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Das Recht fließe wie Wasser…: Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?
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eBook280 Seiten3 Stunden

Das Recht fließe wie Wasser…: Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?

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Über dieses E-Book

1917 – die katholische Kirche erlässt zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein eigenes Gesetzbuch und betitelt es mit Codex Iuris Canonici. Hatte die katholische Kirche mitten im Ersten Weltkrieg keine anderen Sorgen? Welche Idee liegt dem zugrunde und welche Ziele verfolgt sie damit? Was soll überhaupt Recht und Gesetz in der Kirche?
Die drei kirchlichen Gesetzbücher von 1917, 1983 und 1990 werden in Entstehung, Inhalt und Auswirkung dargestellt. Ihre Besonderheiten werden erläutert, wie z. B. die Existenz des göttlichen Rechts, die Ausrichtung auf Liebe und Barmherzigkeit und die Einrichtung der Tatstrafen. Ebenso werden aktuelle Probleme aufgegriffen – wie Machtkontrolle und Beteiligung, Wiederheirat nach ziviler Scheidung und Rechtsschutz in der Kirche.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Jan. 2017
ISBN9783791761138
Das Recht fließe wie Wasser…: Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?

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    Buchvorschau

    Das Recht fließe wie Wasser… - Sabine Demel

    Fußnoten

    ZUM BUCH

    1917 – die katholische Kirche erlässt zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein eigenes Gesetzbuch und betitelt es mit Codex Iuris Canonici. Hatte die katholische Kirche mitten im Ersten Weltkrieg keine anderen Sorgen? Welche Idee liegt dem zugrunde und welche Ziele verfolgt sie damit? Was soll überhaupt Recht und Gesetz in der Kirche?

    Die drei kirchlichen Gesetzbücher von 1917, 1983 und 1990 werden in Entstehung, Inhalt und Auswirkung dargestellt. Ihre Besonderheiten werden erläutert, wie z. B. die Existenz des göttlichen Rechts, die Ausrichtung auf Liebe und Barmherzigkeit und die Einrichtung der Tatstrafen. Ebenso werdenaktuelle Probleme aufgegriff en – wie Machtkontrolle und Beteiligung, Wiederheirat nach ziviler Scheidung und Rechtsschutz in der Kirche.

    ZUR AUTORIN

    Sabine Demel, geb. 1962, ist promovierte und habilitierte Th eologin und seit 1997 Professorin für Kirchenrecht an der Universität Regensburg. Sie ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, stellvertretende Vorsitzende des Vereins DONUM VITAE und Vizepräsidentin der „Herbert Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche".

    Sabine Demel

    Das Recht fließe wie Wasser

    Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?

    Verlag Friedrich Pustet

    Regensburg

    IMPRESSUM

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    eISBN 978-3-7917-6113-8 (epub)

    © 2017 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

    Umschlag: Maria Seidl, Neuötting

    Umschlagbild: Thinkstockphoto/istock

    eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

    Diese Publikationen ist auch als Printprodukt erhältlich:

    ISBN 978-3-7917-2871-1

    Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie unter

    www.verlag-pustet.de

    Peter Krämer, meinem akademischen Lehrer und Begleiter, zu seinem 75. Geburtstag gewidmet in Dankbarkeit für seine Offenheit, Ausdauer und Geduld, in Respekt vor seiner Lebensfreude und seinem Humor trotz des Handicaps seiner Augen, in Erinnerung an viele schöne gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen in und außerhalb von Uni und Kirche

    Was wäre ich ohne Peter Krämer? Sicherlich keine Kirchenrechtlerin! Denn seine Art, Kirchenrecht dezidiert als theologische Disziplin zu betreiben, hat mich neugierig auf das Fach gemacht und in den Bann gezogen. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich auch nicht in katholischer Theologie promoviert. Denn er war der erste akademische Lehrer, bei dem ich unbegrenzt und ungefiltert fragen konnte, ohne den Kommentar befürchten zu müssen, besser evangelisch werden zu sollen. Stattdessen: „Sie haben das Zeug zum Promovieren. Und erst recht hätte ich ohne Peter Krämer nicht habilitiert. Denn seine Offenheit für alle Argumente, auch wenn sie in Richtungen wiesen, die wissenschafts- und kirchenpolitisch problematisch waren, hat bei mir die Lust auf universitäres Forschen und Lehren als Beruf geweckt und lebendig gehalten – bis heute. Sein Standartfazit nach vielen Fachdiskussionen: „Ich finde keinen Haken in Ihrer Argumentation. Aber es ist nicht meine Auffassung und Sie werden bestimmt Schwierigkeiten bekommen. Doch Qualität setzt sich durch.

    In der Endphase meines Studiums durfte ich bereits bei Peter Krämer als studentische Hilfskraft arbeiten und habe im Anschluss daran nur zu gerne sein Angebot angenommen, zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin und dann als wissenschaftliche Assistentin an seinem Lehrstuhl zu arbeiten sowie unter seiner akademischen Begleitung zu promovieren und zu habilitieren. Diese sieben Jahre der hauptberuflichen Tätigkeit bei Peter Krämer gehören zu den schönsten und unbeschwertesten Jahren meines Lebens; zwar anspruchsvoll in der Zuarbeit, aber flexibel in den Arbeitszeiten und stets interessiert an meiner fachlichen, beruflichen und persönlichen Entwicklung sowie stets aufgeschlossen für neue Erfahrungen auch außerhalb des Universitäts- und Kirchenbetriebs war Peter Krämer all die Jahre ein Chef, wie man ihn sich nur wünschen kann.

    Prolog

    Was wir vom Wasser lernen können¹

    Ein Weiser im alten China wurde von seinen Schülern gefragt: „Du stehst nun schon so lange an diesem Fluss und schaust ins Wasser. Was siehst du denn da?" Der Weise schwieg. Er wandte seinen Blick nicht ab von dem unablässig strömenden Wasser. Schließlich sprach er:

    „Das Wasser lehrt uns, wie wir leben sollen. Wohin es fließt, bringt es Leben und teilt sich aus an alle, die seiner bedürfen. Es ist gütig und freigiebig.

    Die Unebenheiten des Geländes versteht es auszugleichen: Es ist gerecht.

    Ohne seinen Lauf zu zögern, stürzt es sich über Steilwände in die Tiefe. Es ist mutig.

    Seine Oberfläche ist glatt und ebenmäßig, aber es kann verborgene Tiefen bilden. Es ist weise.

    Felsen, die ihm im Lauf entgegenstehen, umfließt es. Es ist verträglich.

    Aber seine Kraft ist Tag und Nacht am Werk, das Hindernis zu beseitigen. Es ist ausdauernd.

    Wie viele Windungen es auch auf sich nehmen muss, niemals verliert es die Richtung zu seinem ewigen Ziel, dem Meer, aus dem Auge. Es ist zielbewusst.

    Und sooft es auch verunreinigt wird, bemüht es sich doch unablässig, wieder rein zu werden. Es hat die Kraft, sich immer wieder zu erneuern."

    Einführung

    1917 – die katholische Kirche erlässt zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein eigenes Gesetzbuch und betitelt es mit: Codex Iuris Canonici. Hat die katholische Kirche mitten im Ersten Weltkrieg keine anderen Sorgen gehabt, als ein Gesetzbuch zu erlassen? Schließlich ist sie doch all die Jahrhunderte vorher auch ohne ausgekommen! Und warum nennt sie dieses Gesetzbuch Codex? Welche Botschaft wird mit diesem Titel transportiert? Und warum musste dieser Codex nur 65 Jahre später schon wieder komplett überarbeitet und neu herausgegeben werden?

    Ein eigenes kirchliches Gesetzbuch – die evangelische Kirche kennt so etwas nicht. Warum braucht dann die katholische Kirche eine solche rechtliche Extrawurst? Woher nimmt sich die katholische Kirche das Recht, ein eigenes kirchliches Gesetzbuch zu haben? Haben katholische ChristInnen ein anderes Verständnis von Recht und Gesetz? Was ist also so ein kirchliches Gesetzbuch? Ist es so etwas wie ein katholischer Knigge? Ein Katechismus in rechtlicher Sprache? Eine Vereinssatzung? Oder ein Gesetzbuch wie jedes andere auch? Steht es neben, über oder unter dem Gesetzbuch eines Staates? Wo bestehen Gemeinsamkeiten und wo Besonderheiten?

    Gesetze in einer Glaubensgemeinschaft – viele sehen darin eine Verrechtlichung des Glaubens. Ist das so? Was steht im Codex überhaupt drin? Was regelt er alles? Und mit welcher Verbindlichkeit? Welchen Einfluss haben die Regelungen des Codex auf das kirchliche Leben der Gemeinschaft und welchen speziell auf mich, den normalen Katholiken und die normale Katholikin? Verbessert sich durch ihn meine Stellung in der Kirche oder ist das Gegenteil der Fall? Was passiert, wenn ich den Codex gar nicht kenne oder wenn ich ihn nicht beachte oder wenn ich ganz bewusst zuwiderhandle?

    1    Ein gewagtes Unternehmen von kurzem Erfolg

    Der Codex Iuris Canonici von 1917 und die nachfolgenden Codices

    „Dank der Zusammenarbeit aller … kann Euere Heiligkeit heute, während die Menschheit sich in einem Kriege zerfleischt, der seinesgleichen in der Geschichte nicht kennt, der Kirche ein Gesetzbuch geben, das sie von nun an zu beachten hat. Wieder ein glänzender Beweis für die geschichtlich erwiesene Tatsache: die Kirche, von der göttlichen Vorsehung mitten in die ruhelosen Kämpfe dieser Welt gestellt, setzt heiter und unberührt ihre Mission der Liebe und des Wohltuns fort und lässt sich in ihr nicht beirren durch alle irdischen Stürme. Euere Heiligkeit haben in der jüngsten Konsistorialansprache der Überzeugung Ausdruck gegeben, dass der neue Kodex das Studium und die Beobachtung der Kirchendisziplin und dadurch die Heiligung und das ewige Heil der Seelen fördern werde. Möge es Gott geben in seiner unendlichen Barmherzigkeit! Das ist der einzige Lohn, den wir mit dem apostolischen Segen für unsere Mühen wünschen."²

    Mit diesen Worten überreichte der Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri mitten im Ersten Weltkrieg am Festtag von Peter und Paul 1917 dem Papst ein kostbar gebundenes Exemplar des ersten Gesetzbuches der katholische Kirche mit dem Titel Codex Iuris Canonici

    Auch oder gerade als Katholikin von heute ist man irritiert, wenn man sich diese geschichtliche Tatsache vergegenwärtigt: Vor 100 Jahren tobt der Erste Weltkrieg und die katholische Kirche stellt zeitgleich dazu ihr erstes Gesetzbuch fertig. Fast zwei Jahrtausende ist sie ohne ein Gesetzbuch ausgekommen, und dann muss sie gerade im Ersten Weltkrieg eines verfassen?! Nicht, dass sie den Krieg unterschätzt oder gar ausgeblendet hat! Nein, sie weiß sehr wohl um die Brutalität des Krieges. Denn bei der Übergabe des Gesetzbuches an den Papst dient der Krieg in der Rede des Kardinalstaatssekretärs als Kontrastfolie zum Kodifikationsgeschehen: In der Welt zerfleischt sich die Menschheit im Kriege, finden ruhelose Kämpfe statt, während in der Kirche heiter und unberührt die Mission der Liebe und des Wohltuns fortgesetzt, mit dem neuen Kodex die Kirchendisziplin und dadurch die Heiligung und das ewige Heil der Seelen gefördert wird. Was für eine hohe Erwartung an das erste kirchliche Gesetzbuch! War sie zu hoch? Im Nachhinein betrachtet: ja. Denn nur 65 Jahre später wird bereits eine grundlegend neu bearbeitete Fassung dieses Gesetzbuches in Kraft gesetzt und als Codex Iuris Canonici von 1983 in Abhebung zu dem von 1917 bezeichnet. Für ein Gesetzbuch ist das eine überraschend, fast erschreckend kurze Geltungszeit. Wie ist diese Diskrepanz zwischen dem Anspruch an das kirchliche Gesetzbuch von 1917 und der Realität seiner tatsächlichen Wirkung zu erklären? Um hierauf antworten zu können, ist die Idee und die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzeswerkes näher zu betrachten.

    1.1    Der CIC/1917 in seinen Wurzeln und Besonderheiten

    Das Urteil zeitgenössischer und nachgeborener Fachleute über den CIC/1917 ist einhellig. Er stellt rechtssystematisch „das seit Jahrhunderten größte Ereignis dar.⁴ Seine große Leistung liegt nicht auf der inhaltlichen, sondern auf der formalen Ebene in der „Methode der neuzeitlichen Gesetzgebung⁵, d. h. in der Anwendung der abstrakten Kodifikationsmethode des weltlichen Rechts auf das kirchliche Recht,⁶ so dass das gesamte damals geltende Kirchenrecht „in noch nie dagewesener Geschlossenheit und Vollständigkeit⁷ vorgelegt wurde und damit erstmals auch in einer Form, die „sogar für den Nichtfachmann leicht zugänglich geworden ist und auch von ihm ohne Schwierigkeiten wieder übersehen werden kann.⁸ Mit dem Kodex hat die katholische Kirche ihre Rechtsordnung auf eine neue Grundlage gestellt, indem sie erstens altes Recht, das außer Kraft getreten war, abgestoßen hat, zweitens Recht, das teilweise überholt war, umgestaltet und dadurch wieder lebensfähig gemacht hat sowie drittens alles Recht, das sich bisher bewährt hat, vollständig aufgenommen hat.⁹

    1.1.1    Die Idee einer Neuordnung des kirchlichen Rechts

    Schon seit Langem war das kirchliche Recht in seinem Normenbestand unübersichtlich geworden, war von einem Durcheinander veralteter, längst außer Kraft getretener und neuer Gesetzesnormen geprägt und lebte mehr in den Kommentaren als in den Rechtsnormen.¹⁰ So war bereits 1864, also im Vorfeld des I. Vatikanischen Konzils, der Ruf nach einer Reform des kirchlichen Rechts aufgekommen und von den Konzilsvätern aufgegriffen worden. Von einem dschungelhaften Zustand des Rechts war dabei die Rede, vom Erdrücktwerden durch die Gesetze und davon, dass man mit der Fülle des überlieferten Rechtsstoffes mehrere Kamele beladen könne.¹¹

    Darüber, dass eine Reform dringend notwendig war, herrschte sehr schnell Einigkeit, nicht dagegen über die Art und Weise. Die einen forderten eine Überarbeitung der bestehenden Rechtssammlung des Corpus Iuris Canonici in seiner Ausgabe von 1580, andere wegen der Überalterung des Corpus Iuris Canonici die Schaffung einer ganz neuen Sammlung und eine dritte Gruppe schließlich eine moderne Kodifikation nach dem Vorbild der weltlichen Gesetzbücher, wie sie seit dem Code Napoleon von 1804 in Europa üblich geworden ist. Auch die Frage, ob das Konzil selbst diese Reform vornehmen sollte oder eine Kommission damit zu beauftragen ist, wurde diskutiert, konnte aber nicht mehr geklärt werden, da die Konzilsversammlung durch den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges im Oktober 1870 unterbrochen und auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, was sich im Nachhinein als ihr faktisches Ende erwies.

    Doch die Idee war geboren und nahm ihren Lauf, der sich allerdings zu einem Langstreckenlauf entwickeln sollte. Als Sieger dieses Langstreckenlaufs zeichnete sich dabei sehr bald die weltliche Methode der Kodifikation ab. Denn zum einen wurde die Idee der Reform in der Wissenschaft weiter diskutiert, und zwar vor allem unter dem Aspekt eben dieser neuen Methode der Kodifikation. Ein deutlicher Ausdruck dafür ist die Tatsache, dass einige Kanonisten sogar eigene Kodifikationsentwürfe verfassten. Zum anderen erfolgten die neuen Einzelerlasse der Päpste im Stil des Kodifikationssystems, wie z. B. die Reform des kirchlichen Strafrechts durch Pius IX. oder der Bücherzensur, des Missionsrechts und des summarischen Prozessverfahrens durch Leo XIII.¹² Die neue Methode der Kodifikation hatte damit in Wissenschaft und Gesetzgebung Einzug gehalten. Im Vergleich mit der bisherigen Art und Weise, Recht und Gesetz zu einem Rechtsbuch zusammenzuführen, liegt das Besondere und Neue der Kodifikation vor allem in zwei Aspekten: Die jeweils vollständig erfasste Rechtsmaterie wird erstens nicht mehr wie bisher mithilfe von konkreten Rechtsfällen dargestellt, sondern in eine abstrakte Sprache gefasst und dadurch inhaltlich verdichtet, sowie zweitens nicht mehr nur gesammelt und nach logischen Gesichtspunkten geordnet, sondern nach zweckorientierten Prinzipien gestaltet und so in ein einheitliches und widerspruchsfreies Rechtssystem gebracht. So werden zum einen aus konkreten Rechtsfällen abstrakte Gesetzesvorschriften, die nicht mehr unmittelbar anwendbares Recht sind, und zum anderen alle Einzelregelungen, die ursprünglich für sich stehen, in eine Gesamtordnung des Rechtsstoffes eingefügt und können dadurch eine neue Funktion und auch Bedeutung erhalten, selbst wenn sie inhaltlich unverändert aus der Tradition übernommen sind.¹³

    Bis die Idee der vollständigen Gesetzesreform aber wieder aufgegriffen wurde, dauerte es allerdings über 30 Jahre. Zweifelsohne schreckte man vor der tief einschneidenden Aufgabe einer kompletten Neuordnung des kirchlichen Rechts zurück. Ein weiterer Aspekt war aber auch kirchenpolitischer Art. Das Papsttum wollte zunächst von der „gesteigerten und gesicherten Machtfülle, die es auf dem I. Vatikanischen Konzil durch die beiden Dogmen über den Lehr- und Jurisdiktionsprimat erhalten hatte, „keinen unmittelbaren Gebrauch [machen]. Leo XIII. war vor allem darauf bedacht, die ehemalige Gegnerschaft, soweit sie in der Kirche verblieben war, entweder zu überzeugen oder doch durch ruhige Überlegenheit zum Schweigen zu bringen, auch die nicht katholische Welt nach Möglichkeit an die neue Lage zu gewöhnen und durch diplomatische Erfolge das Ansehen der Kirche und des päpstlichen Stuhles zu heben. Demgemäß beobachtete sein Pontifikat auch auf dem Gebiete der kirchlichen Gesetzgebung die vorsichtigste Zurückhaltung.¹⁴

    1.1.2    Beschluss der Neuordnung und Vorbereitung der Kodifizierungsarbeiten

    Es war Papst Pius X., der es wagte, die historische Aufgabe der Neuordnung des gesamten kirchlichen Rechts in Angriff zu nehmen und dafür die Kodifikationsmethode zu nutzen. Noch im gleichen Jahr seiner Wahl teilte er 1904 der Weltöffentlichkeit seinen diesbezüglichen Entschluss mit. Das dazu von ihm erlassene Motu Proprio Arduum sane munus („ein wirklich beschwerliches Unternehmen" [sc. die Neuordnung des kirchlichen Rechts]) wiederholt ganz bewusst die Formulierung der Konzilsväter auf dem I. Vaticanum.

    Nur wenige Tage nach dieser Ankündigung erfolgte ein päpstliches Rundschreiben an die Metropoliten, also an die Vorsteher eines Verbundes von mehreren benachbarten Diözesen (= Kirchenprovinzen). Darin wurden sie aufgefordert, gemeinsam mit den Bischöfen ihrer Kirchenprovinz Vorschläge für die Reform des Kirchenrechts einzureichen. Da die dafür vorgesehene Frist von vier Monaten sehr knapp bemessen war, trafen allerdings nur wenige Eingaben in Rom ein.¹⁵ Dennoch ist dieses Vorgehen gerade aus heutiger Sicht bemerkenswert, weil es den Ortskirchen bzw. Diözesen eine Mitwirkungsmöglichkeit an der Reformarbeit des kirchlichen Rechts eröffnet hatte und somit als eine Vorwegnahme und erste Probe des synodalen Gedankens und der kollegialen Ausübung der kirchlichen Vollmacht gesehen werden kann, wie sie rund 60 Jahre später auf dem II. Vatikanischen Konzil thematisiert worden ist.¹⁶

    Unverzüglich wurde eine Kommission von 16 Kardinälen eingesetzt, der der Papst selbst vorstand. Aus ihr wurde ein fünfköpfiger Unterausschuss gebildet, dem wiederum ein Kollegium sachkundiger Konsultoren (= Berater) beigeordnet wurde. Die Konsultoren waren teils römische Kurialbeamte, teils Ordensgeistliche, Professoren und andere Experten. Aus finanziellen Gründen wurden hierbei vor allem Personen ausgewählt, die in Rom tätig waren. In der Tatsache, dass jeder Bischof das Recht hatte, einen Konsultor zu bestellen, zeigt sich auch hier wieder der moderne Gedanke der Beteiligung und Synodalität.

    Von diesem Kollegium wurde die eigentliche Kodifikationsarbeit des Arbeitsplans, der Stoffsichtung sowie der Neuformulierung der Gesetze geleistet, die dann den Kardinälen zur Beschlussfassung vorgelegt wurde. Zu diesem Zweck wurde es später in zwei Abteilungen gegliedert, von denen die eine Kardinal Pietro Gasparri leitete.

    Inhaltliche Bezugspunkte der Kodifizierung waren das Corpus Iuris Canonici, das Konzil von Trient, die Akten der Päpste sowie die Dekrete der römischen Kurie und Gerichtshöfe. „Die im materiellen Sinn reformerische Arbeit hatte drei Schwerpunkte: 1. Die Ausscheidung des nicht mehr geltenden Rechtes; 2. Die Herbeiführung einer klaren Entscheidung in Streitfragen; 3. Die Begründung bei ratsamen oder notwendigen Änderungen des geltenden Rechtes

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