestand sowohl aus jugendpastoralen als auch Fachbereich-spezifischen Expertinnen und Experten. Die Preisträgerinnen und Preisträger wurden während einer festlichen Gala am 17. September 2016 auf der Jungen Akademie Barmherzigkeit³ in der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar gekürt.

    Die Arbeitsstelle für Jugendseelsorge (afj) hat den Wettbewerb und die Junge Akademie »Barmherzigkeit³« gemeinsam mit der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar und dem Limburger Magazin für Religion und Bildung »Eulenfisch« veranstaltet und hat dabei mit der Arbeitsgemeinschaft Jugendpastoral der Orden, dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend, der Initiative Nightfever, dem Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken und der Schönstattbewegung zusammengearbeitet.

    Der vorliegende Band dokumentiert die ersten drei Preise in jeder Kategorie, den Vortrag, den Bischof Dr. Ackermann auf der Akademie gehalten hat, und das Gespräch, das Martin W. Ramb und Holger Zaborowski mit Malu Dreyer, der Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz auf der Akademie geführt haben. Ergänzend wurden Artikel aufgenommen, die theologische, philosophische und praktische Zugänge zur Barmherzigkeit erschließen. Einige dieser Texte sind zuerst im Heft 1 des Jahrgangs 2016 der Zeitschrift Diakonia erschienen (die Beiträge von Bischof Dr. Wiesemann, Ansgar Wucherpfennig, Paul Metzlaff, Ursula Nothelle-Wildfeuer, Ulrike Kostka, Holger Zaborowski, Martin W. Ramb, Patrick Roth, Anke Felicitas Böckenförde, Franziskus von Heereman, Andreas Thelen-Eiselen, Benedikt Gleich und Ottmar Fuchs); der Beitrag von Susanne Krahe wurde eigens für diesen Band verfasst; die Beiträge von Christiana N. C. M. Idika, Michelle Becka und Franziska Dübgen gehen auf eine Tagung zur Barmherzigkeit zurück, die Christiana N. C. M. Idika im April 2016 in Würzburg organisiert hatte; für die Unterstützung dieser Tagung sei an dieser Stelle der Diözesanstelle für Mission, Entwicklung und Frieden des Bistum Würzburg und der Kongregation der Schwestern des Erlösers, Würzburg, sehr herzlich gedankt.

    Wir danken sehr herzlich allen, die am Wettbewerb teilgenommen haben und besonders allen Preisträgerinnen und Preisträgern für ihre wertvollen Beiträge, Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann, Bischof von Speyer und damaliger Vorsitzender der Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Stephan Ackermann, Bischof von Trier, Ministerpräsidentin Malu Dreyer, Mainz, Bianka Mohr, Leiterin der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend, der Initiative Nightfever, dem Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, der Schönstattbewegung, dem Bistum Limburg, der DEY-Stiftung, der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar, allen Mitgliedern der Jury und den Workshop-Leiterinnen und -leitern, den Sekretariaten in der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge, namentlich Frau Christiane Meck, und in Vallendar Frau Henz und Frau Fein für die viele organisatorische Arbeit rund um die Akademie, Timo Michael Kessler für die videojournalistische Begleitung, Judith Stapf für die musikalische Gestaltung und allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes.

    Düsseldorf, Frankfurt am Main, Limburg und Vallendar,

    den 1. April 2019

    Die Herausgeber

    I. Barmherzigkeit – theologische, philosophische und praktische Zugänge

    Bischof Karl-Heinz Wiesemann

    Die Herausforderung der Barmherzigkeit für die Kirche – heute

    Es kann die Frage gestellt werden, ob Barmherzigkeit nicht ein überholtes Thema ist. Geht es in unserer Gesellschaft nicht vielmehr um den Kampf um Gerechtigkeit, um die Gleichstellung von Menschen und nicht um die Gewährung von vermeintlichen »Mitleidsprivilegien«? Der Ruf nach Gerechtigkeit rührt teilweise aus einer Erfahrung von Unbarmherzigkeit und Ausgrenzung. Unter anderem durch sehr hohen Leistungsdruck und Mobbing wird die Gesellschaft manchmal als kalt und erbarmungslos erfahren. Die Zusage von Erbarmen und Barmherzigkeit scheint jedoch nicht wenige Menschen zu befremden. Jeder hat sicher schon die Sätze gehört: »Ich will kein Mitleid!« oder »Gerechtigkeit und kein Mitleid!«. Barmherzigkeit wird oftmals als etwas Arrogantes, als etwas, was von oben herab kommt, als Demütigung verstanden. Barmherzigkeit an sich fordert heraus.

    In unserem christlichen Glauben hat die Barmherzigkeit einen wesentlichen Stellenwert und ist ein immer aktuelles Thema. Christus, als Gründer der Kirche, hat an uns den Anspruch gestellt, dass in der Kirche keine Leistung, kein Vermögen oder sozialer Status als vorrangig gelten darf. Jeder soll kommen können, wie er ist, denn es soll das Verhältnis zu Gott zählen und die Liebe das Maß sein, mit dem jeder Mensch gemessen wird. Barmherzigkeit als Herzenshaltung, ein hoher Anspruch, der uns als Christen, als Kirche herausfordert. Mit dem außerordentlichen Jahr der Barmherzigkeit legte uns Papst Franziskus ans Herz, dass wir uns dieser Herausforderung stellen und uns ehrlich fragen, wo wir diesem Auftrag Christi nicht gerecht werden. »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden!« Unter diesem Motto lud Papst Franziskus auch die Jugend der ganzen Welt zum XXXI. Weltjugendtag nach Krakau ein. Auch dieses Motto wollte den Impuls geben, dass wir uns diesem Aspekt unseres Glaubens neu annähern.

    Der Papst stellte uns damit in diesem Jahr vor eine nicht einfache Aufgabe: Selig die Barmherzigen! Wer sind die Barmherzigen und was bedeutet überhaupt das Wort Barmherzigkeit?

    In unserem normalen Sprachgebrauch kommt das Wort »Barmherzigkeit« kaum vor. Das hat einen einfachen Grund: Im Vordergrund steht für fast alle Menschen die Frage, wie das Leben gut gelingen kann. Freundschaften, die Gesundheit und auch ein gewisser Wohlstand, der es erlaubt, sorgenfrei zu leben, gehören mit zum Traum vom gelungenen Leben. Das ist verständlich, und es ist richtig: Gott will, dass es uns Menschen gut geht und dass wir nicht in Angst und Sorge leben müssen, sondern in Glück und Zufriedenheit. Das konkrete Handeln wird vielfach von der Vorstellung geleitet, dass ich mir selbst das gute Leben machen, mir selbst erarbeiten kann.

    Schwierig wird es dann, wenn man erkennen muss, dass die Ziele durch eigene Kraft nicht erreicht werden können: Das Studium scheitert, man wird plötzlich arbeitslos, ein schwerer Unfall oder eine Krankheit zerstören alle Pläne. Diese schmerzhaften Erfahrungen führen zu der nicht einfachen Erkenntnis, dass auch ich auf die Hilfe anderer angewiesen bin. Viele müssen in solch schweren Situationen zusätzlich die Erfahrung machen, dass sich Menschen von ihnen abwenden, weil sie nicht mehr dem von ihnen gemachten Bild entsprechen. Besonders häufig geschieht dies dann, wenn man durch eigene Schuld diese schwierige Lage mit verursacht hat.

    Der Begriff der Barmherzigkeit beschreibt dagegen eine Haltung der Aufmerksamkeit, ja sogar der Liebe einem anderen gegenüber, die auch dann nicht aufhört, wenn der andere nicht mehr der Norm entspricht, unabhängig davon, ob er selbst daran mitschuldig geworden ist oder nicht. Eine solche Haltung erleben wir im Alltag vor allem bei Eltern gegenüber ihren Kindern. Die Verbundenheit und Liebe bleibt fast immer bestehen, auch wenn die Kinder sich für Wege entscheiden, auf denen die Eltern nicht mitgehen können.

    Die Bibel spricht davon, dass wir uns auch Gott so ähnlich vorstellen können wie eine Mutter oder einen Vater. Im Buch Jesaja wendet sich Gott direkt an sein Volk: »Vergisst wohl eine Frau das Kind, das sie nährt? Hört sie auf, ihren leiblichen Sohn zu lieben? Und wenn sie es vergäße, ich vergesse dich nicht« (Jes 49,15). Im Alten Testament geht das Volk Gottes oft eigene Wege, die von Gott wegführen und die zum Scheitern verurteilt sind. Die Barmherzigkeit Gottes hört jedoch niemals auf, egal, was die Menschen tun. Barmherzigkeit meint hier nicht nur irgendeine lockere Verbindung aus der Ferne: Das hebräische Wort für Barmherzigkeit verweist auf die »Eingeweide« Gottes, ja sogar auf den »Mutterschoß«. Enger kann man nicht mit jemandem verbunden sein, als es ein Kind mit seiner Mutter ist.

    Eine absolut unbegrenzte Liebe und Barmherzigkeit ist unter Menschen gar nicht vorstellbar. Es kann immer geschehen, dass auch die tiefste und engste Beziehung unwiderruflich zerbricht. Gott ist aber stets größer als wir Menschen: Seine Barmherzigkeit ist wirklich unendlich und unzerstörbar: »Denn Gott bin ich und nicht ein Mensch, in deiner Mitte der Heilige. Ich lasse Zornesglut nicht aufkommen« (Hos 11,9).

    Wenn Jesus das Gleichnis von dem Hirten erzählt, der 99 Schafe zurücklässt, um das eine verlorene Schaf zu suchen und zurückzubringen, dann zeigt auch er uns damit, dass Gott anders »rechnet« als wir Menschen. Gott fragt nicht, ob es sich überhaupt lohnt, sich um jemanden zu kümmern. Für Gott ist jeder Mensch unendlich wertvoll.

    Das bedeutet also, dass wir an einen Gott glauben, der uns unendlich liebt und der uns in seiner Liebe und Barmherzigkeit immer ganz nahe ist – auch dann, wenn wir Probleme haben, auch dann, wenn wir Schuld auf uns geladen haben. Wir können nun von dieser Barmherzigkeit Gottes sprechen, wir können an sie glauben, aber es ist nicht so einfach, sie auch konkret in unserem Leben zu spüren. Der Ort, an dem wir die Barmherzigkeit Gottes ganz direkt erleben können und sollen, ist dabei die Kirche. Der heilige Johannes Paul II. schreibt 1980 in seiner Enzyklika Dives in misericordia: »Die Kirche muss es daher in jedem geschichtlichen Zeitalter, aber besonders in unserem als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachten, das Geheimnis des Erbarmens, das uns in Christus aufstrahlt, zu verkünden und ins Leben hineinzutragen.«¹ Im Hinblick auf das Heilige Jahr der Barmherzigkeit, in das dieser Weltjugendtag eingebettet ist, greift Franziskus diesen Gedanken auf: »Es ist die Zeit für die Kirche, den Sinn des Auftrags wieder neu zu entdecken, den der Herr ihr am Ostertag anvertraut hat: Zeichen und Werkzeug der Barmherzigkeit des Vaters zu sein.«²

    Gerade die Kirche muss sich jedoch in unserer Zeit mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass in ihr zu wenig Barmherzigkeit spürbar sei, vor allem denen gegenüber, die an den hohen moralischen Ansprüchen und Vorgaben gescheitert sind. Es wird auch von vielen die Frage gestellt, ob diese Vorgaben und Gebote überhaupt notwendig seien oder nicht vielmehr den Menschen einengen und unfrei machen. Gar wird bezweifelt, dass diese Gebote überhaupt lebbar sind. Auch Jesus hat sich deutlich gegen eine Form der Auslegung von Geboten gewandt, die sowohl Gott als auch den Menschen aus dem Blick verliert und das Gebot selbst absolut setzt. So hat er beispielsweise – ganz im Gegensatz zu den Schriftgelehrten seiner Zeit – keine Schwierigkeiten damit, am Sabbat im Namen Gottes Kranke zu heilen: »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbats willen« (Mk 2,27). Dies zeigt die nicht einfache Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Vielfach werden sie als Gegensatz betrachtet, jedoch wird dies der Botschaft Jesu nicht gerecht. Gesetz und Barmherzigkeit sind aufeinander bezogene Wegweiser zum Heil.

    Der Mensch, der mit einem ehrlichen Blick auf sich selbst und sein Leben schaut, wird dabei auch seine Schwäche und seine Neigung zur Sünde wahrnehmen. In allen Bereichen unseres menschlichen Zusammenlebens kommt es immer wieder zu Streit, Eifersucht, Hartherzigkeit und Verletzungen. In all diesen Verwundungen der Welt will Gott durch seine Gebote Heilung bringen. Aber auch ein Heilungsprozess kann anstrengend und schmerzhaft sein, denken wir nur daran, wie mühsam es ist, nach einem monatelangen Krankenhausaufenthalt wieder auf die Beine zu kommen. Der heilige Papst Johannes Paul II. richtet sein Augenmerk auf die heilende Kraft der Gebote, wenn er sagt: »Die zehn Gebote sind keineswegs willkürlich auferlegte Pflichten […]. Sie bewahren den Menschen vor der zerstörenden Macht des Egoismus, Hasses und der Verlogenheit. Sie zeigen ihm alle falschen Götter, die ihn zum Sklaven machen: Gott ausschließende Eigenliebe, Machtgier und Vergnügungssucht, die die Rechtsordnung umstürzen und unsere menschliche Würde und die unseres Nächsten erniedrigen.«³ Für uns heute ist das vielleicht ein eher schwer verständlicher Gedanke. Ähnlich wie eine Mutter ihrem Kind verbietet, auf die heiße Herdplatte zu fassen, weil es sich sonst wehtut und verletzt, so sind uns die Gebote auch dazu gegeben, dass wir in unserem Leben uns und andere nicht verletzten. Ihr Sinn liegt nicht darin, einzuengen, sondern sie zielen darauf, in die Freiheit von zerstörerischen Abhängigkeiten zu führen. Das Ziel ist eine schrittweise Annäherung an Gott, an das göttliche Leben, wie die in Auschwitz gestorbene heilige Edith Stein formuliert: »Den göttlichen Geist, das göttliche Leben, die göttliche Liebe – und das alles heißt nichts anderes als: Gott selbst – lernt kennen, wer den Willen Gottes tut. Denn indem er mit innerster Hingabe tut, was Gott von ihm verlangt, wird das göttliche Leben sein inneres Leben[…].«⁴ In der Ethik Jesu wird der Kernpunkt deutlich. Er schafft das Gesetz nicht ab, gibt ihm aber einen neuen Geist. Die Gnade der unbedingten Liebe Gottes durchdringt seine Auslegung. Barmherzigkeit steht immer über der Buchstabentreue, jedoch nivelliert sie nicht das Gesetz. Dies können wir gut am Beispiel der Ehebrecherin sehen. Jesus wirft keinen Stein, er verurteilt sie nicht, sondern er richtet sie auf und begegnet ihrer Person mit Liebe und Barmherzigkeit. Ihm ist die Sünde jedoch nicht gleichgültig, und er benennt ihr Verhalten auch deutlich: »Geh und sündige von jetzt an nicht mehr« (Joh 8,11). So stellt auch Papst Franziskus in seiner Bulle zum Jahr der Barmherzigkeit heraus, dass Gott die Gerechtigkeit nicht ablehnt, sondern sie in einen größeren Zusammenhang stellt und über sie hinausgeht, »so dass man die Liebe erfährt, die die Grundlage der wahren Gerechtigkeit ist«⁵.

    Wir haben herausgearbeitet, dass das Gesetz und die Barmherzigkeit nicht voneinander zu trennen sind und beides dem Menschen gegeben wurde, um Christus ähnlicher zu werden, um das Heil zu erfahren, um ein Leben in Fülle führen zu können. Wenn wir auf unsere Lebenswirklichkeit sehen, erleben wir, dass die Gebote eine hohe Anforderung an uns stellen. In manchen Situationen scheinen sie unsere Kraft zu übersteigen, und wir scheitern an ihnen. Ist die Kirche nicht in diesem Sinne unbarmherzig, dass die Gebote zwar den Menschen zu einem besseren Leben verhelfen sollen, aber im Prinzip so hoch angesetzt sind, dass die Erfüllung kaum machbar ist? Dieser Vorwurf wäre wahr und berechtigt, wenn wir die Gebote allein aus unserer eigenen Kraft heraus leben müssten.

    Das II. Vatikanische Konzil sagt in der Konstitution über die Kirche: »Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« (LG 1). In dieser Aussage über die Kirche wird der kirchliche Grundauftrag deutlich: Sie hat die Aufgabe, die Verbindung zwischen Gott und Mensch und auch die Verbindung der Menschen untereinander zu fördern. Die Sakramente sind von Jesus Christus eingesetzt. Sie sind wirksame sichtbare Zeichen der unsichtbaren Gnade. Das Konzil versteht die Kirche in gewisser Weise als universales Sakrament für das Heil aller Menschen, als ein dienendes »Zeichen und Werkzeug«, damit alle Menschen in Berührung mit Christus und seiner Liebe kommen können. Das Konzil stellt so heraus, dass die Kirche kein Selbstzweck ist oder aus sich heraus wirkt. Ihre Aufgabe ist es, durchlässig zu sein auf Christus, der durch die Kirche das Heil der Menschen bewirken will. So kann Franziskus auch sagen, dass die erste Wahrheit der Kirche die Liebe Christi ist, denn »die Kirche macht sich zur Dienerin und Mittlerin dieser Liebe, die bis zur Vergebung und zur Selbsthingabe führt.«⁶ Die sieben Sakramente sind in der Kirche der Ort, an dem die heilende, verzeihende, stärkende und zur Liebe befähigende Gegenwart Gottes erfahrbar wird, denn in ihnen wirkt die Gnade Gottes selbst.

    Die Sakramente sind gerade nicht für die Perfekten und Vollkommenen gedacht, sondern für den Menschen, so wie er ist: oft begrenzt und schwach und dennoch auf der Suche nach Vollkommenheit und Glück. Gott will durch Jesus Christus den Menschen zu diesem Ziel führen. Die Kirchenväter haben diesen Gedanken auf eine für uns ungewohnt klingende Formel gebracht: Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde. Das Ziel des Menschen ist Gott. Seine Herrlichkeit und Macht, aber vor allem seine Liebe ist die Bestimmung des Menschen. Allerdings sind wir dort noch nicht angekommen. Deshalb wird unser Leben als Christen hier auf Erden auch mit einer Pilgerreise verglichen. Wie bei jeder Reise können wir schon auf dem Weg vieles mitnehmen und erfahren, was unser Leben bereichert, auch wenn wir das Ziel – das Leben bei Gott – noch vor uns haben. Die Sakramente sind Kraftquellen für die Pilgerreise unseres Lebens.

    Die Taufe ist das grundlegende Sakrament und die Voraussetzung für den Empfang aller anderen Sakramente. Mit ihr beginnt unser Pilgerweg zu Gott. In ihr werden wir von Gott als seine Kinder angenommen und in die Gemeinschaft mit ihm und der Kirche berufen. »Durch die Taufe wird jedes Kind in einen Freundeskreis aufgenommen, der es nie, weder im Leben noch im Tod verlassen wird. [...] Dieser Freundeskreis, diese Familie Gottes, in die das Kind nun eingegliedert wird, begleitet es immerfort, auch in Tagen des Leids, in den dunklen Nächten des Lebens; er wird ihm Trost, Zuspruch und Licht geben.«⁷ Doch nimmt die Taufe den Menschen nicht nur in den Bund mit Gott und in die Gemeinschaft der Gläubigen auf, sie schenkt uns auch die ungeschuldete Hinwegnahme von Schuld und Sünde. Durch unser Ja zu dem Bund, den Christus mit dem Menschen in der Taufe knüpft, werden wir reingewaschen und zu einem Leben in Christus und mit ihm befähigt.

    Aber unsere Pilgerreise ist nicht immer leicht und beinhaltet auch Hindernisse und Gefahren. Auch wenn in der Taufe alle Sünde von uns genommen wird, so erfahren wir doch immer wieder, dass wir uns von Gott abwenden und sündigen. Unser eigenes Verhältnis zu Gott, aber auch die Weggemeinschaft der Kirche wird dadurch geschwächt, wenn Einzelne stolpern und fallen. Deshalb wird uns das Sakrament der Buße und der Versöhnung als »zweite Taufe«, wie die Kirchenväter sagen, geschenkt. »In diesem Sakrament kann jeder Mensch auf einzigartige Weise das Erbarmen erfahren, das heißt die Liebe, die mächtiger ist als die Sünde.«⁸ Durch dieses Sakrament kann die Kirche als Verwalterin der Barmherzigkeit Gottes die Einheit der Gläubigen untereinander und mit Gott immer wieder neu herstellen.

    Dabei wird deutlich, dass es bei Barmherzigkeit weder um Gleichgültigkeit der Sünde gegenüber noch um Arroganz geht: Durch das persönliche Bekenntnis der Schuld wird der Einzelne in seiner Freiheit und in seinem Wunsch nach Versöhnung ernst genommen, und durch den Priester begegnet Gott dem Menschen auf Augenhöhe. Der Priester kann das Bekenntnis der Schuld nur entgegennehmen, weil er im Namen Gottes Vergebung und Versöhnung gewährt. Gott handelt darin wie ein Vater, der sein Kind liebt und zugleich in seiner Schwäche und Verwundbarkeit ernst nimmt. Es geht ihm nicht um Zorn und Bestrafung. Dennoch kann ein solches Bekenntnis sehr schwierig und schmerzhaft sein.

    Mahatma Gandhi macht mit seinem eigenen Vater diese Erfahrung, als er ihm gestehen muss, dass er etwas gestohlen hat. Da ihm aus Angst vor dem Zorn des Vaters das Bekenntnis nicht über die Lippen kommt, überreicht er dem Vater seine »Beichte« in schriftlicher Form: »Während er es las, rannen ihm die Tränen wie Perlentropfen über die Wangen […]. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen in Betrachtung und zerriß dann das Papier. […] Ein solch erhabenes Verzeihen lag an sich nicht in seiner Natur. Ich hatte gedacht,

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