Das Riesling-Ritual: Ein Baden-Württemberg-Krimi
Von Sigrid Ramge
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Über dieses E-Book
Auf der Suche nach dem Mörder vom Eugensplatz stoßen Kriminalhauptkommissar Schmoll und sein Team auf einen skurrilen Verdächtigen nach dem anderen. Nachdem schließlich ein Geständiger verhaftet worden ist, scheint der Fall gelöst. Aber da kommt ein junger Mann auf mysteriöse Weise ums Leben. Irma ahnt als Einzige Zusammenhänge zwischen den beiden Todesfällen und ermittelt auf eigene Faust. Ihre Nachforschungen führen sie bis nach Sizilien …
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Buchvorschau
Das Riesling-Ritual - Sigrid Ramge
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Eins
Weihnachtlicher Dienstausklang
Im Morddezernat des Stuttgarter Polizeipräsidiums verlief der Vormittag des Heiligen Abends ruhig. Es gab keinen akuten Fall, der Hauptkommissar Peter Schmolls Team aus der wohlverdienten Ruhe hätte aufscheuchen können. Kurz vor Feierabend saßen sie im Chefbüro beim Kaffee und naschten aus einer altmodischen Riesendose von den zwölferlei selbstgebackenen Weihnachtsguatsle, die Kommissar Katz’ Großmutter spendiert hatte. Die junge Kommissarin Irma Eichhorn, die aus Norddeutschland stammte, hatte sich in den drei Jahren, die sie zum Morddezernat gehörte, so gut bei den Schwaben eingewöhnt, dass ihr das Wort Guatsle, wie man hier die Plätzchen nennt, so auf der Zunge zerging wie die Guatsle selbst. Mit vollen Backen blickte sie aus dem Fenster über die kahlen Weinberge hinunter auf Feuerbachs verkehrsreichste Kreuzung, den Pragsattel.
»Es nieselt immer noch«, sagte Irma. »Wer in den Schwarzwald zum Wintersport will, hat Pech gehabt.«
»I ben froh, dass koin Schnee liegt«, sagte Katz. Er biss einem Zimtstern die Zacken ab, streckte seine dünnen Beine von sich und zupfte nachdenklich an seinem Lippenbärtchen. »Da ka mei Oma wenigschtens net ins Rutsche komma. Mit vierondachtzig sollt mr sich net die Knocha brecha.«
»Aber Guatsle kann sie backen wie ein Weltmeister«, sagte Hauptkommissar Schmoll und streichelte sein Feinkostgewölbe, das den Pullover ausbeulte.
Der Bauch passte zu seiner Statur, die alle seine Mitarbeiter klein aussehen ließ. Während er nun ebenfalls ins regnerische Treiben vor dem Fenster sah, verwandelte sich seine Stirn samt Glatze in Wellblech.
Er griff geistesabwesend in die Guatsledose, steckte sich ein zuckergussüberzogenes Lebkuchenherz zwischen die kräftigen Zähne und nuschelte: »In der Zeitung steht, wir hätten bisher den fünftwärmsten Winter seit den Wetteraufzeichnungen von 1881!«
Irma entgegnete: »Aber der Wind bringt es seit ein paar Tagen auf Orkanstärke. Ich komme mir vor wie in Norddeutschland. Meine Mutter behauptete gestern am Telefon, man wird in Hamburg fast von der Straße geweht.«
»Ich denk, die Mama wohnt in Itzehoe?« Schmoll sagte wie immer »Itzehö«.
Irma hatte es sich längst abgewöhnt, ihn zu korrigieren, gab ihm aber die gewünschte Auskunft: »Meine Mam feiert Weihnachten mit dem galanten Kai-Friedrich aus Hamburg, von dem ich euch erzählt habe. Er ist immer noch ihr Favorit. Ich bin froh, dass sie so etwas Solides gefunden hat.«
»Solid und guet bei Kass«, ergänzte Katz und verdrehte seine treuherzigen braunen Dackelaugen vielsagend zur Decke.
Irma zuckte mit den Schultern, warf ihre rotbraune Lockenmähne in den Nacken und sagte grinsend: »Jedenfalls ist er kein sparsamer Schwabe.«
»Das saß«, sagte Schmoll und warf bedächtig vier Stück Würfelzucker in seinen Kaffee.
Er kannte zwar diesen soliden Kai-Friedrich nicht, aber er und auch Katz kannten Mama Eichhorn von einem gemeinsamen Ausflug auf den Feuerbacher Lemberg. Bei dieser Wanderung waren sie über eine Leiche gestolpert, die die Mordkommission in Atem gehalten hatte.
Eine halbe Stunde später wünschten sich Schmoll, Katz und Irma schöne Weihnachten und machten sich auf den Heimweg.
Irma freute sich auf ihren Freund Leo, Katz auf seine Freundin Ina, mit der er bei seiner Oma feiern würde. Schmoll schob freiwillig Bereitschaftsdienst, weil er niemanden hatte, mit dem er feiern konnte. Es war das dritte Weihnachten, das er ohne Karin, die ihm kurz vor der Silberhochzeit davongelaufen war, verbringen musste.
Zwei
Turtelurlaub und Mama Eichhorn
Für Irma war das Jahr 2011 turbulent gewesen. Erst hatte sie der Mord am Feuerbacher Lemberg in Atem gehalten, und als der endlich aufgeklärt war, folgten sofort anstrengende Tag- und Nachtschichten wegen weiterer schwieriger Fälle. Außerdem musste sie ihr Privatleben neu gestalten. Ihr Freund Leo hatte seinen Job als Fitnesstrainer aufgegeben und seinen Wohnsitz von Mallorca zurück nach Stuttgart verlegt. Seitdem unterrichtete er an der Bismarckschule in Feuerbach Sport und Geschichte. Obwohl Irma sich danach gesehnt hatte, Leo in der Nähe zu haben, war der Schritt aus ihrem gewohnten Single-Leben in die Zweisamkeit nicht einfach gewesen. Leo war im Herbst bei Irma in der Thomastraße eingezogen. Irmas Wunschvorstellung von einer größeren gemeinsamen Behausung ließ auf sich warten. Trotz aller Liebe wurde es in ihrer kleinen Wohnung ziemlich eng. Im Gegensatz zu Irma gefiel Leo das, jedenfalls machte er keine ernsthaften Versuche, für sie beide eine größere Wohnung zu finden.
»Nächstes Jahr«, sagte er fast jeden Abend zu Irma und verteilte zwischen jedem Wort kleine Tupferküsse auf die Sommersprossen in ihrem Gesicht, »nächstes Jahr suchen wir uns eine Wohnung zwischen den Weinbergen in Halbhöhenlage und gucken jeden Abend runter auf die Lichter Stuttgarts oder in den Sternenhimmel. Und zwischendurch …«
Irma entließ einen Glücksseufzer und genoss seine Liebkosungen. Im Bett war der Platzmangel in der Wohnung kein Problem.
In den letzten Tagen des alten Jahres verlebten sie gemeinsame Urlaubstage. Weder Irma noch Leo hatten ihre Ferien je daheim verbracht. Nun machten sie die arbeitsfreien Tage zu Flitterwochen. Sie kamen morgens nicht aus den Federn, bekochten sich gegenseitig und machten weite Spaziergänge, die bei dem sonnigen Wetter vermehrt Frühlingsgefühle auslösten. Eifrig erkundeten sie die Gegend um Stuttgart und nebenher sich gegenseitig. Sie wanderten von Schloss Solitude zum Bärenschlössle und über den Feuerbacher Höhenweg zum Kotzenloch, in dem voriges Jahr die »Lemberger Leiche« gelegen hatte.
An einem Vormittag, an dem ein blauer Himmel und eine strahlende Sonne den Dezember verspotteten, entschlossen sie sich zu einem Ganztagsausflug. Zuerst fuhren sie mit der Straßenbahn quer durch Stuttgart nach Obertürkheim. Dort begann der Weinwanderweg durch die schönsten Reblagen Stuttgarts, der hinauf nach Uhlbach führte.
Auf halber Strecke überholte sie ein schnittiger Sportwagen, der ihnen schon in Obertürkheim aufgefallen war, wo er vor einem Appartementhaus gestanden hatte.
»Ein echter Porsche«, sagte Leo ehrfurchtsvoll, während der knallrote Flitzer in unerlaubt flottem Tempo die nächste Kurve nahm.
»Nur kein Neid«, sagte Irma, die mit Autos nicht viel am Hut hatte. »Ich verstehe nicht, wieso jemand bei so schönem Wetter in einem Luxusschlitten spazieren fährt, anstatt zu wandern.«
Leo grinste und legte einen Schritt zu: »Vielleicht sind die beiden, die in dem Flitzer saßen, nicht so fit wie wir!«
»So stolz, wie die ihr Köpfchen gehalten hat, damit ihr Kopftuch malerisch im Fahrtwind flattern konnte, sah sie nicht aus, als ob sie gehbehindert wäre – und der Kerl mit seiner affigen Rennfahrermütze auch nicht.«
»Vielleicht hat er eine Glatze und friert ohne Mütze«, schlug Leo vor.
»Kann sein.«
Nach einer Stunde kamen sie in Uhlbach an. Vor dem Gasthaus »Beim Hasenwirt« stand der rote Porsche.
Leo studierte die ausgehängte Speisekarte und sagte: »Wenn wir uns schon keinen Porsche leisten können, so haben wir doch immerhin genug Knete, um hier einzukehren.«
Im Gastraum entdeckte Irma an einem Tisch in einer hinteren Ecke den Porschefahrer. Ohne seine Rennfahrermütze sah er mit seinen kurzen Locken und dem griechischen Profil unglaublich gut aus. Die Frau hatte das Kopftuch abgelegt und offensichtlich nach der flotten Fahrt schon ihr Make-up und ihre halblangen, glatten, blonden Haare in Ordnung gebracht.
Als die zwei später Händchen haltend zum Ausgang gingen, stellte Leo fest: »Die beiden passen zu ihrem Porsche!«
Nach einem prüfenden Blick auf die beiden entgegnete Irma: »Sie ist mindestens fünfzehn Jahre älter als ihr Beau.«
Irma und Leo gönnten sich eine deftige Maultaschenmahlzeit und tranken dazu eine ganze Flasche Rotenberger Schlossberg. Eingestimmt und beschwingt vom Wein beschlossen sie, das Uhlbacher Weinbaumuseum zu besichtigen, und bestaunten eine Stunde lang die Ausstellung über 2000 Jahre Weinbaugeschichte. Danach ging es weiter über Serpentinenwege zwischen den Rebenreihen hinauf zum Württemberg. Die Weinstöcke hielten Winterschlaf. Ihre knorrigen Stämme regten Irmas Fantasie an.
»Sie stehen in Reih und Glied wie verhutzelte Soldaten, die gern losmarschieren würden, wenn sie nicht angebunden wären!«
Endlich erreichten sie das Weindorf Rotenberg. Seit Irma das erste Mal vor zwei Jahren die Grabkapelle mit der grünschimmernden Kuppel von weitem inmitten der Weinberge gesehen und ihr Schmoll von der Zarentochter Katharina erzählt hatte, nannte Irma dieses Tempelchen den schwäbischen Tadsch Mahal. Nun stand sie endlich davor, und die Kapelle erschien ihr aus der Nähe genauso märchenhaft wie aus der Ferne.
Nachdem sie und Leo die Freitreppe emporgestiegen waren, umrundeten sie das Gebäude. Bei dem Rundumblick auf Stuttgart und das Neckartal blieb ihnen buchstäblich die Luft weg.
Als sie später die Kapelle betreten wollten, stand der Porschefahrer vor dem Portal.
Seine Beifahrerin trat mit dem Fotoapparat zurück, zeigte affektiert auf die goldenen Lettern über dem Portal und las theatralisch die Inschrift: »Die Liebe höret nimmer auf.«
Nachdem sie den Schönen oft genug abgelichtet hatte, küsste sie ihn und hakte sich besitzergreifend bei ihm ein. Irma und Leo sahen ihnen nach, wie sie die Freitreppe hinunterschritten.
»Ein Porsche fahrendes Zarenpaar«, sagte Irma kichernd.
Als sie den Kuppelsaal der Kapelle betraten, sagte Irma begeistert: »Wie das Pantheon in Rom!«
Der Satz schwebte in die Kuppel und hallte dort feierlich nach. Die Akustik war so prägnant, dass Irma und Leo nur noch flüsterten, um die Zarentochter Katharina und ihren Gemahl König Wilhelm I., der ihr diese Kapelle auf dem Württemberg als ewigen Liebesbeweis hatte errichten lassen, nicht zu stören.
Dann war es Zeit, den Heimweg anzutreten. Sie marschierten durch Obstgärten und Weinberge über den Kappelberg nach Fellbach hinunter. Als sie dort ankamen, war es dunkel und sie fuhren mit der Straßenbahn nach Hause.
Leider ging Irmas und Leos Turtelurlaub abrupt zu Ende. Am vorletzten Tag des alten Jahres erhielt Irma die Nachricht, dass ihre Mutter gestürzt sei und im Hamburger Marienkrankenhaus läge.
Im Morgengrauen des Silvestertags rollte Irma im ICE gen Norden. Da sie keine Platzkarte mehr bekommen hatte, trat sie stundenlang von einem müden Bein auf das andere und hockte sich schließlich zu einer Jugendgruppe im Gang auf den Boden. Die Zeit vertröpfelte langsam und zäh, und Irma dachte wehmütig an die wanderfrohen Tage und wünschte sich sehnlichst in Leos Arme zurück.
Jedenfalls kam sie noch im Jahr 2011 in der orthopädischen Abteilung des Marienkrankenhauses an. Mama Eichhorn fand Irmas Blitzbesuch von Stuttgart nach Hamburg ganz selbstverständlich. Irma hielt Händchen, ließ sich geduldig alle blauen Flecken zeigen und spendete Trost, so gut sie konnte. Der Stationsarzt hatte ihr bereits gesagt, ihre Mutter habe sich bei dem Sturz mehrere Risse in der linken Hüftpfanne zugezogen. Eine Operation wäre nur zu umgehen, wenn das Bein mindestens ein Vierteljahr nicht belastet würde. Das heiße Rollstuhl und für kleine Wege Gehhilfen.
Da Mama Eichhorn nie ernsthaft krank gewesen war und außer bei einer Blinddarmoperation vor mindestens zwanzig Jahren nie im Krankenhaus gelegen hatte, empfand sie ihre Situation als hochgradig unerträglich und ungerecht. Sie stöhnte, drückte die Augen zu und den Kopf ins Kissen.
»Meine Güte, min Deern, Risse in der Hüftpfanne! Ich wusste ja nicht mal, dass ich so eine Pfanne habe. Und nun muss ich wegen diesem dämlichen Ding drei Monate im Rollstuhl sitzen!«
»Der Arzt sagt«, erklärte Irma, »wenn du das Bein belastest, drücke der Oberschenkel in deine angeknackste Pfanne und sie bricht ganz durch.«
»Bricht durch – Gottogott! So ein Gedöns aber auch!«, flüsterte Mama.
»Also, Mam, willst du nun eine aufwendige Operation auf dich nehmen oder mal eine Weile im Rollstuhl sitzen? Kai-Friedrich wird dich sicher gern spazieren fahren. Wo ist er überhaupt? War er bei dem Unfall dabei? Wie ist das denn eigentlich passiert?«
An dieser Stelle wurde Mama Eichhorns Nasenspitze so weiß wie ihr Kopfkissen.
Und während sie von der Katastrophe, wie sie es nannte, berichtete, machte sie lange Pausen und heulte wie ein Schlosshund. Mit Katastrophe meinte sie nicht etwa den Sturz und den Knochenbruch, vielmehr die Trennung von Kai-Friedrich.
Irma wusste, dass Kai-Friedrich Jansen ihrer lebenslustigen, leider leicht kleptomanisch veranlagten Mutter schon vieles verziehen hatte. Er war immer nobel gewesen, weil er in diese quirlige Frau, mit der man viel Spaß haben konnte, bis über seine fast siebzigjährigen Ohren verliebt war. Er hatte ihr sogar vergeben, dass sie voriges Jahr im Casino in Baden-Baden sein Geld verzockt hatte. Geld, das sie ihm überdies vorher geklaut hatte. Diesmal schien das Maß voll gewesen zu sein.
Mama Eichhorn lehnte ihren Kopf mit der wuscheligen Kurzhaarfrisur, deren Tizianrot sich malerisch von dem weißen Kissen abhob, gegen das hochgestellte Kopfteil ihres Krankenbettes und erzählte teils salbungsvoll, teils grimmig von dem Tag, an dem sich die Katastrophe ereignet hatte: Sie habe mit ihrem Kai-Friedrich in dessen Wohnung an der Elbchaussee ein sehr harmonisches, mit Liebe und Zukunftsplänen angereichertes Weihnachten gefeiert. Das milde Wetter, das auch in Hamburg die Schneeglöckchen aus der Erde trieb, war zwar von einigen Sturmtiefs begleitet, aber sowohl für kuschelige Stunden vor dem Kamin wie auch für gemeinsame Spaziergänge am Elbufer geeignet gewesen. Die glückliche Zweisamkeit sollte bis über Silvester fortgesetzt werden.
Doch zwei Tage vor diesem schicksalsträchtigen Silvestertag war Frau Eichhorn eingefallen, dass sie für die Silvesterfeier, zu der sie Kai-Friedrich in ein vornehmes Restaurant am Elbufer ausführen wollte, nichts Geeignetes anzuziehen hatte.
»Das verstehst du doch sicher, Irma: in ein Gourmet-Restaurant, wo vor der Panoramascheibe Kreuzfahrtriesen und historische Museumsschiffe auf der Elbe vorbeiziehen, wo lukullisch gespeist wird, später getanzt und um Mitternacht alle Gäste gemeinsam von der Terrasse aus dem Feuerwerk zuschauen – da muss man doch elegant sein!«
Mama Eichhorn war aus der Puste gekommen, doch ihre Augen hatten bei dieser Rückblende ihren Glanz zurückbekommen. Die hübschen grünen Augen mit den goldenen Pünktchen, die Irma geerbt hatte, funkelten in Gedanken an das verpasste Feuerwerk.
Doch Irma ließ sich nicht vom Thema ablenken und verlangte: »Komm zur Sache, Mam! Was ist passiert?«
Mama würgte einen Schluchzer runter, wobei ihre Augen an Glanz verloren, und nun erfuhr Irma, wie Kai-Friedrich mit seinem Helgahäschen zu Hamburgs gehobener Einkaufsmeile in die Möckebergstraße, die »Mö«, geeilt war, wo sie sich von internationalen Top-Marken hatten inspirieren lassen. Nachdem Dutzende festliche Kleider, Röcke und Blusen anprobiert worden waren, entschied sich Kai-Friedrich für einen sündhaft teuren Hosenanzug. Eine Bluse, die dazu passen würde, so versicherte Helga, besäße sie bereits. Während Kai-Friedrich bezahlte, verdrückte sich Helga Richtung Rolltreppe. Bevor sie diese jedoch erreicht hatte, wurde sie von einem gutaussehenden Herrn aufgehalten – der sich als Kaufhausdetektiv entpuppte.
Es gab keinen Zweifel: Helga Eichhorn hatte einen kleptomanischen Rückfall erlitten, und es nützte ihr nichts, zu beteuern, die Bluse, die sie unter ihrem Pulli trug, sei nach der Anprobe rein aus Vergesslichkeit dort zurückgeblieben.
Als Kai-Friedrich dazukam, rannte Helga in Panik davon, sprang auf die Rolltreppe, stürzte und blieb liegen, als die rollenden Stufen sie in der nächstunteren Etage heruntergeschoben hatten. Ein Loch im Kopf, ein Dutzend gut verteilte Blutergüsse und, wie sich später im Krankenhaus herausstellte, eine zerbrochene Hüftpfanne hatten Frau Eichhorns körperliche und kleptomanische Aktivität lahmgelegt. Die Ursache, die dazu geführt hatte, hatte wiederum Kai-Friedrichs Geduld lahmgelegt. Er hatte noch für Schadensbegrenzung und Krankentransport gesorgt und sich seither nie wieder bei Helga blicken lassen.
An diesem Punkt ihrer Beichte angelangt, stellte Mama Irma vor die Alternative: »Entweder, min lütt Deern, bleibst du hier in Hamburg, bis ich wieder aufn Damm bin, oder ich komm zu dir nach Stuttgart.«
Irma mietete sich ein Hotelzimmer in der Nähe des Krankenhauses. Als sie dort endlich zur Ruhe kam, überdachte sie Mamas Aussage: »Ich komme zu dir nach Stuttgart.«
Da Irma wusste, dass ihre Mutter hartnäckig durchsetzte, was sie sich vorgenommen hatte, wurde ihr bei dem Gedanken ziemlich unbehaglich. Sie nahm sich vor, noch ein, zwei Tage in Hamburg zu bleiben, und hoffte, in dieser Zeit ihrer Mutter diesen Plan ausreden zu können.
Auf ihrem Handy hatten sich Leos SMS angesammelt, und obwohl Irma todmüde war, rief sie ihn endlich zurück. Er saß bereits zusammen mit Steffen und Ina beim Silvesteressen in Oma Katz’ Wohnstube. Irma beneidete Leo, der sich bei der urigen Oma mit schwäbischen Köstlichkeiten vollstopfen konnte und einen lustigen Abend haben würde. Später würde er zusammen mit Steffen noch eine Runde mit Omas Mixmops Nutella drehen und nach Mitternacht würde Leo leicht beschwipst mit dem Nachtbus nach Hause fahren.
Irma erzählte Leo rasch vom Stand der Dinge, und dass sie frühestens am dritten Januar zurückkäme. Katz solle Schmoll Bescheid geben, dass sie mit Verspätung im Präsidium erscheinen würde. Von Mamas Drang, zu ihr nach Stuttgart zu kommen, erzählte Irma noch nichts.
Vor dem Hotelfenster tobte das Feuerwerk der Silvesternacht und raubte Irma bis gegen zwei Uhr früh den Schlaf. Als sie am Neujahrstag erwachte, brummte ihr Kopf, als hätte sie die Nacht durchgefeiert.
Während sie frühstückte und der Kaffee ihre Lebensgeister weckte, rief Leo an. Er erzählte von seinem fröhlichen Rutsch nach 2012 und wünschte ihr ein glückliches neues Jahr.
Bevor Irma gegen Mittag ins Marienkrankenhaus ging, rief sie noch Helene an. Helene Ranberg war Irmas beste Freundin, obwohl sie dreißig Jahre älter war als sie. Irma hatte Helene bei ihrem ersten Fall, den sie in Stuttgart mit Schmolls Team gelöst hatte, kennengelernt.
Helene, die Mutter des damaligen Mordopfers, hatte es Irma nicht vergessen, wie sie ihr beigestanden hatte, über den Verlust des einzigen Sohnes hinwegzukommen. Seither betrachtete Helene Irma wie ihre Tochter und zeigte großes Interesse an ihrer Arbeit. Obwohl Irma die wissbegierige Helene nur teilweise in ihre Ermittlungen einweihen durfte, hatte sich die pfiffige alte Dame schon ein paar Mal als Miss Marple bewährt.
Irma begann mit Neujahrswünschen. Als die getauscht waren, hatte Helene schon herausgehört, dass Irma irgendwo der Schuh drückte, und sie fragte, wo es brenne. Irma war froh, mit Helene über ihre Mutter sprechen zu können.
Abschließend sagte sie: »Stell dir vor, Helene, nach all dem Mist, den sie gebaut hat, sagte Mam zu mir: ›Entweder du bleibst bei mir oder ich komme zu dir nach Stuttgart!‹«
In der Leitung wurde es still und Irma spürte, wie Helene nachdachte. Dann aber hörte sie einen Seufzer durchs Handy und es folgte die sachliche Frage, ob Mama Eichhorn nach dem Krankenhausaufenthalt eine Rehabilitation verordnet bekäme.
»Der Arzt sagt, ich soll entscheiden, in welche Reha-Klinik Mam gehen soll.«
Nach dieser Auskunft hatte Helene eine Idee.
Irma harrte noch zwei Tage in Hamburg aus. Stundenlang saß sie am Krankenbett ihrer Mutter.
Wenn Irma von Abreise sprach, veranstaltete Mama jedes Mal ein mordsmäßiges Gejammer: »Du kannst mich in meinem erbärmlichen Zustand nicht alleine lassen, min Deern! Ich hab doch nur dich!«
Nach langen Debatten rückte Irma mit Helenes Idee heraus. Es wurde beschlossen, dass Mama die notwendige Rehabilitation in einer Klinik in der Nähe von Stuttgart absolvieren sollte.
Drei
Bad Urach
Irma musste einen kombinierten Transport aus Rollstuhl, Krankentaxi und Flugzeug von Hamburg nach Bad Urach organisieren. Und so kam es, dass ihre Mutter nach zehntägigem Krankenhausaufenthalt den Rest des Januars sowie den halben Februar in der orthopädischen Fachklinik Hohenurach verbrachte.
Irma versah ihre Tochterpflicht, indem sie, so oft sie konnte, die erwarteten Besuche abstattete. Da sie sich noch immer einem eigenen Auto verweigerte, zog sie, wie gewohnt, die Bundesbahn der Autobahn vor. Das war schon deswegen sinnvoll, weil dem Frühlingswetter, mit dem das Jahr 2012 begonnen hatte, Frost und Schnee gefolgt waren.
Von Stuttgart nach Urach war ein Katzensprung von nicht viel mehr als einer Stunde Fahrzeit. Zu diesen Pflichtausflügen startete Irma von Gleis 2 des inzwischen flügellosen Stuttgarter Hauptbahnhofs. Da dies immerhin noch oberirdisch möglich war, konnte sie im Schlossgarten die alten Baumriesen, jedenfalls jene, die bisher noch nicht gefällt worden waren, bewundern. Irma lehnte sich auf ihrem Fensterplatz der oberen Etage des Doppelstockwagens zurück und lernte ein neues Stück ihrer Wahlheimat kennen.
Wenn auf der Fahrt nach Urach die ersten Weinberge in Sicht kamen, hielt sie Ausschau nach der Kapelle mit der grünschimmernden Kuppel, die über dem Weindorf Rotenberg thront. Der Tag, an dem sie mit Leo dort oben gewesen war, schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Nach Esslingen verloren sich die Weinberge, und das Tal weitete sich zu Wiesen und Ackerland.
In Wendlingen stieg ein junger Mann zu und setzte sich Irma gegenüber. Sein rundes sympathisches Gesicht glänzte wie Zartbitterschokolade. Als er Irma anlächelte, lächelte sie zurück und hoffte, dass dies der Auftakt zu einem interessanten Gespräch über Nigeria, Kongo, Namibia oder einem anderen afrikanischen Land sein würde. Doch Irmas Hoffnung erfüllte sich nicht, da der junge Mann unverzüglich sein Handy zog und lospalaverte. Und zwar in einem Schwäbisch, gegen das Katz schon fast Hochdeutsch sprach.
Kurz bevor der Zug in Metzingen ankam, steckte der junge Mann sein Handy weg, sah mit verdrießlicher Miene aus dem Fenster und sagte vorwurfsvoll: »So en Mischt. Jetzt fängt’s scho wieder an