Messer weg!: Rückenschmerzen richtig diagnostizieren und behandeln - auch ohne OP. Ein Ratgeber für Leidgeprüfte, die ihre Schmerzen endlich loswerden wollen. Mit Tipps zur Ärzteauswahl und Vorsorge-Übungen für den Alltag.
Von Alexander Kraft
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Über dieses E-Book
Dr. Alexander Kraft ist Facharzt für Orthopädie in Wien. Er entwickelte in seiner Wiener Ordination eine eigene ganzheitliche Methode der ambulanten Behandlung von Schmerzpatienten („Vertebralia-Way“), bei der er einen besonderen Schwerpunkt auf die exakte Diagnose der Schmerzursachen und Patientenaufklärung legt.
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Buchvorschau
Messer weg! - Alexander Kraft
Autor
Einleitung
Gardasee 1977. Ich gleite bei Windstärke 5 auf meinem Surfboard, voll mit Glückshormonen über die Wellen des Sees, als mir eine Sturmbö das Segel entreißt. Ich tue, was ich schon hunderte Male getan habe – ich ziehe das Rigg auf. In diesem Moment durchzuckt ein unbeschreiblicher Schmerz meinen Rücken und eine lange Leidensgeschichte beginnt.
Ich schaffe es gerade noch auf mein Board zu kommen und treibe zwei Stunden hilflos bei meterhohen Wellen, mitten im nördlichen Gardasee. Als endlich ein Motorboot vorbeikommt, schaffe ich es kaum vom Board ins Boot. Die Diagnose ist von mir und meinen mich begleitenden Freund, seines Zeichens Facharzt der Neurochirurgie rasch gestellt: Bandscheibenvorfall L4/5 mit leichter Fußheberschwäche. Mein lieber Freund bietet mir sofort eine Operation an. Da jedoch einen Monat zuvor einer meiner Kollegen an der Bandscheibe operiert wurde und durch diese Operation keine wesentliche Besserung erfahren hat, mache ich trotz eines leichten motorischen Ausfalls vom Angebot meines Freundes keinen Gebrauch. Drei Monate später war ich wieder schmerzfrei und kann wieder surfen gehen. Mein operierter Kollege jedoch ging nach wie vor gebeugt mit starken Rückenschmerzen.
Ein weiterer Bandscheibenvorfall, neun Jahre später, setzte mich abermals wochenlang außer Gefecht. Auch diesmal verzichtete ich auf eine Operation, da ich mich nunmehr intensiver mit dieser Thematik auseinandergesetzt hatte. Bei Professor Hans Tilscher, dem Doyen der konservativen Orthopädie, hatte ich im Rahmen der Ausbildung zur manuellen Medizin viel über die Systematik der Rückenerkrankungen erfahren.
Beim Literaturstudium stieß ich außerdem auf die Möglichkeit der sogenannten Epiduralblockade, welche mir bei meinem dritten Bandscheibenvorfall, sieben Jahre später, Schmerzfreiheit innerhalb weniger Tage ermöglichte.
Der zur damaligen Zeit ziemlich hilflose Umgang mit dieser, teilweise unglaublich schmerzhaften, Erkrankung war für mich äußerst unbefriedigend. Zum einen wegen der im Vergleich zu anderen orthopädisch chirurgischen Eingriffen unsicheren Ergebnisse offener Bandscheibenoperationen, zum anderen wegen der sehr eingeschränkten Kenntnisse über die Möglichkeiten konservativer Behandlungen von Bandscheibenvorfällen. Das veranlasste mich, dem Problem Rückenschmerz genauer auf den Grund zu gehen – und nach Alternativen zur Operation und Erweiterungen des konservativen Spektrums zu suchen. 1990 etablierte ich daher die orthopädische Tagesklinik Vertebralia in Wien. In Zusammenarbeit mit Experten aus Fachgebieten, die ebenfalls mit Rückenschmerzen zu tun hatten, entwickelten wir ein integriertes interdisziplinäres Konzept zur konservativen und minimal-invasiven Behandlung von Wirbelsäulen- und Bandscheibenleiden, den Vertebralia-Way.
Übrigens: Seit dem letzten Bandscheibenvorfall bin ich völlig beschwerdefrei. Das ist nicht zuletzt auf eine intensive Trainingstherapie zurückzuführen, mit der ich unmittelbar nach Abklingen der Akutschmerzen begonnen habe.
1. Was läuft falsch?
DIE BAGATELLISIERUNG DES „UNSPEZIFISCHEN RÜCKENSCHMERZES"
Rückenschmerzen zählen zu den immer wiederkehrenden Ärgernissen der Menschen. Das Leiden ist so verbreitet wie Schnupfen, tut so weh wie Hämorrhoiden und führt mitunter zu so starken Behinderungen wie bei einem Schlaganfall. Rückenschmerzen sind wie eine stille Pandemie, vier von fünf Menschen sind weltweit zumindest einmal im Leben davon betroffen.
Die Krux dabei: Trotz unzähliger in den letzten Jahren publizierter wissenschaftlicher Arbeiten gibt uns das Problem Rückenschmerzen nach wie vor viele Rätsel auf. Warum haben zum Beispiel manche Menschen mit extremen Abnützungerscheinungen der Wirbelsäule keine Schmerzen? Warum können sich aber andere mit einem völlig normalen Röntgenbefund kaum rühren? Warum verschwinden Schmerzen auch nach Operationen nicht? Wie sinnvoll sind Operationen überhaupt? Diesen Fragen werden wir in diesem Buch nachgehen.
Faktum ist jedenfalls: So wie ich erleiden 80 Prozent aller Menschen unserer postindustriellen Gesellschaft zumindest einmal in ihrem Leben eine größere Rückenschmerzattacke. Fast jeder Zweite laboriert einmal an Nackenschmerzen. Jeder Fünfte leidet an Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule und drei von vier Menschen erleben zumindest einmal in ihrem Leben eine heftige Kreuzschmerzattacke. Rückenleiden sind neben Krankheiten des Atmungssystemes der häufigste Grund für Arbeitsausfälle. Rein statistisch ist in Deutschland und Österreich jeder Vierte bis Fünfte Krankenstandstag einem schmerzenden Rücken geschuldet.¹ Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist es nur etwa jeder Zwölfte. Durchschnittlich 15,6 Tage fehlte ein Rückenschmerzpatient 2017 in Österreich am Arbeitsplatz.²
Besonders betroffen sind vor allem 45- bis 59-Jährige.
Rückenschmerzen haben eine Vielzahl von Ursachen. Häufig beginnen sie in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts. Zu diesem Zeitpunkt sind es meist nur schmerzhafte Muskelverspannungen, die sich langsam aus Haltungsfehlern, Fehlbelastungen und Bewegungsmangel entwickelt haben. Mit zunehmendem Lebensalter kommen dann Abnützungen der Wirbelsäule dazu: Bandscheibenschäden sowie Degenerationen und Arthrosen der kleinen Wirbelgelenke. Übergewicht und untrainierte Muskelgruppen können dann noch das ihre dazu beitragen, dass Ihr Rücken nicht zur Ruhe kommt.
Aber nicht nur körperliche Belastungen spielen bei der Entstehung von Rückenschmerzen eine Rolle. Auch die Psyche lässt den Rücken schmerzen, sowohl ursächlich als auch begleitend.
Obwohl Rückenschmerzen eine so ungeheure finanzielle Auswirkung auf unsere Gesundheitssysteme haben, wird ihnen noch immer nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die ihnen aufgrund der Kosten, die sie verursachen, eigentlich zustehen würde. Zwar gibt es immer wieder Initiativen, aber an der „Wurzel" wurde das Problem noch immer nicht gelöst.
Das kommt wahrscheinlich unter anderem daher, dass rund 80 Prozent der Patienten, die wegen sogenannter unspezifischer Rückenschmerzen in den Krankenstand gehen, innerhalb weniger Wochen wieder zurück am Arbeitsplatz sind. Daher wird – durchaus auch von Ärzten – fälschlicherweise angenommen, die Patienten hätten sich nach diesem Zeitraum vollständig erholt. Das stimmt freilich nur teilweise. Zwar verschwinden bei zwei von drei Patienten die Schmerzen tatsächlich vollständig – bei einem von drei Patienten werden sie aber chronisch.
Das Dumme daran ist, dass wir nicht sicher vorhersehen können, bei wem aus einer kurzen Lumbago, so nennt man eine Kreuzschmerzattacke, eine chronische Erkrankung wird.
In der Medizin bedient man sich daher einiger Hilfsmittel, um abschätzen zu können, ob irgendwelche Anzeichen auf eine Wiederkehr der Schmerzen hindeuten könnten. Dafür gibt es diagnostische Algorithmen, durch die man versucht, rechtzeitig eine drohende Chronifizierung zu erkennen und gegebenenfalls abzuwenden. Sie werden als „Yellow Flags oder „Red Flags
bezeichnet. Die „gelben und die „roten Flaggen
sind jedoch nicht einheitlich und dienen eher dazu, gefährliche Erkrankungen frühzeitig als Ursache der Rückenschmerzen auszuschließen. Im Klartext heißt das: Als behandelnder Arzt kann man sich auf diese diagnostischen Hilfsmittel nicht wirklich verlassen.
Besonders problematisch ist, dass jede zusätzliche Rückenschmerz-Episode die Wahrscheinlichkeit der Chronifizierung erhöht, und zwar in einem bislang viel zu unterschätztem, ja geradezu ignoriertem Ausmaß. Gefährdet sind dabei besonders Patienten, die entweder ständig unter Rückenschmerzen leiden oder unter immer wieder auftretenden moderaten bis schweren Schmerzattacken, obwohl die meisten medizinische Hilfe auf irgendeine Art und Weise erhalten haben.
INFO
DIAGNOSE „UNSPEZIFISCHER RÜCKENSCHMERZ"
Ich habe in meiner fast 40-jährigen Praxis als Orthopäde Legionen von Patienten gesehen, die mit der Diagnose „unspezifischer Rückenschmerz" schon monatelang an Schmerzen litten, um dann erstmals in meiner Ordination zu erscheinen.
Mit manueller Untersuchung waren die Schmerzursachen zumeist rasch zu erkennen. Oftmals handelte es sich nur um eine banale aber hartnäckige Wirbelgelenkblockade, die nach zwei bis drei Behandlungen beschwerdefrei war. Die im Anschluss verordnete Gymnastik konnten Patienten dann schmerzfrei und mit wesentlich effektiverem Ergebnis durchführen. Hätten sie diese Behandlung gleich in den ersten zwei Wochen erhalten, hätten sie sich nicht nur einiges an Unannehmlichkeiten erspart. Auch das Risiko einer Chronifizierung der Schmerzen wäre wesentlich geringer gewesen.
Was ich mit diesem Beispiel sagen möchte: Ja, es ist durchaus möglich, die Schmerzursache beim sogenannten banalen unspezifischen Kreuzschmerz zu finden und diese entsprechend und zum Wohle des Patienten zu behandeln.
Es gibt auch noch einen anderen Grund für ein erhöhtes Chronifizierungs-Risiko. Viele Patienten mit Rückenschmerzen suchen erst spät oder überhaupt nie einen Facharzt auf. Rückenschmerzen werden oft einfach unterschätzt. Zu Unrecht. Denn sie sind oft ein Signal, dass „etwas nicht stimmt". Viele Menschen behandeln sich gegebenenfalls irgendwie selbst. Die Therapie besteht meist in der Einnahme von entzündungshemmenden Medikamenten und physikalischen Maßnahmen.
In Gebieten mit einer geringeren Arztdichte werden auch nach wie vor jahrhundertealte Hausmittel und teilweise sehr exzentrische Eigenbehandlungen praktiziert. Insofern die Beschwerden nach einigen Wochen komplett verschwunden sind, ist das auch völlig in Ordnung. Gehen die Schmerzen allerdings nicht weg, ist immer eine ärztliche Konsultation empfehlenswert. Doch selbst wenn ein Arzt aufgesucht wird, bekommen Patienten mit Rückenschmerzen leider häufig nicht die Hilfe, die sie brauchen. Auch heute noch wird eine klare Diagnose mangels entsprechender Untersuchung beim ersten ärztlichen Kontakt nur selten oder gar nicht gestellt. Die meist als „Lumbago, „Zervikalsyndrom
oder „Ischialgie bezeichnete Erkrankung ist aber eigentlich noch keine Diagnose, sondern bestenfalls eine topografische Schmerzzuordnung. Sie bedeutet im Prinzip nichts anderes als: „Ja, da gibt es einen Schmerz im Rücken
. Dieser Schmerzzuordnung kommt aber – wie gesagt – noch keine diagnostische Bedeutung zu. Sogar in der medizinischen Literatur wird von „unspezifischen Kreuzschmerzen gesprochen. Das heißt, dass die Ursache des Schmerzes angeblich nicht identifiziert werden kann. Es gibt für das Symptom „Kreuzschmerz
aber durchaus Ursachen. Und die können auch richtig diagnostiziert werden.
Um hier ein wenig ins Detail zu gehen, muss man zuerst einmal eine Frage beantworten:
Was versteht man unter „unspezifischen Kreuz- oder Rückenschmerzen"? Als unspezifisch werden Rückenschmerzen dann eingestuft, wenn Infektionen, Osteoporose (also Knochenschwund), Wirbelbrüche, Tumore oder andere, seltene Schmerzursachen ausgeschlossen werden können. Die Rate der unspezifischen Kreuzschmerzen beträgt, abhängig von der Literatur, zwischen 60 und 80 Prozent.
INFO
BEWEGUNGSMANGEL = MUSKULÄRE DEKONDITIONIERUNG
Bei dauerhaftem Bewegungsmangel kommt es zu einem Teufelskreis. Körperliche Inaktivität führt zu einer Schwächung der Muskulatur. Diese kann Gelenke und Wirbelsäule nicht mehr ausreichend stützen und stabilisieren. Bewegungsmangel, Fehlhaltungen und Fehlbelastung(en) führen unweigerlich zu einer muskulären Dekonditionierung. Dysbalancen von Muskelgruppen, Verspannungen und Verkürzungen entstehen.
Die Folge: Schmerzen, die gerade bei Bewegung auftreten – weshalb diese nun erst recht vermieden wird. Wer sich weniger bewegt, verbraucht aber auch weniger Kalorien. Die Mahlzeiten werden aber häufig nicht reduziert – man nimmt zu. Durch das höhere Gewicht entsteht jedoch eine weitere Belastung der Gelenke und der Wirbelsäule, die von der ohnehin schon schwachen Muskulatur nicht mehr effektiv geschützt und gestützt werden kann. „Schlechte" Ernährung und überlastete Gelenke führen aber nicht nur zu Arthrosen (Abnützungen) im Bereich der Kniegelenke und der Hüfte, sondern auch im Bereich der kleinen Wirbelgelenke. Der Teufelskreis schließt sich. Denn die damit einhergehenden Schmerzen können einem die Bewegung erst recht vermiesen – was zu einer weiteren Abschwächung der Muskulatur führt.
Der Ausweg wäre eigentlich recht einfach: Schmerzen rechtzeitig behandeln und ein regelmäßiges wirbelsäulengerechtes Training. Am besten wäre überhaupt, den Rücken zu trainieren, noch bevor die ersten Probleme auftreten. Aber: Es ist nie zu spät! In diesem Buch finden Sie