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Phie und die Hadeswurzel
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eBook348 Seiten4 Stunden

Phie und die Hadeswurzel

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Über dieses E-Book

Das Verlangen, einen geliebten Menschen ins Leben zurückzurufen, und alles dafür zu geben, das ist der Kern dieser berührenden Fantasy-Geschichte.

Mit ihrem Romandebüt liefert Angela Pointner nicht nur ein mitreißendes Plädoyer für Hoffnung und Empathie, sondern darüber hinaus auch einen überzeugenden Beweis ihres literarischen Talents.
SpracheDeutsch
HerausgeberSeifert Verlag
Erscheinungsdatum2. Nov. 2015
ISBN9783902924520
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    Buchvorschau

    Phie und die Hadeswurzel - Angela Pointner

    entflohen.

    1

    Als der Wecker klingelte, hatte ­Sophie das Gefühl, soeben erst eingeschlafen zu sein. Das konnte nur ein beschissener Tag werden. Die letzte Mathearbeit des Schuljahres stand an, und ­Sophie wusste, dass sie heute nur auf ihr Glück bauen konnte. Was sie gelernt hatte, durfte man bestenfalls als bruchstückhaft bezeichnen. Wie immer, wenn eine Prüfung bevorstand, war ihre Mutter früher aufgestanden, um ein besonders »nahrhaftes« und »konzentrationsförderndes« Frühstück zuzubereiten. Das bedeutete, dass eine dampfende Müslischüssel mit zweifelhaftem Inhalt für sie auf dem Küchentisch bereitstand, während sich Jonas über seine Nutellabrote hermachte. Jonas war ihr »kleiner« Bruder, acht Jahre alt und überaus verhaltenskreativ, wie Mums Freundinnen zu scherzen pflegten. Für ­Sophie hieß das, mit einer vorlauten und zappeligen Nervensäge die ersten Minuten des Tages verbringen zu müssen, obwohl sie sich am liebsten in ihrem Bett vergraben hätte.

    Doch Jonas war noch gar nicht wach. ­Sophies Mutter Mira stand allein in der Küche und klappte gerade eine prall gefüllte Jausenbox zu. »Guten Morgen, mein Schatz! Ich hab ein Müsli gemacht und dir noch ein bisschen Nervennahrung für später eingepackt.« Sie lächelte, sah dabei aber müde und erschöpft aus. Das blonde Haar war zu einem schlampigen Knoten gebunden, aus dem unzählige unfrisierte Strähnen hingen. Die Augen waren verquollen, und sie hatte sich nur schnell eine alte, ausgewaschene Sweatjacke über ihr Nachthemd gezogen.

    »Morgen«, brummte ­Sophie, »wo ist der Quälgeist?«

    »Du meinst Jonas? Der ist krank. Hat sich die ganze Nacht die Seele aus dem Leib gekotzt. Ich habe keine Minute geschlafen.«

    »Mmmm.« ­Sophie reagierte kaum und schaufelte missmutig den undefinierbaren süßen Brei in sich hinein, der sie heute über die Mathearbeit retten sollte.

    »Tina kommt nachher. Ich muss heute arbeiten, und am Nachmittag fahre ich zu Papa.« Ihre Mutter legte die Jausenbox vor ­Sophie auf den Tisch und schaute sie fragend an.

    ­Sophie wusste, was dieser Blick bedeutete, und sie hasste ihn, hasste alles, was damit zusammenhing, was dahintersteckte. Sie sollte ihren Vater wieder regelmäßig besuchen, sollte ihren Teil dafür tun, dass er wieder gesund wurde. Dass er aufwachte. So wie in diesen kitschigen Klinikserien. Wenn man nur das Richtige tat oder sagte, dann würde er die Augen aufschlagen, und alles wäre wie früher. Doch ­Sophie wollte nicht mehr, sie hatte genug von sterilen Krankenhausgängen und unpersönlichen Krankenzimmern. Sie hatte aufgehört, ihn zu besuchen. Er war früher nie da gewesen, wenn sie ihn brauchte, jetzt war sie nicht mehr da. Aus. Basta.

    ­Sophie hatte eigentlich gehofft, noch ein paar Worte mit Liv wechseln zu können, bevor der Unterricht begann, aber ihre Freundin kam wie immer im letzten Moment. Atemlos hechtete sie zur Tür herein, die gleich darauf von Professor Motta geschlossen wurde. Liv war ­Sophies beste Freundin und, wenn sie ehrlich war, auch ihre einzige. Die beiden erfüllten jedes amerikanische Teeniefilmklischee, zwei Nerds, die vom Rest der Klasse gerade noch geduldet wurden. Warum sie zwei sich auf Anhieb verstanden hatten, war ­Sophie allerdings bis heute ein Rätsel. Das konnte nur mit diesen Gegensätzen zu tun haben: ­Sophie stets missmutig und unfreundlich, Liv auf eine naive Art immer fröhlich und optimistisch. Auch äußerlich unterschieden sich die beiden Mädchen deutlich. ­Sophie, die immer Schwarz trug, was ihre hagere Figur noch zerbrechlicher erscheinen ließ, und Liv, die hautenge bunte T-Shirts mit klugen Sprüchen darauf liebte, die sie selbstbewusst über kleine Speckröllchen an Bauch und Hüften zog. Liv war die Einzige, der ­Sophie von ihren Träumen erzählt hatte. Nicht gleich nach dem ersten natürlich, doch als es für ­Sophie langsam zur Gewissheit wurde, dass das, was sie da in der Nacht erlebte, nicht mehr »normal« war, hatte sie jemanden zum Reden gebraucht. Jemanden, der es genauso aufregend finden würde wie sie, der ihr begeistert zuhören würde. Jemanden, mit dem sie dieses Abenteuer teilen konnte.

    Das Klatschen eines Heftes auf ihrem Tisch holte ­Sophie jäh aus ihrer Gedankenwelt in die bittere Realität zurück. »Angefangen wird erst, wenn ich alle Hefte ausgeteilt habe. Auf mein Kommando, jetzt geht’s los, meine Herrschaften, viel Glück.«

    Mit einem tiefen Seufzer überflog sie die Prüfungsaufgaben, und siehe da, ein Lichtblick! Sie hatte offenbar die richtigen Bruchstücke ausgewählt. Der Rest des Vormittags verlief schleppend. Da einige Klassen auf Sportwoche waren, mussten viele Schulstunden suppliert werden. Die Vertretungslehrer meinten es besonders gut mit ihnen, was zur Folge hatte, dass sie einen mehr oder weniger interessanten Lehrfilm nach dem anderen vorgesetzt bekamen.

    ­Sophie nutzte die Dunkelheit des Filmsaales für ein Nickerchen zwischendurch, das durch Livs spitzen Ellenbogen jäh beendet wurde. »Bist du verrückt? Das tut weh!«

    »Das Volleyballtraining fällt heute auch aus, fährst du mit mir in die Stadt?«, zischte Liv unbeeindruckt.

    »Klar«, ­Sophie überlegte nicht lange. Wenn ihre Mutter mitbekäme, dass sie unverhofft einen freien Nachmittag zur Verfügung hatte, dann würde es für sie heißen, ab in die Klinik. Zu ihrem Vater. Und da wollte sie nicht mehr hin, auf gar keinen Fall.

    »Wir holen uns was vom Scooters und setzen uns dann in den Stadtpark, ok?«

    »Ja, gern, bloß weit genug weg vom Krankenhaus!«

    Sie kauften sich ein Truthahn-Sandwich mit Käse, Gurken und Tomaten, dazu einen Kokos-Ananassaft, und ließen sich als Nachspeise einen Beerencrumble einpacken. »Wenn schon, denn schon«, dachte ­Sophie. Schließlich hatte sie den Tag ja mit gesunder Nervennahrung begonnen. Die Sonne strahlte vom Himmel, im Stadtpark blühten bereits die ersten Sommerblumen, und die sattgrünen Wiesen waren belegt mit zahlreichen Städtern, die sich eine Auszeit vom hektischen Alltag gönnten.

    Liv und ­Sophie steuerten auf ihre Lieblingsbank unter einer großen Trauerweide zu, die ihre Äste in den kleinen Ententeich hängen ließ. Unwillkürlich musste ­Sophie an ihre Trauminsel denken, wie gerne hätte sie diese üppige Vegetation einmal in so herrlichen Sommerfarben erlebt. Während sie ihr Sandwich aß, ließ sie ihren Blick über die Landschaft gleiten, und zum ersten Mal fielen ihr die vielen verschiedenen Grüntöne auf, die der Park zu bieten hatte. Das schwarz-dunkle Grün des Haselnussstrauches, daneben das fast schon grelle, gelbliche Hellgrün einer Akazie, um den Teich rötlich-grün gestreifte Gräser. Warum hatte sie früher nicht darauf geachtet? Bei ihrer Kleidung oder auch bei ihren Schulsachen spielten Farben eine große Rolle für ­Sophie. Sie drückten ihre Stimmung aus, ihren momentanen Blick auf die Welt. Warum hatte sich ihre Sicht auf die Dinge nun verändert? Weil im Mondlicht alles grau und silbern glänzte?

    »Und, wie war dein Traum heute?« Liv hatte ihr Sandwich im Eiltempo verdrückt, daher war es jetzt vorbei mit der beschaulichen Ruhe. Stille war für Liv definitiv eine überschätzte Kategorie.

    »Immer das Gleiche, der See, Nebel, ich im Ruderboot, die Bucht, der Wald und schließlich die Gipfelbohne.«

    »Nichts Neues?«

    ­Sophie hörte die Enttäuschung in Livs Stimme. Ja, sie hätte sich von den letzten Nächten auch mehr erwartet. So viel war passiert, als sie in den ersten Wochen zu ihrer Traum­insel aufgebrochen war, ständig gab es Neues zu entdecken. Der Löwenfelsen, der ihr das Tor zu ihrer Welt eröffnet hatte – in den ersten Nächten war sie, sinnlos suchend, am Ufer entlanggerudert und hatte keine Anlegemöglichkeit gefunden. Der Weg in den Wald, der ihr jede Nacht eine neue kleine Überraschung geboten hatte, schmale Pfade, die einem verwinkelten Irrgarten glichen, Felsformationen, die erklettert werden mussten, Bäche, an denen man stundenlang Staumauern bauen oder Steine über die Wasseroberfläche springen lassen konnte. Für das alles war man auch mit 13 Jahren noch nicht zu alt. Zumindest nicht im Traum.

    »Vielleicht ist das Ganze ja wie ein Computerspiel und du findest einfach den Zugang zum nächsten Level nicht«, meinte Liv trocken.

    »Und ich soll jetzt im Internet nach Tipps suchen, oder wie?«

    »Warum nicht, vielleicht bist du ja nicht die Einzige auf der Welt, die so träumen kann. Du bist sicher nicht die Einzige auf der Welt. Kann ich mir nicht vorstellen.« Liv schaufelte sich genüsslich einen übervollen Löffel Crumble in den Mund. Zumindest für einen kurzen Moment würde sie nun still sein, und das gab ­Sophie Zeit zum Nach­denken. ­Natürlich hatte sie sich schon oft den Kopf darüber zerbrochen, dass sie nicht die Einzige sein konnte, dass es da draußen jede Menge Menschen gab, die so real in ihre Traumwelten eintauchten. Sie hatte sich im Internet über das Klarträumen schlau gemacht, die Schlafphasen studiert, in Esoterikforen nach Hinweisen gesucht. Aber nichts, sie war auf nichts und niemanden gestoßen, der über ähnliche Erfahrungen berichtet hatte wie sie.

    Liv schien ihre Gedanken lesen zu können: »Ich hab auch schon Stunden im Internet gesurft und nichts gefunden, aber vielleicht suchen wir einfach nach dem Falschen.«

    »Mmmmh«, ­Sophie massierte ihren Nacken und streckte sich. Seitdem sie begonnen hatte, im Traum ihre Insel zu erkunden, wachte sie zunehmend mit starken Verspannungen auf. Aber wonach sollte sie suchen? Welche Fragen sollte sie stellen? Spielte das Schicksal, das ihre Familie getroffen hatte, eine Rolle? Schließlich hatten die Träume begonnen, kurz nachdem ihr Vater verunglückt war.

    »Schreib einfach deine Geschichte auf und stell sie in die ­ComUnity!« Liv blickte sie mit großen Augen an und leckte dabei genussvoll den Löffelrücken ab.

    »Meinst du wirklich?« ­Sophie war nicht gerade begeistert von diesem Vorschlag, das Schreiben war nicht ihre Stärke.

    »Frau Beck würde dies wohl sehr begrüßenswert finden.« Liv ahmte mit näselnder Stimme ihre Deutschlehrerin nach: eine ältere Dame, die ihren Ruhestand herbeisehnte, den Jugendlichen von heute aber noch unbedingt einen höflichen Umgangston mit auf den Weg geben wollte. »Bei der Traumdeutung wird den Leuten ja auch immer geraten, sie sollten alles aufschreiben.«

    »Um Gottes willen, mit diesen Psychofuzzies will ich nichts zu tun haben, da reicht mir schon meine Mum!« ­Sophie verzog das Gesicht.

    Liv wusste sofort, dass sie das falsche Thema angeschlagen hatte. ­Sophie und ihre Eltern, das ging im Moment gar nicht. Und das obwohl sie sich immer so nahe gewesen waren, ­Sophie und ihre Mutter. Liv hatte ­Sophie oft um das verständnisvolle und lockere Miteinander zu Hause beneidet. Doch der Autounfall des Vaters hatte alles verändert. »So meine ich das doch nicht!«, sagte sie jetzt. »Schreib’s für dich auf, dann ist in deinem Gehirn wieder Platz für was Neues. Und außerdem: Vielleicht hört das Träumen ja irgendwann auf, und dann hast du was, um dich zu erinnern, Phie.«

    Wenn Liv diesen Spitznamen verwendete, dann war sie auf Versöhnungskurs, und ­Sophie ließ sich auch nicht lange bitten. Sie nahm ihre Freundin in den Arm: »Olivia, wenn ich dich nicht hätte!« Und das meinte sie aus tiefstem Herzen.

    Die Stimmung war angespannt, als ­Sophie abends nach Hause kam, ihre Mutter lernte mit Jonas für irgendeinen Erdkunde-Test, und das bedeutete immer dicke Luft. Ihr kleiner Bruder konnte einfach nicht still sitzen, und genauso flüchtig war seine Konzentration. »Jetzt bleib einmal fünf Minuten sitzen und hör mir zu!«, hörte sie ihre Mutter schimpfen, als sie mit einem kurzen Gruß in ihr Zimmer schlüpfte.

    »Hi, muss noch lernen und geh dann schlafen, gute Nacht!« ­Sophie warf ihren Rucksack neben den Schreibtisch und setzte sich aufs Bettsofa. Ihr Zimmer war eine eigenartige Mischung aus Kleinmädchen-Reich und Anarchistenbude. Die Wände, vor Jahren in Rosa- und Lilatönen ausgemalt, hatten einmal hervorragend zu den hellen Möbeln aus Kiefernholz gepasst. Im Regal über dem Bettsofa saßen ein paar staubige Stofftiere, die sie zuletzt mehr und mehr vernachlässigt hatte. Quer über dem Kleiderschrank und auch über die anschließende Wand prangte allerdings ein mit schwarzer Sprühfarbe aufgebrachtes Peace-Zeichen und die Worte »Life sucks!«, Zeichen eines zutiefst frustrierenden Wochenendes, an dem sie beschlossen hatte, ihren Vater nicht mehr zu besuchen, und Mum darüber in Tränen der Wut ausgebrochen war. Soviel zum »Fels in der Brandung«, eine Rolle, in die ihre Mutter geschlüpft war, als sich ­Sophies Vater Robert beruflich so einspannen ließ, dass für die Familie keine Kraft mehr übrig blieb. Mira strotzte zu dieser Zeit vor Energie. Sie war Vater und Mutter in einer Person, versorgte ihre Kinder mit Essen, Liebe und tollen Ausflügen und beendete nebenbei ihre Ausbildung zur Psychotherapeutin. Und jetzt?

    ­Sophie packte ihren Laptop aus und setzte sich zum Schreibtisch. Ihren Traum aufzuschreiben, wozu sollte das gut sein? Sie wollte doch keine von diesen romantischen Tage­buch-Schreiberinnen werden, und für die ­ComUnity war es definitiv der falsche Zeitpunkt. ­Sophie galt ohnehin als Außenseiterin und wollte sich den Schulalltag nicht noch beschwerlicher machen. »Ich schreib’s einfach nur für mich auf und speichere es für die Nachwelt«, gab sie sich einen Ruck und musste dabei innerlich grinsen.

    Sie öffnete ein neues Dokument, schrieb in fetten Lettern »Die Insel der Phie« und speicherte sofort ab. Der Anfang war gemacht. Damit schlüpfte sie in ihren Pyjama, legte sich aufs Bett und verschränkte ihre Arme hinter dem Kopf. »Auf die Decke würden auch noch gute Sprüche passen«, wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrer Mutter, die ob ihrer Zimmergestaltung getobt hatte. Soviel Verständnis sie für ihre jugendlichen Klienten hatte, sosehr war sie von ­Sophies gesprayten Werken entsetzt gewesen. Wenn sie bei Jonas jetzt schon so in Fahrt war, würde sie wohl auch kontrollieren, ob ­Sophie wirklich noch etwas lernte. So raffte sie sich auf und wollte gerade ihre Schulsachen aus dem Rucksack packen, als sie es sich anders überlegte. Sie setzte sich an den Schreibtisch, schnappte sich ihren Laptop und begann zu schreiben.

    Hi! Ich bin ­Sophie van Sand, wohne in einem Provinzkaff in den Alpen, und mir geht’s beschissen. Ich weiß nicht, warum sich unsere holländischen Vorfahren hierher verirrt haben: in ein Land, wo es nur erdrückend hohe Berge und engstirnig zubetonierte Täler gibt. Mein Vater liegt nach einem Autounfall seit drei Monaten im Koma. Jetzt ist er zwar körperlich voll da, wenn ich in brauche, aber dafür geistig noch abwesender als sonst. Meine Mum ist Psychologin und gibt alles, damit unsere Familie das durchsteht. Sie hätte wohl besser selbst eine Therapie gemacht und nicht ihr Psychodoktor-Studium. Ich bin 13 und seit dem Unfall so was wie das schwarze Schaf der Familie. Wortwörtlich, denn meine Seele trägt Trauer, und mein Styling ist tiefschwarz. Das bin ich, ein morbides Schäfchen, das lieber an eine grüne irische Küste möchte als in die Berge zu Heidi und dem Ziegenpeter.

    ­Sophie beugte sich über ihren Laptop, strich sich eine blauschwarze Strähne hinters Ohr und prüfte, was sie da verfasst hatte. »Ich komme vom Thema ab«, dachte sie. »Egal!« Zufrieden nickend, klickte sie auf das Speichersymbol und klappte den Computer zu. Wenn es einmal mit ihr vorbei sein sollte, dann würde die Nachwelt erfahren, wie alles angefangen hatte. Ein Tagebuch zu führen erschien ihr zwar sehr trivial, aber für die ­ComUnity war es noch zu früh. Es genügte ihr zu wissen, dass alles gespeichert sein würde, bis zu dem Tag, an dem es so weit war. »Was für ein dramatischer Anfang«, murmelte sie grinsend vor sich hin.

    Es war spät geworden, und da sie nicht riskieren wollte, dass ihre Mutter an die Zimmertüre klopfte und in dieser verhassten, überverständnisvollen Tonlage – aus der bei genauem Hinhören die nackte Panik schrillte – fragte, ob sie noch etwas essen wolle, löschte ­Sophie das Licht und kuschelte sich in ihr Bett. Die weichen Kissen gaben nach, und sie streckte alle Gliedmaßen von sich. ­Sophie van Sand war bereit. Die Müdigkeit warf bereits erste Schleier über ihre Gedanken, die schon voller Vorfreude um jene Dimension tanzten, die sie nun betreten würde. Wenn es klappte.

    2

    Wie jedes Mal spürte sie sich in einen Nebel voller Farben tauchen. Die Schwaden, die sie umgaben, ließen sie frösteln und erfüllten ­Sophie mit einer unerklärlichen, aber angenehmen Leere. Verschwommenes Grau, Blau und Grün dominierten, keine Spur vom bunten Farbentaumel, den schon so viele Filmemacher beschworen hatten. Eine Zeit lang genoss sie das Gefühl des Hinüberschwebens, des sich Auflösens im Nirgendwo. Dann schien ein Ruck durch ihren Körper zu gehen, sie bekam die Kontrolle über Arme und Beine zurück, obwohl sie erahnte, dass nur ein Teil von ihr in dieses zweite Dasein hinüber geglitten war. Doch ­Sophie war noch nicht so weit, sie brauchte die Vorstellung ihres irdischen Körpers, um bestehen zu können.

    Sie spürte das fasrige Holz des alten Bootes unter sich, und ihre Arme schoben wie selbstverständlich die Ruder vor und zurück. Ihr ganzer Körper arbeitete, und dennoch fühlte es sich leicht an, das Wasser bot zwar Widerstand, aber sie paddelte scheinbar mühelos Richtung Ufer. »Dafür wache ich morgen wieder mit einem Muskelkater auf«, dachte ­Sophie. Ob sich ihre Traumreisen auch auf die reale Welt auswirkten? Der Löwenfelsen bot einen vertrauten Anblick, und ­Sophie steuerte das Boot zielstrebig in die kleine Sandbucht. Sie zog es an den Strand, wollte ihren Blick wie gewohnt zum anderen, wolkenverhangenen Ufer wenden, da beschloss sie spontan, das heute Nacht nicht zu tun. Es war nur eine kleine Geste, eine minimale Abänderung des bisher Gewohnten, und doch hatte sie das Gefühl, etwas vollbracht zu haben. Sie hatte für einen kurzen Moment eingegriffen. Aber hatte sie das nicht schon immer getan? War es nicht ihre Entscheidung gewesen, welchen Pfaden sie im Inneren des Waldes folgte, welche Winkel und Ecken sie erkundete? ­Sophie war sich plötzlich nicht mehr sicher. Und da war sie wieder, diese Präsenz aus dem Nichts. Ihre Energie war deutlich spürbar, fast greifbar, und dennoch war ­Sophie allein. Sie schauderte, nahm aber allen Mut zusammen und begann das Gebüsch vor sich genauer zu untersuchen. Doch die einzige Ausbeute waren von den vielen Stacheln aufgekratzte Arme.

    ­Sophie beschloss, den Weg in den Wald zu nehmen. Irgendwas war heute anders, das spürte sie deutlich. Ihr Herz pochte vor Aufregung, als sie das dichte Unterholz hinter sich ließ und der Wald langsam lichter wurde. Ihre Sinne waren hellwach, sie spürte einen warmen Windhauch auf ihrem Gesicht und hörte Blätter rascheln. Ein Vogel zwitscherte im Gebüsch. Hatte sie all das bis jetzt auch so intensiv wahrgenommen? Hatte sie es überhaupt registriert? War der Wald bisher still gewesen, die Luft warm oder kalt? ­Sophie war verwirrt, konnte sie sich auf ihre Erinnerung verlassen? Alles, was sie bis jetzt bewusst wahrgenommen hatte, waren Bilder einer wunderschönen Waldlandschaft, einzig die Wärme der großen Steinbohne war ihr immer schon aufgefallen. Der Bach, schoss es ihr durch den Kopf, höre ich das Wasser rauschen oder nicht? Sie lief los und konnte es schon aus der Ferne vernehmen, das Plätschern eines kleinen Rinnsals, das sich durch Felsen und Farne seinen Weg bahnte. Fasziniert kniete sie nieder und hielt ihre Hand ins Wasser. Es war herrlich frisch und prickelte auf ihrer Haut, so wie sie es von den Almwanderungen kannte, die sie mit ihrer Familie oft unternommen hatte. Ihr Traum hatte eine ganz neue Intensität angenommen. »Yes«, dachte ­Sophie, »das ist es.« Als hätte sie schon immer auf diese Veränderung gewartet. Mit einem unbeschreiblichen Hochgefühl im Bauch machte sie sich auf zum Gipfel.

    Der Felsen war noch warm, ­Sophie schmiegte ihre Wange an die zerfurchte Oberfläche, um die Energie des Steines zu fühlen. Ihre Hände betasteten jede Rille, jede Kante, und sie wunderte sich, wie rund und fast weich dieses harte Gestein sein konnte. Sie kletterte in ihre Kuhle und wartete gespannt, wann der Moment kommen würde, dass die Wolkendecke aufbrach. Diese Bergkette, die jede Nacht für einen kurzen Augenblick vom Mond erhellt wurde, schien mit jedem Mal eine größere Bedeutung für ­Sophie zu bekommen. Es war ein Gefühl der Sehnsucht und gleichzeitig des Geborgenseins, das sich in wohligen Schauern in ihrem Körper ausbreitete, wenn sie diesen bestimmten Gebirgszug sah. Sie wünschte sich so sehr, dass dieser helle Moment länger dauern würde, aber kaum hatte sie einen Blick auf ihr Ziel erhascht, schoben sich wieder Wolken vor die Mondscheibe. »Es ist immer Vollmond«, schoss ihr plötzlich in den Kopf, »es ist immer Vollmond, wenn ich hier sitze. Zum Glück bin ich kein Werwolf.« ­Sophie grinste in sich hinein. »Vielleicht sollte ich einfach mal losheulen? Ich hab mich in meinem Traum noch nie selbst gehört, immer nur meine innere Stimme …« Sie zögerte. Laut zu sein war so gar nicht ihre Art, weder in der Schule noch sonst unter fremden Menschen, höchstens einmal zu Hause, wenn sie vor Wut ihre Mutter oder ihren Bruder anschrie. Und das kam selten genug vor, meistens verkroch sie sich einfach in ihrem Zimmer und setzte sich die Kopfhörer auf. »Soll ich?« Und ehe sie sich versah, hatte sie einen lauten Schrei losgelassen, der quer über die Insel hallte. Sie erschrak über ihre eigene starke Stimme, genauso wie ein Schwarm Vögel, der von der nahen Baumgrenze aufflog.

    Im selben Moment klarte der Himmel auf und der Mond kam zum Vorschein. ­Sophie wandte sich der Bergkette zu, die in diesem Augenblick in Gold und Silbertönen zu glänzen begann, wie sie noch nie geleuchtet hatte. Der Ausschnitt, der ­Sophie zu sehen gegönnt war, wurde immer größer, sie sah drei zackige Berggipfel, die eine mächtige Gletscherzunge in ihrer Mitte umrahmten. Die Überraschung verschlug ihr im ersten Moment den Atem, noch nie war sie von diesem Anblick so hingerissen gewesen. Zum ersten Mal begann sie zu verstehen, warum so viele Menschen nahezu gierig danach wurden, unbekannte Berggipfel zu besteigen. Doch das Mondlicht erleuchtete in dieser Nacht nicht nur die Felsformationen in der Ferne. Auch die Steinbohne, auf der es sich ­Sophie gemütlich gemacht hatte, wurde von einem Lichtkegel erfasst. Direkt über ihr hatte sich fast kitschig ein Wolkenloch aufgetan. Dunkelgraue und weiße Schwaden glitten auseinander und ließen den mächtigen Stein silbrig glimmern. Doch ­Sophie hatte nur Augen für die burgunderroten Schlieren, die den Fels durchzogen. »Farbe«, dachte sie, »endlich Farbe.«

    3

    Sophie! Aufstehen! Du musst raus, es ist schon spät!« ­Sophie hörte ihre Mutter rufen und an die Türe klopfen. So gerne hätte sie sich noch einmal umgedreht und einfach weitergeschlafen. Warum konnte heute nicht Sonntag sein?

    »­Sophie! Bist du wach?«, setzte Mira nach.

    »Ja, komme schon!«, maulte ­Sophie genervt zurück. Sie raffte sich auf, schlüpfte in die schlampig hingeworfenen Sachen von gestern, band ihre Haare zurück und unterzog sich einer hektischen Katzenwäsche. Der prüfende Blick in den Spiegel beim Hinausgehen versprach nichts Gutes, doch das war ihr egal. »Meine Prioritäten liegen woanders«, murmelte sie, als sie sich das Frühstücksbrot und ihren Rucksack schnappte.

    »Brauchst du noch was?«, Mira sah kurz von ihrer Zeitung auf, ihr Blick war abwesend, sie hatte wohl wieder kaum geschlafen.

    »Nein, alles okay. Ich muss los! Tschüss!«

    »Tschüss, mein Schatz, mach’s gut!«

    Ihre Mutter so erschöpft zu sehen versetzte ­Sophie einen Stich ins Herz, auch wenn sie sonst oft wütend darüber war, dass sie sich mit allem so verausgabte. Vom perfekten Frühstück für die Kinder in die Arbeit, stundenlang anderen beim Problemelösen helfen, Mittagessen kochen, zu Vater in die Klinik, mit Jonas lernen und so weiter. Zeit zum Durchschnaufen gab es praktisch nie. Wie gern erinnerte sich ­Sophie zurück, als sie ganze Sonntage gemeinsam

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