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Das Jugendalter: Theorien, Perspektiven, Deutungsmuster
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eBook374 Seiten2 Stunden

Das Jugendalter: Theorien, Perspektiven, Deutungsmuster

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Über dieses E-Book

The author focuses on the question of what ?adolescence= actually is. What are the challenges and problems that young people face in this age group? What are the special aspects and basic qualities of this situation as part of life and the sense of life it brings with it? The book provides an overview of the most important theories of adolescence. Starting with the ?classical= positions in adolescence theory, the volume goes on to open up interdisciplinary approaches to the topic in which different interpretations arising from psychoanalysis, developmental psychology, neurobiology, sociology and finally educational studies are presented and discussed in concise form. As the opening volume in the ?Adolescence= series, the book supplies a theoretical and scholarly framework for the series with an instructive and wide-ranging overview of the relevant approaches to the theory of adolescence.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. März 2019
ISBN9783170364516
Das Jugendalter: Theorien, Perspektiven, Deutungsmuster

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    Buchvorschau

    Das Jugendalter - Rolf Göppel

    Literatur

    I          »Jugend« – was ist das eigentlich? Erste Annäherungen

    Dieses Buch stellt den Eröffnungsband zu einer Buchreihe mit dem Titel »Das Jugendalter« dar, bei der die Autorinnen und Autoren in den geplanten weiteren Bänden jeweils ganz spezielle Aspekte des Jugendalters in den Blick nehmen werden: Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zum Körper, die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu den Eltern, die Jugendlichen und ihre sexuellen Erfahrungen, die Jugendlichen und ihre Geschwisterbeziehungen, die Jugendlichen und ihre Freundschaften und Cliquen, die Jugendlichen und ihr Umgang mit den modernen Medien, die Jugendlichen und ihr Verhältnis zur Schule und Bildung, die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ausbildung und Beruf, die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Gesellschaft, Demokratie und Politik, die Jugendlichen und ihr Umgang mit Gesundheit und Risiko, die Jugendlichen und ihre unterschiedlichen Herkünfte und kulturellen Verwurzelungen, die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen, die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Glaube, Religion und Sinnsuche, die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu den Angeboten und Einrichtungen der außerschulischen Jugendbildung, die Jugendlichen und ihre kreativen Ausdrucksformen und kulturellen Hervorbringungen, die Jugendlichen und ihre Suche nach Identität.

    Vom Konzept der Buchreihe her wird damit gewissermaßen unterstellt, dass es sich bei »den Jugendlichen« um eine abgrenzbare Teilgruppe der Gesellschaft handelt, die zu all diesen Erfahrungen, Aufgaben, Institutionen und Lebensbezirken ein besonderes Verhältnis hat, das sich von dem, welches Kinder oder Erwachsene haben, unterscheidet. Die These lautet also, dass es sich bei »der Jugend« um eine besondere Form des In-der-Welt-Seins handelt, die durch ein besonderes Lebensgefühl und durch besondere Herausforderungen und Probleme gekennzeichnet ist.

    Doch worin besteht diese Besonderheit? Was macht den »Grundcharakter«, die »Essenz« des Jugendalters aus? Einerseits weiß jeder, was das ist, »die Jugend« bzw. »das Jugendalter«. Jeder Leser und jede Leserin dieses Buches hat Erinnerungen, Vorstellungen, Beobachtungen zum Phänomen Jugend, weil er oder sie selbst dieses Lebensalter, dieses Lebensgefühl, diese Lebenslage erfahren und durchlebt hat und weil er oder sie Jugendliche kennt, die mitten drin stecken. Von daher stellen sich in der Regel durchaus spontane Assoziationen zum Begriff »Jugend« ein: Ärger mit Pickeln, Stimmbruch, Stimmungsschwankungen, Schwärmereien für Pop-Stars, Zoff mit den Eltern, Spaß in der Clique, erste sexuelle Erfahrungen, etc.

    Andererseits tun wir uns aber doch sehr schwer, genau anzugeben, was denn nun im Kern die Besonderheit dieses vielschichtigen, schillernden Lebensabschnitts ausmacht. Die Diskussion über das Jugendalter und über Jugendprobleme gehört zum Alltagsdiskurs. Je nachdem in welchem Kontext die entsprechende Diskussion erfolgt, hat sie zumeist einen recht unterschiedlichen Grundtenor: Eher den von Nostalgie und wehmütiger oder auch schelmischer Erinnerung an bewegte Zeiten, wenn ehemalige Schulkameraden beim Klassentreffen ins Erzählen kommen, eher den Beigeschmack von Befremden und Kopfschütteln, wenn in den Medien über irgendwelche neuen merkwürdigen Trends aus den Jugendkulturen berichtet wird, eher den Modus der Klage, wenn sich Eltern pubertierender Kinder über die Ähnlichkeit ihrer häuslichen Konflikte und über ihre nachwuchsbezogenen Sorgen und Nöte austauschen, eher den Beiklang von Empörung und Gereiztheit, wenn eine Lehrerin ihren Kollegen in der Pause erzählt, wie schlimm sich heute wieder die 8b benommen hat, eher den Unterton von Erstaunen und heimlicher Bewunderung, wenn deutlich wird, wie viel leichter und souveräner der Nachwuchs mit den neuesten Errungenschaften der modernen Medientechnik umzugehen weiß, eher den Ausdruck von Warnung und Sorge, wenn in neuen wissenschaftlichen Studien die Stressbelastungen und die zunehmenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen der heutigen Jugendlichen dargestellt werden, eher den von Irritation und Enttäuschung, wenn sich in Bildungsstudien erweist, dass der Bildungsstand der deutschen Jugendlichen im internationalen Vergleich hinter den Erwartungen zurückbleibt, eher den Ton von Wertebeschwörung und Verantwortungsappell, wenn Politiker sich des Themas »Jugend« annehmen und eher den Anstrich von Partystimmung, Lebensfreude und cooler Überlegenheit, wenn die Werbebranche das Thema »Jugendlichkeit« in Szene setzt.

    1          Jugend als Problem: die Perspektive der populären Medien und Ratgeber

    Dass das Thema »Jugend« bzw. »Pubertät« ein beliebtes Thema des Alltagsdiskurses ist, kann man auch daran erkennen, dass die auflagenstärksten Magazine hierzulande in den vergangenen Jahren Titelgeschichten zum Thema »Jugend« bzw. »Pubertät« publiziert haben. Darin wird vor allem das Problematische, Konfliktträchtige, aber auch das Aufregende und Faszinierende dieses Lebensabschnitts in den Titelformulierungen betont: »Süßer Horror Pubertät: Die Entmachtung der Eltern« (DER SPIEGEL, 22/2001, »Abenteuer Pubertät. Wenn Teenager plötzlich anders ticken« (Focus 30/2003), »Wahnsinn Pubertät. Neue Hirnforschung – Warum Teenies komisch ticken« (Stern 48/2003), »Pubertät – Der große Umbruch« (Gehirn & Geist 5/2006) »Pubertät – Auf der Suche nach dem neuen Ich« (GEOWissen 41/2008), »Pubertät – Chaos! Krisen! Chancen!« (GEOkompakt 45/2015).

    Wirft man einen Blick in die umfangreiche Ratgeberliteratur, dann kreisen auch hier die Titel primär um das Rätselhafte, Problematische, Krisenhafte: »Irrgarten Pubertät« (Friedrich 1999), »Die härtesten Jahre« (Barlow/Skidmore 1998), »Von den Schwierigkeiten, erwachsen zu werden« (Dolto/Dolto-Tolitch/Perchemnier 1991), »Pubertät, Adoleszenz oder die Schwierigkeit, einen Kaktus zu umarmen« (Emig/Steinhard/Wurthmann 2000), »Pubertät: Echt ätzend« (Guggenbühl 2000), »Ich krieg die Krise. Pubertät trifft Wechseljahre« (Lutz 2000), »Pickel, Sex und immer Krach« (Kaiser 2000) »Warum sie so seltsam sind« (Strauch 2003), »Puberterror« (Baier 2003), »Nervenprobe Pubertät« (Brosch/Luchs 2003), »Das können doch nicht meine sein« (Raffauf 2009), »Pubertät – Wenn Erziehen nicht mehr geht« (Juul 2010), »Wilde Jahre« (Streit 2014).

    Was ist das »Seltsame«, »Eigentümliche«, »Spezifische« der Jugend? Und was steckt dahinter? Welche inneren Prozesse, Veränderungen, Spannungen drücken sich darin aus? Inwiefern sind diese Veränderungen naturgegeben, universell, unabänderlich bzw. inwiefern sind sie gesellschaftlich bedingt, kulturell geprägt, zeittypisch? Aus der Perspektive von Jugendlichen mögen manche der oben genannten Titel wie eine Provokation erscheinen: Ausdruck der Ahnungs- und Ratlosigkeit der Erwachsenen bei gleichzeitigem Anspruch auf die Definitionsmacht dessen, was »normales«, »vernünftiges« und »angemessenes« Verhalten ist. Viele Jugendliche fragen sich vielleicht umgekehrt, warum die Erwachsenen so »seltsam« sind, sprich, so beschränkt in ihrem Verständnis, so borniert in ihren Anschauungen, so beharrlich in ihren Forderungen und so bestimmend und einschränkend in ihrer Fürsorge. Entsprechend gibt es auch einen Pubertätsratgeber, der mit dem Titel »Ihr versteht mich einfach nicht« die Jugendlichenperspektive ins Zentrum rückt (Esser 2005), sowie den pfiffigen gegenläufigen Titel »Pubertät ist, wenn die Eltern schwierig werden« (Arlt 2000).

    Weiterhin gibt es diverse Bücher, in denen versucht wird, besondere Aspekte der jeweils neuen Jugendgeneration in einem mehr oder weniger originellen Generationenlabel als Titel einzufangen. In diesem Sinne sind etwa die Bücher »Generation@« (Opaschowski 1999), »Generation kick.de« (Farian 2002), »Generation Counter Strike« (Schunk 2004), »Generation Handy« (Bleuel 2007), »Generation Doof« (Bonner/Weiss 2008), »Generation Geil« (Weiß 2010), »Generation Porno« (Gernert 2010, Stähler 2014), »Generation Maybe« (Jeges 2014), »Generation Smartphone« (Zimmermann 2016), »Generation Selfie« (Cohrs/Oer 2016), »Generation YouTube« (Althaus 2017), »Generation Beziehungsunfähig« (Nast 2016), »Generation Y« (Schwenkenbecher/Leitlein 2017) und »Generation Z« (Scholz 2014) zu nennen.

    2          Jugend als »großes Fadensuchen« – die (Innen-)Perspektive der Coming-of-Age-Literatur (Anne Frank, Crazy, Tschick)

    Aus der Perspektive der Jugendlichen mag vielleicht sogar die ganze umfangreiche Jugendforschung, die bisweilen ihre Ergebnisse zu solchen Generationenlabels verdichtet, als eine Zumutung erscheinen, als der Versuch, sie trotz ihrer offensichtlichen Unterschiedlichkeit zu einer Kategorie »Jugend« oder zu einer besonderen »Jugendgeneration« zusammenzufassen, sie vielleicht auch noch in unterschiedliche »Jugendtypen« zu sortieren. Es mag sich bei ihnen auch Widerstand regen gegen das Ansinnen, ihre jeweiligen Denkweisen, Ansichten und Einstellungen zu erforschen, ihre Verhaltensmuster und Gefühlskonflikte zu deuten und somit letztlich ihre Begeisterung und ihre Schwärmereien, ihre Verwirrung und ihre Verweigerung, ihre Empörung und ihre Auflehnung als eben bloß »jugendtypische Phänomene« zu »erklären« und diesen Dingen, die sie so sehr beschäftigen, somit ihre tiefere Bedeutung abzusprechen. Aber natürlich ist auch den Jugendlichen selbst bisweilen ihr eigenes Innenleben, das was ihnen passiert, was sie fühlen und empfinden, ein ziemliches Rätsel.

    Besonders eindringlich kommt dies etwa in dem Tagebuch von Anne Frank zum Ausdruck. Dieses Tagebuch, das das jüdische Mädchen Anne Frank vom Juni 1942 bis zum August 1944 führte und in dem die Verfasserin neben den alltäglichen Begebenheiten des beengten und stets bedrohten Zusammenlebens in dem Versteck im Hinterhaus in der Prinsengracht 263 in Amsterdam vor allem ihre inneren Empfindungen und Entwicklungsprozesse in sehr subtiler und reflektierter Weise darstellt, gehört zu den klassischen Dokumenten der autobiografischen Beschreibung jugendlichen Seelenlebens. Es wurde in über 70 Sprachen übersetzt und ist mit einer Auflage von rund 30 Millionen Exemplaren eines der meistgedruckten Bücher der Welt. In vielen Schulklassen wurde und wird dieses Buch als Pflichtlektüre ausgewählt. Einerseits deshalb, weil hier das Thema »Holocaust« an einem exemplarischen Einzelschicksal behandelt werden kann, denn das Versteck im Hinterhaus flog im August 1944 auf und die Familie Frank wurde deportiert und Anne Frank fiel im Frühjahr 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer. Andererseits aber auch deshalb, weil die tiefgründigen Reflexionen über innere Empfindungen, über Sehnsüchte, Hoffnungen, Zweifel, Irritationen, Ambitionen, Konflikte, Enttäuschungen, welche die Tagebuchschreiberin damals zu Papier brachte, die jugendlichen Leser auch heute noch sehr zur Identifikation und Auseinandersetzung einladen.

    In ihrer allerletzten Eintragung vom 1. August 1944 notiert die 15-jährige Anne in ihr Tagebuch – welches sie stets in Form von Briefen an eine imaginäre Freundin namens Kitty verfasst hat –, dass sie

    »eigentlich nicht eine, sondern zwei Seelen habe. Die eine beherbergt meine ausgelassene Fröhlichkeit, Spöttereien über alles, meine Lebenslust und vor allem meine Art, alles von der leichten Seite aufzufassen: Darunter verstehe ich: keinen Anstoß nehmen an Flirten, einem Kuß, einer Umarmung, einem unanständigen Witz. Diese Seite sitzt meistens auf der Lauer und verdrängt die andere, die viel schöner, reiner und tiefer ist. Nicht wahr, die gute Seite von Anne kennt niemand, und darum können mich auch so wenige Menschen leiden. …

    Meine leichte, oberflächliche Art wird der tiefen immer über sein und sie besiegen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie oft ich schon versucht habe, diese Anne, die doch nur die Hälfte ist von dem, was Anne heißt, wegzuschieben, zu lähmen, zu verbergen; es geht nicht und ich weiß auch nicht, warum es nicht geht.

    Ich habe Angst, daß alle, die mich kennen, so wie ich immer bin, entdecken würden, daß ich eine andere Seite habe, eine schönere und bessere. Ich habe Angst, daß sie über mich spotten, mich lächerlich und sentimental finden, mich nicht ernst nehmen. Ich bin gewöhnt, nicht ernst genommen zu werden; aber nur die ›leichte‹ Anne ist es gewöhnt und kann es vertragen, die ›schwere‹ ist zu schwach dazu. …

    So wie ich es schon sagte, empfinde ich alles anders als ich es ausspreche, und darum habe ich den Ruf von einem Mädel, das Jungens nachläuft, flirtet, naseweis ist und Romane liest. Die vergnügte Anne lacht darüber, gibt freche Antworten, zieht gleichgültig die Schultern hoch, tut, als ob es sie nicht angeht, aber, o weh, genau umgekehrt reagiert die stille Anne. …

    Es schluchzt in mir: ›Siehst Du, das ist daraus geworden: Schlechte Meinung, spöttische und verstörte Gesichter, Menschen, die dich unsympathisch finden, und das alles, weil Du den Rat der eigenen guten Hälfte nicht hörst.‹ – Ach ich möchte schon hören, aber es geht nicht; wenn ich still und ernst bin, denkt jeder, es sei eine neue Komödie, und dann muß ich mich mit einem Witz herausretten, ganz zu schweigen von meiner engeren Familie, die denkt, daß ich krank sei, mir Kopfschmerz- und Nerventabletten zu schlucken gibt, Puls und Stirn fühlt, ob ich Fieber habe, und sich nach meiner Verdauung erkundigt und dann meine schlechte Laune kritisiert. Das halte ich nicht aus. Wenn so auf mich aufgepasst wird, werde ich erst recht schnippisch, dann traurig, und schließlich drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen, das Gute nach innen und suche immer wieder nach einem Mittel, so zu werden, wie ich so gerne sein möchte, und wie ich sein könnte, wenn … ja wenn keine anderen Menschen auf der Welt lebten« (Frank 1955, S. 230f.).

    An manchen Formulierungen ist erkennbar, dass diese Tagebuchaufzeichnungen nicht aus der unmittelbaren Gegenwart stammen. Dennoch können die Themen, die zur Sprache kommen: Widersprüche zwischen unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen, Diskrepanz zwischen Ideal-Ich und Real-Ich, Bedürfnis nach Klarheit, Sehnsucht nach Anerkennung, Autonomiewünsche und Konflikte mit den überfürsorglichen Eltern . … wohl auch heute noch als ziemlich typische Phänomene des Jugendalters gelten.

    Etwas flapsiger und weniger tiefgründig-idealistisch kommt die jugendtypische Reflexion über das Leben und seine Herausforderungen, über die Spannung zwischen dem Drang zum Tiefsinn einerseits und dem Hang zum Unsinn andererseits, in aktuellen Coming-of-Age Romanen zum Ausdruck. Wenn es ihnen gelingt, das spezielle Lebensgefühl der Jugend plastisch einzufangen, erlangen sie bisweilen den Status von wahren Kultbüchern. Das Buch »Crazy« von Benjamin Lebert, das zudem deutlich autobiografische Züge trägt und vom Autor bereits im zarten Alter von 16 Jahren verfasst wurde, gehört sicherlich zu jenen Büchern. Innerhalb kurzer Zeit hat es mehr als 25 Auflagen erreicht und wurde verfilmt.

    Zwischen den 15–16-jährigen Jungen im Internat, um die die ganze Erzählung kreist, entwickelt sich, nachdem sie beim verbotenen nächtlichen Ausflug zum Mädchentrakt gerade mit einigen Mühen die Feuerleiter überwunden haben, folgendes Gespräch über das Leben an sich und als solches:

    »›Und wie ist das Leben?‹ fragt Kugli

    ›Anspruchsvoll‹, antwortet Felix.

    Ein großes Grinsen macht die Runde.

    ›Sind wir auch anspruchsvoll?‹ will Janosch wissen.

    ›Das weiß ich nicht‹, erwidert Felix. ›Ich glaube, wir befinden uns gerade in einer Phase, wo wir den Faden finden müssen. Und wenn wir den Faden gefunden haben, sind wir auch anspruchsvoll.‹

    ›Das verstehe ich nicht‹, bemerkt Florian entrüstet. ›Was sind wir denn, bevor wir anspruchsvoll sind?‹

    ›Vorher sind wir, so glaube ich, Fadensuchende. Die ganze Jugend ist ein einziges großes Fadensuchen‹« (Lebert 2000, S. 65).

    Später, bei einem noch waghalsigeren nächtlichen Ausflug, der sie in die Großstadt München führen soll, kommt das Gespräch der Jungen noch einmal auf die Rede vom »Fadensuchen« zurück.

    »›Benjamin Lebert – du bist ein Held‹, sagt Janosch mit tiefer Stimme. …

    ›Und warum?‹ will ich wissen.

    ›Weil durch dich das Leben spricht‹, entgegnet Janosch.

    ›Durch mich?‹ frage ich.

    ›Durch dich‹, bestätigt er.

    ›Was durch mich spricht, ist beschissen‹, antworte ich.

    ›Nein, – aufregend. Man findet immer etwas Neues.‹

    ›Aber will man das denn?‹ frage ich.

    ›Klar will man das‹, schreit Janosch. ›Sonst wäre es doch langweilig. Man muß immer auf der Suche nach dem – was sagte Felix doch gleich? – Faden sein. Genau, Faden. Man muß immer auf der Suche nach dem Faden bleiben. Die Jugend ist ein einziges großes Fadensuchen. Benni, komm! Laß uns den Faden finden! Am besten in dem Zug nach München‹« (ebd. S. 130f.).

    Das sicherlich wichtigste und meistgelesene deutschsprachige Coming-of-Age-Buch aus jüngster Zeit ist Wolfgang Herrndorfs »Tschick« von 2010, das mehr als 2 Millionen Mal verkauft wurde und zahlreiche Preise abräumte. Inzwischen gibt es eine Theaterfassung, die landauf, landab gespielt wird (in der Spielzeit 2012/13 war »Tschick« das meistgespielte Stück an allen deutschen Bühnen!), und es gibt eine Verfilmung unter der Regie von Fatih Akin. Es dürfte derzeit sicherlich auch zur meistgelesenen Schullektüre an deutschen Schulen gehören. Es geht darin um die Geschichte zweier Außenseiter, die zu Ausreißern werden, dem 14-jährigen Maik Klingenberg – aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird – und dem gleichaltrigen Aussiedlerjungen Andrej Tschichatschoff, genannt »Tschick«. Maik leidet daran, dass seine Familie gerade zerfällt – seine Mutter ist wieder einmal auf Entziehungskur und sein Vater ist mit der Sekretärin im Urlaub unterwegs –, noch mehr aber leidet er daran, dass er bei seinen Mitschülern als Langweiler oder gar als »Psycho« wahrgenommen wird. Dies führt u. a. dazu, dass er als einer der ganz wenigen seiner Klasse nicht zur Geburtstagsfete seiner angehimmelten Klassenkameradin Tatjana, des weiblichen Stars in der Klasse, eingeladen wird. Entsprechend angekratzt ist sein Selbstbild:

    »Logisch, die größten Langweiler und Assis waren nicht eingeladen, Russen, Nazis und Idioten. Und ich musste nicht lange überlegen, was ich in Tatjanas Augen wahrscheinlich war. Weil, ich war ja weder Russe noch Nazi« (Herrndorf 2010, S. 60f.).

    So ergibt es sich eher spontan und zufällig, dass sich die beiden Jungs in einem geklauten Lada auf die Fahrt in die Walachei machen. Dabei haben sie weder eine genauere Vorstellung davon, wo die Walachei eigentlich liegt, noch wie sie dorthin kommen sollen. »Walachei« steht mehr symbolisch für Aufbruch, Aktion, Abenteuer. Es handelt sich im Weiteren dann um ein »Road-Movie«, bzw. eine »Heldenreise«, wenn man so will auch um einen Bildungsroman, bei dem die beiden Protagonisten zahlreiche eigentümliche Begegnungen mit schrägen Menschen haben und etliche knifflige Aufgaben lösen müssen, denen sie sich mit einer jugendtypischen Mischung aus Unbekümmertheit und Ahnungslosigkeit stellen. Am Ende, als sie dann irgendwo im Brandenburgischen gestrandet sind, sind sie ein ganzes Stück reifer geworden und haben Etliches über das Leben gelernt – und sie haben einen freundlicheren Blick auf die Menschen und sich selbst gewonnen. Es kommt zu folgendem Dialog zwischen den beiden Jungen, die nach ursprünglicher wechselseitiger Ablehnung inzwischen zu Freunden geworden sind:

    »›Wie kommst du denn auf Langweiler‹, fragte Tschick, und ich fragte ihn, ob er eigentlich wüsste, warum ich überhaupt mit ihm in die Walachei gefahren wäre. Nämlich weil ich der größte Langweiler war, so langweilig, dass ich nicht mal auf eine Party eingeladen wurde, zu der alle eingeladen wurden, und weil ich wenigstens einmal im Leben nicht langweilig sein wollte, und Tschick erklärte, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hätte und dass er sich, seit er mich kennen würde, noch nicht eine Sekunde gelangweilt hätte. Dass es im Gegenteil so ungefähr die aufregendste und tollste Woche seines Lebens gewesen wäre, und dann unterhielten wir uns über die tollste und aufregendste Woche unseres Lebens, und es war wirklich kaum auszuhalten, dass es jetzt vorbei sein sollte« (ebd., S. 213).

    Die Selbstzweifel, der Wunsch nach Anerkennung, die Bedeutung von Freundschaft, die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Sehnsucht nach aufregenden Begegnungen und spannenden Erlebnissen … das sind jenseits der vordergründigen Komik der bizarren Szenen und schrägen Dialoge, in die die beiden Protagonisten verwickelt werden, die zentralen Themen des Buches. Aber auch das Sich-auf-den-Weg-Machen und die Frage, welche Haltungen und welche Zukunftspläne am ehesten geeignet sind, um die eigenen Glücksansprüche zu realisieren. An einer sehr nachdenklichen Stelle geraten dem Ich-Erzähler Maik die »Generationendifferenz«, der Gegensatz zwischen Alt und Jung, und die damit zusammenhängenden Themen der Begrenztheit der Lebensspanne und der unvermeidlichen Vergänglichkeit aller einstmals hochfliegenden jugendlichen Träume und Ambitionen schmerzlich ins Bewusstsein:

    »Ich musste die ganze Zeit auf die Rentner gucken, die aus diesen Bussen quollen. Denn es waren ausschließlich Rentner. Sie trugen alle ausschließlich braune oder beige Kleidung und ein lächerliches Hütchen, und wenn sie an uns vorbeikamen, wo es eine kleine Steigung raufging, schnauften sie, als hätten sie einen Marathon hinter sich.

    Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich selbst einmal so ein beiger Rentner sein würde. Dabei waren alle alten Männer, die ich kannte, beige Rentner. Und auch die Rentnerinnen waren so. Alle waren beige. Es fiel mir ungeheuer schwer, mir auszumalen, dass diese alten Frauen auch einmal jung gewesen sein mussten. Dass sie einmal so alt gewesen waren wie Tatjana und sich abends zurechtgemacht hatten und in Tanzlokale gegangen waren, wo man sie vermutlich als junge Feger oder so was bezeichnet hatte, vor fünfzig oder hundert Jahren. Nicht alle natürlich. Ein paar werden auch damals schon öde und hässlich gewesen sein. Aber auch die Öden und Hässlichen haben mit ihrem Leben wahrscheinlich mal was vorgehabt, sie hatten sicher auch Pläne für die Zukunft. Und auch die ganz Normalen hatten Pläne für die Zukunft, und was garantiert nicht in diesen Plänen stand, war, sich in beige Rentner zu verwandeln. Je mehr ich über diese Alten nachdachte, die da aus den Bussen rauskamen, desto mehr deprimierte es mich« (ebd., S. 117f.).

    Die Jugend als Kampf zwischen zwei Seelen in der Brust, die Jugend als aufregende, spannende Reise ins Ungewisse und die Jugend als »ein einziges großes Fadensuchen« – damit sind sehr ansprechende und anschauliche Metaphern für das Jugendalter formuliert. Gleichzeitig kommen in narrativen Texten wie den oben zitierten das eigentümliche Lebensgefühl der Jugend sowie die typischen Denk-, Kommunikations- und Handlungsweisen dieses Alters in besonders anschaulicher und authentischer Weise zum Ausdruck. Lässt sich all dies überhaupt in irgendeiner Weise »wissenschaftlich erklären« – also auf allgemeine Gesetze, Prinzipien, auf eine universelle Entwicklungslogik oder auf die je spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen »zurückführen«? Oder sind die Konstellationen und die Geschichten, die hier geschildert werden, so bunt und schillernd und vielfältig wie das Leben selbst? Was wollen, was sollen, was können »Theorien des Jugendalters« also leisten?

    Auch die Geschichte des theoretischen Nachdenkens über die Besonderheiten des Jugendalters und deren innere Ursachen könnte man als eine verschlungene und stationenreiche Reise oder als ein »großes Fadensuchen« beschreiben bzw. als ein vielfältig verschlungenes Knäuel von bunten Fäden, von unterschiedlichen Beschreibungen, Deutungen und Erklärungen. Ich will im Folgenden eine ganze Reihe von Fäden aus diesem Knäuel herausziehen, d. h. eine Reihe von markanten Versuchen vorstellen, die Gesamtcharakteristik des Jugendalters auf den Punkt zu bringen, die zentralen inneren Prozesse zu beschreiben und die maßgeblichen Antriebskräfte dafür zu benennen. Dies werden zum einen bestimmte markante Ansätze sein, die direkt mit konkreten Namen bedeutsamer Pädagogen oder Psychologen verknüpft sind, zum anderen aber auch bestimmte Theorietraditionen, die mehr durch einen speziellen Fokus bei der Beschreibung und Deutung der jugendtypischen Phänomene charakterisiert sind.

    Dabei ist freilich weder eine systematische Geschichte der Jugend noch eine systematische Geschichte der Jugendpsychologie, der Jugendpädagogik oder der Jugendforschung beabsichtigt, sondern es geht um die Vergegenwärtigung und halbwegs systematische Ordnung der vielfältigen Deutungsmuster, unter denen Jugend betrachtet werden kann und die in der Diskussion über die Jugend immer wieder auftauchen. Die Darstellung bemüht sich in der wiederkehrenden Formel »Jugend als …«, darum, jeweils die charakteristischen Besonderheiten der einzelnen Sichtweisen auf den Punkt zu bringen. Dass man in einer solchen knappen, überblicksartigen Zusammenfassung der Differenziertheit dessen, was von den einzelnen Positionen alles auch noch gesehen und erwogen wurde, nicht gerecht werden kann, dass es dabei unvermeidlich zu Akzentuierungen und Verkürzungen kommt, liegt auf der Hand. Ebenso natürlich auch, dass es oftmals keine ganz trennscharfen Grenzlinien zwischen den unterschiedlichen Ansätzen, sondern vielfache Überschneidungen und Überlappungen gibt.

    3          Jugend als mehr oder weniger klar definierter Altersabschnitt – Definitionen in Gesetzestexten und entwicklungspsychologischen Lehrbüchern

    Wenn man die Frage stellt, was das eigentlich ist, »ein Jugendlicher« oder »eine Jugendliche«, dann bekommt man die schlichtesten Antworten und die eindeutigsten Definitionen wohl aus der Sphäre der Jurisprudenz. Der §1 des Jugendschutzgesetzes ist mit »Begriffsbestimmungen« überschrieben und beginnt mit den folgenden Sätzen:

    »(1) Im Sinne dieses Gesetzes

    1. sind Kinder Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind,

    2. sind Jugendliche Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind.«

    Im §

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