Angst und Hoffnung: Theologisch-praktische Quartalschrift
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Über dieses E-Book
den menschlichen Grundphänomenen Angst und
Hoffnung. Viele Menschen fürchten um ihre Sicherheit,
um ihren Arbeitsplatz, um ihre Beziehungen, um ihre
Zukunft. Warum ist Angst zu einem derartigen "Zeichen
der Zeit" geworden? Und welche Rolle spielen die
Religionen, die Kirchen, die Theologien dabei?
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Rezensionen für Angst und Hoffnung
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Buchvorschau
Angst und Hoffnung - Die Professoren u. Professorinnen der Fakultät für Theologie der Kath. Privat-Universität Linz
Inhaltsverzeichnis
ThPQ 165 (2017), Heft 4
Schwerpunktthema:
Angst und Hoffnung
Ansgar Kreutzer
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Manfred Prisching
Soziologie der kollektiven Ängste
1 Der Verlust des Wertebaldachins
2 Der Verlust der Gemeinschaft
3 Der Verlust der Überschaubarkeit
4 Der Verlust der Wohlstandskontinuität
5 Der Verlust der Sicherheit
6 Normalitätsdefizit
7 Resonanzdefizit
Gert Pickel
Angstmacherei und Populismus – eine ungewollte Wiederkehr der Religionen?
1 Macht Religion Angst?
2 Die Mobilisierung von Angst – und die politischen Ziele
3 Die Voraussetzung des Populismus – Bedrohungsängste in der Bevölkerung
4 Die Folgen für die Demokratie und die Sicht auf Religion
5 Fazit
Clemens Sedmak
„Die rechte Sorge" – Resilienz und der Umgang mit Angst
1 Die Enge der Angst
2 Die Weite der Resilienz
3 Die Tiefe lebensbejahender Praxis
4 Die Unendlichkeit des Mysteriums
Franz Gruber
Theologie der Hoffnung in Zeiten der Angst
1 Hinführung zum Thema
2 Theologie der Hoffnung – Ein Entwurf in praktischer Hinsicht
3 Leiden, Tod und Schuld: Die Widerfahrnisse von Hoffnung. Über einige Einwürfe der Philosophie
4 Rechenschaft über das Zeugnis der Hoffnung – eine theologische Erwiderung
5 Hoffnung in Zeiten der Ängste?
Klaus Mertes SJ
Mut? Angst? Hoffnung!
1 Mut?
2 Angst
3 Angst wovor?
4 Hoffnung!
Wunibald Müller
Angst und Hoffnung in psychotherapeutischer sowie spiritueller Perspektive
1 Hinführung
2 Angst und Hoffnung
3 Die Angst kann uns mit unserem Hoffnungspotenzial in Berührung bringen
4 Von der heilenden Kraft der Hoffnung
5 Angst, Hoffnung, Glaube
6 Es ist die Erfahrung, Teil eines Größeren zu sein
7 Ein Glaube, der uns Mut macht, vertrauensvoll auf dem Wasser zu laufen
Abhandlungen
Gerold Lehner
Vom Nutzen und Nachteil der Reformation für die Ökumene
1 Vorbemerkung: Reformation, Reform und fluide Anpassung
2 Reform und Konflikt
3 Versuch über eine Theologie der Reform
4 Die Herausforderung
Ewald Volgger OT
50 Jahre „Musicam Sacram"
1 Was brachte nun „Musicam Sacram" Neues?
2 Inwieweit passt da das neue Gotteslob hinein?
3 Welche Ansprüche harren noch der Umsetzung bzw. wo ist mehr möglich?
Tomaš Halík
„Selig die Fernstehenden"
Literatur
Elisabeth Birnbaum
Das aktuelle theologische Buch
Rezensionen
Eingesandte Schriften
Katholische Privat-Universität Linz – Studienjahr 2016/17
Register (Printausgabe)
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes
Redaktion
Kontakt
Anschriften der Mitarbeiter
Impressum
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
„No tinc por – „ich habe keine Angst
. Ein großes Spruchband mit diesen Worten in katalanischer Sprache führte die Demonstration an, die nach dem schrecklichen Terroranschlag vom 17. August 2017 in Barcelona stattfand. Die Demonstranten griffen scharfsinnig auf, was die Terroristen beabsichtigten: ein Klima der Angst zu schaffen, in dem sich niemand auf der Welt mehr sicher fühlen soll; und sie setzten ein mutiges Zeichen der Hoffnung dagegen. Auch über den Terrorismus hinaus geht die Angst um. Der Soziologe Heinz Bude spricht gar von einer „Gesellschaft der Angst"¹: Viele fühlten sich vom Verlust ihres Arbeitsplatzes, von sozialem Abstieg oder Ausschluss bedroht; private Beziehungen, Partnerschaften, familiale Bande würden zunehmend als brüchig empfunden. Gerade angesichts dominierender Unsicherheit warnt Bude jedoch davor, sich der Angst völlig auszuliefern. Das Schlimmste sei die „Angst vor der Angst, denn sie führe zu lähmender Resignation. Eine Angst dagegen, die nicht völlig auf sich selbst festgelegt ist, eröffne Handlungsspielräume „als Aussicht auf neue Möglichkeiten
: „Wer Angst hat, hat auch Hoffnung.² Hierin sieht der Theologe Jürgen Werbick in seinem neuesten Buch „Die Angst durchkreuzen. Ermutigung aus dem Glauben
³ einen Einsatzpunkt für Religion und Theologie. Werbick weiß um die ambivalente Beziehung von Religion, zumal der christlichen, zur Angst. „Die Religionen, speziell der christliche Glaube, stehen nicht ohne Grund in dem Verdacht, elementare Ängste der Menschen geschürt und ausgebeutet zu haben.⁴ Aber der Theologe sieht in religiösen Erfahrungen zugleich „die wohl bedachte Weigerung, sich von der Angst sprach- und hilflos machen, sich von ihr Mut und Hoffnung rauben zu lassen
⁵. Die Beiträge dieser aktuellen Ausgabe der Theologisch-praktischen Quartalschrift loten im Schnittfeld von Human-, Sozial- und theologischen Wissenschaften die Gegenwartsbedeutung von Ängsten aus und erkunden zugleich Hoffnungspotenziale, die zu ihrer Bewältigung beitragen.
Zu Beginn analysiert der Grazer Soziologe Manfred Prisching die Entstehung eines Lebensgefühls der Angst. Er zeigt, wie in einer „Auflösungsgesellschaft" Vorstellungen von Normalität und Ordnung verschwimmen. Sie lassen Gefühle der Unsicherheit zurück, die neoautoritäre Bewegungen geschickt für sich zu nutzen wissen. Solche Instrumentalisierungen von kollektiven Ängsten nimmt Gert Pickel, Religionssoziologe aus Leipzig, in den Blick. Er zeigt, wie Angstgefühle zur Entstehung von Feindbildern gegenüber Religionen beitragen („Islamophobie") und wie mit Ängsten – eine populistische und demokratiegefährdende – Politik betrieben wird. Auf die konstruktive Bewältigung von Angst hebt der Beitrag von Clemens Sedmak, Philosoph und Sozialethiker aus Salzburg, ab. Er stellt in diesem Zusammenhang das Konzept der Resilienz vor, der Fähigkeit, gut mit Widrigkeiten umzugehen. Dabei wirft der Autor einen Blick auf die Hoffnungsinstanz Religion als „Horizont für ein Leben ohne Angst". Das Projekt einer Theologie der Hoffnung in Zeiten der Ängste entfaltet der Linzer Dogmatiker Franz Gruber. Hoffnung aus dem Glauben blendet das Katastrophische in Geschichte und Gegenwart nicht aus, sondern stellt sich ihm. Erfahrbar wird Hoffnung bei und an Menschen, „die Hoffnung leben und geben aus der Kraft des Widerstehens entmenschlichter und entfremdeter Lebenssphären". Der anschließende Beitrag von Klaus Mertes SJ ist persönlich gehalten. Der Rektor des Jesuitenkollegs St. Blasien, der die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche maßgeblich ins Rollen gebracht hat, reflektiert über kontraproduktive Ängste in Institutionen wie den Kirchen. Zugleich plädiert er für eine Haltung der Hoffnung gerade in der Bedrängnis, denn sie hält „die Augen offen für die helfenden und rettenden Hände, die sich entgegenstrecken". Aus der reichen Erfahrung als langjähriger Leiter des Recollectio-Hauses Münsterschwarzach heraus formuliert Wunibald Müller seine therapeutischen und spirituellen Überlegungen, die den Kreis unseres Themenschwerpunktes schließen. Mit persönlichen Worten beschreibt Müller sein Gottesbild und seine Spiritualität, die helfen, Angst zu begegnen und Hoffnung zu entwickeln.
Drei thematisch freie Beiträge bereichern unser Heft: Der Superintendent Oberösterreichs, Gerold Lehner, denkt angesichts des Reformationsjubiläums über eine Theologie der Reform aus ökumenischer Perspektive nach. Ewald Volgger OT erinnert mit dem vor 50 Jahren veröffentlichten Dokument Musicam Sacram an die Bedeutung der Kirchenmusik; und Tomáš Halík resümiert seine breit rezipierte Theologie der kirchlich und religiös „Randständigen" und entwickelt sie weiter.
Liebe Leserinnen und Leser!
Die Themenstellung der vorliegenden Theologisch-praktischen Quartalschrift zu Angst und Hoffnung verdankt sich auch einem Zitat: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst" – so lauten die berühmten Eingangsworte der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils. Mit dem Aufrufen dieser vier Grundempfindungen, welche alle Menschen teilen, wollte das Konzil die Solidarität der Kirche mit der Welt von heute zum Ausdruck bringen und eröffnete sein Programm einer Theologie der Zeichen der Zeit. Das Profil unserer Zeitschrift lässt sich durchaus als eine publikatorische Umsetzung solch theologischer Zeitgenossenschaft verstehen. Seit 2012 durfte ich als Chefredakteur der Theologisch-praktischen Quartalschrift an diesem Projekt mitwirken. Nun scheide ich aus der Funktion aus. Daher ist es mir ein großes Anliegen, an dieser Stelle mit einem herzlichen Dank zu schließen: Ich danke den Redaktionskolleginnen und -kollegen für die immer inspirierenden und kreativen Sitzungen, den Herausgeberinnen und Herausgebern für das Vertrauen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Friedrich Pustet für die angenehme Zusammenarbeit. Vor allem aber danke ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für Ihr freundliches Interesse, Ihre Rückmeldungen und Ihre Treue!
Ihr Ansgar Kreutzer
(Chefredakteur)
¹ Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014.
² Interview mit Heinz Bude in der Zeitung „Die Furche" v. 13.5.2015.
³ Jürgen Werbick, Die Angst durchkreuzen. Ermutigung aus dem Glauben, Freiburg i. Br.–Basel–Wien 2017.
⁴ Ebd., 15.
⁵ Ebd.
Manfred Prisching
Soziologie der kollektiven Ängste
Viele Menschen haben zunehmend den Eindruck, in einer Gesellschaft zu leben, in der nichts mehr „normal" ist. Der Grazer Soziologe Manfred Prisching zeigt eindrucksvoll, welche zentralen Verlusterfahrungen sich kollektiv entfalten, wenn Werte, Gemeinschaft, Überschaubarkeit, Wohlstand und Sicherheit in Frage stehen: der Verlust der Normalität wie z. B. vermeintlicher Selbstverständlichkeiten und der Verlust der Resonanz (H. Rosa), d. h. einer gelingenden Weltbeziehung wie Verbundenheit mit und Offenheit gegenüber anderen Menschen und Dingen. Wer davon profitiert, sind neoautoritäre Bewegungen. (Redaktion)
Wir leben (in Mitteleuropa) in einer wohlhabenden und historisch einmalig sicheren Welt, und dennoch scheinen die Ängste nicht zu weichen, ja sogar zuzunehmen, bis hin zum Empfinden einer Risikogesellschaft und zum Befund einer umfassenden Angstgesellschaft.¹ Das ist eine paradoxe Sache. Denn der beste Indikator für Lebenssicherheit und Wohlstand ist die Lebenserwartung, die in den westlichen Ländern hoch ist und weiter ansteigt, jedes Jahr um ein Vierteljahr. Dennoch entspricht diese objektive Sicherheit nicht dem Lebensgefühl. Die oberflächlichste aller Bedrohungen ist der Terror. Manche Menschen sagen, dass sie sich kaum noch auf die Straße trauen. Mehr als 20.000 Tote pro Jahr in Europa jedoch gibt es durch Mord und 30.000 durch Autounfälle. Da ist es sonderbar, dass Menschen Angst haben, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Terroranschläge haben in den letzten Jahren etwa 200 bis 300 Tote pro Jahr in Europa verursacht. Für Amerika wurde festgestellt: Zwei Tote pro Jahr durch eingewanderte, islamische Terroristen, die der amerikanische Präsident für eine der größten Gefahren hält, aber 21 Tote durch bewaffnete Kleinkinder, 31 durch Blitzeinschläge, 69 Personen werden von Rasenmähern getötet, und 737 Amerikaner sterben jährlich, weil sie aus dem Bett fallen.² Ehepartner sind jedenfalls statistisch viel gefährlicher als Terroristen. Doch die Feststellung, dass solche Ängste übertrieben sind, beseitigt diese nicht. Möglicherweise aber haben wir vor den falschen Dingen Angst, etwa vor importierten Salzsäure-Hühnern: Es wäre ein Skandal, würde es publik, dass man im Magen von Menschen bereits Spuren von Salzsäure gefunden hat. Das ist allerdings zwingend der Fall, denn Magensaft besteht hauptsächlich aus Salzsäure. Deshalb kaufen auch Menschen, bei denen keinerlei Unverträglichkeiten festgestellt worden sind, glutenfreie und laktosefreie Produkte. Man weiß ja nie.
Es herrscht Unbehagen, Angst, Wut. Heinz Bude sagt: „[Angst] ist das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind."³ Sie ist die spätmoderne Verständigungssprache. Man spricht über Gefühle, die gewissermaßen objektiviert, als Ausfluss einer (in Wahrheit nichtwirklichen) Wirklichkeit dargestellt werden. Denn die Gefahren sind „unsichtbar geworden. Angst kann man auch vor gegensätzlichen Dingen haben: Bei der Kontrollgesellschaft weiß man schon nicht mehr, ob die Angst vor dem „großen Bruder
überwiegt oder die Maßnahmen allseitiger Überwachung bereits wieder angstreduzierend sind. Am besten hat man Angst vor beidem, vor der Überwachung und vor der Nichtüberwachung.
Dabei haben wir doch viele herkömmliche Ängste abgebaut: vor der Hölle und dem Teufel, vor den Dämonen und Geistern, vor dem bösen Blick der Nachbarin, vor dem Jüngsten Gericht … Dennoch handelt es sich um einen wuchernden Angsthaushalt, mit Folgen für die politische Szene. Sind alle verrückt geworden? Paranoia an allen Ecken und Enden? Woher die vielen Ängste?
Die Ängste resultieren aus dem Verlust der Normalität, aus dem Phänomen einer „Auflösungsgesellschaft". Da war einmal eine Ordnung der Völker, Gruppen und Staaten (das war nicht notwendig eine besonders gute oder bessere Ordnung, zumal es im Rückblick ohnehin alle möglichen realitätsfernen Stimmungen und Gefühle gibt), doch diese Ordnung ist zerbrochen. Und eine neue geistige Ordnung ist noch nicht an ihre Stelle getreten. Man lebt in einer Gesellschaft, in der nichts mehr „normal" ist – jedenfalls ist es immer weniger möglich festzustellen, was normal wäre. Wie aber soll man ohne Normalität leben? Bei diesem Normalitätsproblem handelt es sich um fünf aktuell diskutierte Fragestellungen, die auch für den politischen Diskurs mit neoautoritären Bewegungen eine entscheidende Rolle spielen: Werte, Gemeinschaft, Komplexität, Wohlstand, Sicherheit.
1 Der Verlust des Wertebaldachins
Erstens: Die Menschen sind durch die Auflösung des „Baldachins" der gemeinsamen Werte verunsichert.⁴ Sie suchen eine einheitliche und konsistente Wertekonstellation. Man muss wissen, was gilt. Es braucht irgendeine Sinnstiftungsquelle. Normative Einheit wurde lange Zeit durch die Religion hergestellt, dann durch Nationalismus, schließlich durch Vernunftglauben und moderne totalitäre Ideologien wie den Marxismus und Faschismus. Das Schwächeln solcher Sinnstiftungssysteme kann eine Zeitlang durch Wohlstand und Konsum überbrückt werden: Menschen, die kaufen, schießen nicht. Aber auf Dauer scheint das nicht zu genügen, besonders wenn es mit dem versprochenen Wohlstandszuwachs auch noch zu hapern beginnt. Wenn es kaum noch außergesellschaftliche Bezüge (wie religiöse Tröstungen) gibt, dann sind die Anderen, die Mitmenschen, Himmel und Hölle zugleich. Der letztere Gedanke, den Heinz Bude von Paul Tillich entlehnt, macht zwangsläufig alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu solchen der Spannung, Unsicherheit, Ambivalenz und Angst, zumal in einer liquiden Spätmoderne⁵, in der alles andauernd in Schwebe bleibt, der Begründung entbehrt und der Kontingenz⁶ ausgesetzt ist. Bude meint nicht zu Unrecht, man könne aus dem, wovor sich die Menschen ängstigen, ableiten, „was ihnen wichtig ist, worauf sie hoffen und woran sie verzweifeln"⁷.
Neoautoritäre⁸ versprechen die Wiederherstellung der „richtigen Werte, auf Wegen und mit Methoden, die üblicherweise weit jenseits dieser Werte liegen. Ihre Versprechungen sind haltlos, denn das Problem ist, dass es in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft keinen gemeinsamen „Wertehimmel
geben kann, keine umfassende Leitkultur oder gesellschaftliche Gesinnungslehre. Dort lebt man definitionsgemäß in multiplen Identitäten, in der Vielfalt, in liquiden Verhältnissen, in der Fragilität. Es macht aber Angst, wenn man nicht mehr in der „eigenen Kultur lebt, in dem Sinn, dass man über Gültigkeiten Bescheid weiß – was also gut und böse, richtig und falsch ist. Doch es ist gerade diese „eigene Kultur
, die unbefragte Gültigkeiten aufgelöst und damit Freiheiten geschaffen hat, auf die man nicht verzichten will.
2 Der Verlust der Gemeinschaft
Zweitens: Menschen hegen tribalistische Gefühle: Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Heimat, Nation. Sie suchen nach einem Gemeinschaftsgefühl, dessen Quellen versiegt sind, sie streben Einbindung und Einbettung an;⁹ aber da sind nur noch fluktuierende Gruppierungen. Auch der Nationalismus ist nichts anderes als eine groß geratene Form von „Stammesdenken, vielleicht die größtmögliche (sodass Europa als Identifikationsobjekt die „Community
strapazieren würde). Trotz eines sich abschwächenden Gemeinschaftsgefühls war in den deutschsprachigen Ländern in den letzten Jahrzehnten noch die Erfahrung des Krieges gegenwärtig: Kriegsfolgenbetroffenheit und Schuldgefühl. Man hat sich geduckt und hart gearbeitet, mit erstaunlich positiven Folgen. Aber diese Art von Gemeinschaftsstiftung ist in den nachfolgenden Generationen immer weniger ein wirksames Bewusstseinselement. Der Kitt zerbröckelt, die Umstände werden als selbstverständlich genommen, die Wettbewerbsfähigkeit wird wichtiger.
Die Milieus driften auseinander. Da ist die traditionell-kleinbürgerliche Arbeiterschaft, die sichere Jobs und vertraute Umwelt will. Da sind aber auch qualifizierte, moderne Arbeitnehmer, die gut damit zurechtkommen, wenn sie mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft haben. Für die ersteren sind Flexibilität und Liquidität eine Bedrohung, für die letzteren ist es das selbstverständliche Ambiente. Es gibt kreative, coole, sich als Bohemiens gebende Individualisten, die durchaus gutes Geld verdienen. Ein paar konservative Bildungsbürger halten noch die Kulturinstitutionen aufrecht, aber sie sind im Schwinden. Es gibt die bereits etablierten Immigranten, die mit dem Nachzug von Ihresgleichen überhaupt keine Freude haben; und die neueren Flüchtlinge, deren Erwartungen weitgehend enttäuscht werden. Es gibt ein progressiv-intellektuelles Milieu, das sich von der Wirklichkeit der meisten Menschen längst abgekoppelt hat, sich über die Ablösung des Binnen-I den Kopf zerbricht und die Förderung unkonventioneller sexueller Orientierungen für das zentrale soziale Problem hält. Jedenfalls halten die einen die anderen für verrückt, für Restexemplare aus der alten Welt, für Dumpfbacken, für verwöhnte Illusionisten, die auf ihre Kosten leben. Das ist Desintegration.¹⁰
Neoautoritäre nehmen diese Heterogenisierung auf. Sie versprechen die Wiederherstellung des „Stammes, den Abschluss nach außen, die Rekonstruktion staatlicher Container, die Eliminierung alles Fremden. „Wir sind das Volk
war der Slogan von Demokraten gegen die Kommunisten, jetzt ertönt er als populistischer Ruf. Mehr Demokratisierung haben immer linke Gruppen gefordert, jetzt sind es Rechte, die ihre Art von Berufung auf die „Basis des Volkes vorantreiben. In der nationalen Abgeschlossenheit wären wir dann wieder „unter uns
und könnten alles nach unserem Belieben einrichten – im Brexit-Großbritannien, im Trump-Amerika oder im Le Pen-Frankreich. Gemeinschaft ist in der Geschichte immer durch Feinderzeugung intensiviert worden, und bei solcher Gelegenheit hat der Mob immer eine hohe Folgebereitschaft aufgewiesen. Also braucht man Feinde oder Sündenböcke. Diese finden sich (in einem genialen politischen Arrangement der Neoautoritären) sowohl „oben" (Ausbeuter, Kapitalisten, Banken, Intellektuelle, Experten, Journalisten – ein riesiges Verschwörungsgebilde, wie es in den