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Das ewige Lied: Fantasy-Roman
Das ewige Lied: Fantasy-Roman
Das ewige Lied: Fantasy-Roman
eBook315 Seiten4 Stunden

Das ewige Lied: Fantasy-Roman

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Über dieses E-Book

Dem Land Celane droht Krieg - und damit schlägt die Stunde der jungen Bardin Jayel. Gemeinsam mit Magier Daphnus bricht sie zu einer schicksalhaften Reise auf und erfährt von einer Prophezeiung: Fünf mächtige Kristalle könnten die zerstrittenen Völker vereinen und so Celane retten. Auf ihrer Suche nach den Kristallen entdeckt Jayel etwas in sich, das ihr und ihrem Volk helfen könnte - das Ewige Lied.
Böse Mächte, tiefe Liebe, magische Spannung - das Ewige Lied ist ein klassisches Fantasy-Abenteuer und enthält alles, was Fantasyleser lieben.
SpracheDeutsch
Herausgebermainebook Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2014
ISBN9783944124346
Das ewige Lied: Fantasy-Roman

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    Buchvorschau

    Das ewige Lied - Tanja Bruske

    Entscheidung

    1: Blaue Tinte

    „Jayel! Jayel! Aufwachen! Das junge Mädchen hielt die Augen fest geschlossen und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Sie ignorierte das Geschrei ihres Bruders in der Hoffnung, noch einige Minuten Frieden zu haben. Und wirklich, die Stimme ihrer Mutter sagte deutlich: „Nun lass sie doch noch ein bisschen schlafen, Grat. Morgen muss sie schon wieder fort. Jayel seufzte und drehte sich auf die andere Seite. Genau das war der Grund, warum sie noch ein bisschen Zeit für sich allein wollte. Sie streckte sich und spürte den kratzigen Stoff der Bettdecke auf ihrer nackten Haut. Vorsichtig blinzelte sie in das Sonnenlicht, das durch die zugezogenen Vorhänge in die kleine Kammer fiel. In dem entstandenen Halbdunkel konnte Jayel die wenigen Einrichtungsgegenstände erkennen: das Holzbett, auf dem64 sie lag, den nicht übermäßig großen, aber doch geräumigen Schrank an der Wand, gegenüber ein gut gefüllter Bücherschrank und daneben stand eine aufgeklappte Reisetruhe, die Jayel höhnisch anzugrinsen schien. Das Mädchen zog sich rasch die Decke über den Kopf wie ein kleines Kind, das böse Geister zu vertreiben versucht. Dabei wusste sie genau, dass sie der Truhe nicht entkommen konnte. Schon morgen musste sie wieder fort…

    Jayel starrte die weiße Bettdecke dicht über ihren Augen an und atmete den Duft von Kräutern ein. Ihre Mutter legte kleine Beutel mit Kräutern immer zwischen die frisch gewaschenen Laken, damit sie besser rochen. Jayel liebte diesen Geruch, denn er bedeutete Sicherheit, Frieden und Fürsorge für sie. Sie nahm sich vor, einen dieser Beutel in ihre Truhe zu packen.

    „Jayel! Jetzt hast du aber wirklich lange genug geschlafen! Steh endlich auf!", ließ sich nun die Stimme ihrer Mutter vernehmen. Unwillig räkelte sich das Mädchen ein letztes Mal in den Laken und setzte sich schließlich auf.

    „Jayel! Hast du nicht gehört?"

    „Ja, Mutter! Ich komme gleich!" Die klare und glockenhelle Stimme des jungen Mädchens hallte durch das Haus, und ihre Mutter wandte sich lächelnd wieder ihrer Arbeit zu.

    Oben in ihrem Zimmer schwang sich Jayel mehr oder weniger munter aus dem Bett. Sie schlang sich ein Seidentuch um den zierlichen Körper und trat ans Fenster. Vorsichtig schob sie die Gardinen ein wenig auseinander und blickte hinaus in den sonnigen Tag. Es bestand nur geringe Gefahr, dass jemand das Mädchen in diesem doch recht unziemlichen Aufzug am Fenster sehen könnte – es sei denn, ein Bediensteter hielt sich zu dieser Zeit im elterlichen Garten auf. Aber im Haushalt gab es nur die dicke Köchin Tilde und den alten Diener Chrisofus, und beide kannte Jayel seit sie ein kleines Kind war. Weitere Angestellte konnten sich Jayels Eltern nicht leisten, denn auch wenn Peer Ysternas Handelskontor gut lief und einen bürgerlichen Lebensstandard ermöglichte, so war die Familie doch nicht reich, aber wohlhabend.

    Auch der Garten, auf den Jayel nun herabblickte, drückte dies aus. Überhaupt einen Garten zu besitzen, war in einer Stadt wie Uhlenburg ein Zeichen von Wohlstand. Doch die kaum zehn Schritte durchmessende Anlage hatte weder einen Pavillon noch Wasserspiele zu bieten, war also nicht für größere Gesellschaften geeignet. Peer Ysternas empfing seine Gäste im Speisezimmer, direkt neben der Küche, und selbst dann konnten nur etwa fünf Gäste anwesend sein, wenn auch die Familie am Essen teilnehmen sollte.

    Den Göttern sei Dank kamen solche Geschäftsessen nur etwa zweimal pro Monat vor, und während ihres Aufenthaltes zu Hause war Jayel bis jetzt eine solche Zusammenkunft erspart geblieben.

    Jayel blinzelte zum Himmel hinauf. Die Sonne stand schon sehr hoch, sie musste sich nun wirklich beeilen, wenn sie noch auf den Markt wollte, ehe die Händler ihre Marktstände zur Mittagszeit schließen würden. In Uhlenburg war es in der Sommerzeit durchaus üblich, in den Mittagsstunden das Handwerk niederzulegen und zu ruhen, wenn die Hitze das größte Ausmaß des Tages erreicht hatte.

    Jayel reckte sich noch ein bisschen und versuchte, über die hohe Mauer zu blicken, die das Anwesen der Familie Ysternas umschloss, doch sie konnte nur die Dächer der dahinter liegenden Häuser sehen – Bürgerhäuser, wie das ihre. Familie Ysternas lebte in einer „anständigen Gegend, wie ihre Mutter das nannte. Ruhig, friedlich – und langweilig. Das junge Mädchen seufzte erneut. „Wenn ich nur selbst wüsste, was ich will, murmelte sie vor sich hin. „Hier zu öde, sie warf einen Blick auf die Truhe, „… und da..? Sie zögerte noch für einen Augenblick, schloss dann jedoch energisch die Vorhänge und drehte sich um. Sie öffnete ihren Kleiderschrank und ließ ihren Blick über die nicht geringe Anzahl von Gewändern schweifen, die sich darin befanden. Alle waren einfach geschnitten, aber sauber, ordentlich und modisch genug für eine junge Kaufmannstochter, die das Haus ihres Vaters repräsentieren musste. Suchend glitt Jayels Blick über die bunten Stoffe, ehe sie die Gewänder erblickte, die sie in den vergangenen sieben Jahren am häufigsten getragen hatte. Noch war es das schlichte Braun einer Akolythin, doch schon bald…

    Jayel schob den Gedanken beiseite. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie vollkommen versessen darauf gewesen, das leuchtende Blaugrün, das nur einer ausgebildeten Bardin zustand, tragen zu dürfen. Doch je näher ihre Abschlussprüfung rückte, umso unsicherer wurde sie.

    Jayel schüttelte den Kopf. Der heutige Tag blieb ihr, ehe sie zurückkehren musste, und diesen Tag wollte sie ausgiebig genießen. Entschlossen griff sie nach einem dunkelroten Stadtkleid und begann, sich anzuziehen.

    „Es wird aber auch Zeit, dass du dich blicken lässt, junge Dame! sagte Tria, als sie die Schritte ihrer Tochter auf der Treppe hörte. Sie stand am Herd und überwachte mit prüfenden Blicken ihre Köchin, die gerade Brot buk. Ihre Worte mochten tadelnd klingen, doch der strahlende Blick und das Lächeln, das sie Jayel schenkte, bewiesen, dass sie es nicht so meinte. Jayel lächelte zurück. Ihre Mutter verhätschelte sie immer, wenn sie in der studienfreien Zeit ins Elternhaus zurückkehrte. Deswegen konnte sie sich auch kleine Sünden ihr gegenüber erlauben. Jayels Bruder Grat hingegen blickte sie mürrisch an: „Warum musst du immer so trödeln? Deinetwegen werde ich zu spät ins Kontor kommen! Jayel riss überrascht die Augen auf. „Meinetwegen?, rief sie. „Aber warum denn?

    Grat schnaufte: „Na, weil ich dich Küken doch auf den Markt begleiten muss."

    „Musst du nicht!, stellte Jayel richtig und verdrehte die Augen. „Ich bin sehr gut fähig, alleine auf den Markt zu gehen. Du wirst es kaum glauben, aber ich bin mit meinen achtzehn Sommern doch tatsächlich schon ein paar Mal auf dem Markt gewesen, ohne einen Aufpasser dabei zu haben. Also lass dich nicht aufhalten und geh ruhig ins Kontor!

    Bei den letzten Worten hatte Jayel bereits Grats Hut und Mantel gepackt und ihm beides in die Hand gedrückt.

    Grat protestierte: „Aber Jayel, du bist schließlich kein kleines Kind mehr. Wenn dir nun etwas passiert…"

    „Wir sind hier in Uhlenburg, vergiss das nicht! Hier passiert nie etwas, erinnerte ihn Jayel und schob ihn behutsam Richtung Ausgangstür. „Im Übrigen gehe ich auch in Farseth alleine auf den Markt, und bisher wurde ich weder entführt noch ermordet.

    „Natürlich, die feine Dame muss wieder mal darauf herumreiten, dass Sie die Hauptstadt wie ihre Westentasche kennt, spottete Grat und arbeitete sich wieder einige Zentimeter von der Tür weg. Während dieses Wortgefechtes bemerkten weder Grat noch Jayel die amüsierten Blicke, die Tria und Tilde hinter ihrem Rücken austauschten. Schließlich fiel Grats Blick auf die Hausherrin: „Nun sag doch auch mal etwas, Mutter!

    „Was soll ich denn sagen?, gab Tria lachend zur Antwort. „Jayel hat schon recht, sie war ja wirklich schon hundert Mal alleine auf dem Markt. Ich denke, dass du und dein Vater euch wieder zu viele Sorgen macht!

    „Aber Mutter..!"

    „Da siehst du es, fiel Jayel ihrem älteren Bruder ins Wort und begann erneut, ihn zur Tür zu schieben. „Sogar Mutter ist auf meiner Seite. Geh jetzt ins Kontor und sag Vater einen schönen Gruß.

    „Aber Vater hat gesagt, ich soll blaue Tinte mitbringen!"

    „Ich besorge sie und bringe sie euch auf dem Rückweg vorbei!" Rums, die Tür war zu. Schnaufend drehte sich Jayel um und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen, den zuvor Grat belegt hatte.

    „Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?", beschwerte sie sich bei der Welt im Allgemeinen und bei ihrer Mutter im Besonderen. Tria hatte sich mittlerweile wieder dem Brotteig zugewandt und testete kritisch dessen Konsistenz.

    „Du weißt doch, wie er ist, gab sie etwas zerstreut zurück und wies die Köchin an, noch etwas Mehl hinzuzufügen. Dann drehte sie sich zu Jayel um: „Er macht sich eben Sorgen, genau wie dein Vater. Du warst so lange weg, dass die beiden einfach nicht mitbekommen haben, wie aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau geworden ist. Tria seufzte. „Ich gebe zu, auch mir ist da so einiges entgangen…" Jayel schwieg dazu. Sie hatte ihr Elternhaus mit 12 Sommern verlassen, ihre Ausbildung begonnen und seitdem ihre Familie nur zweimal im Jahr für wenige Wochen gesehen. Auch sie war ein wenig erschrocken darüber, in ihrem nur ein Jahr älteren Bruder nicht mehr den schlaksigen Spielkameraden vorzufinden, sondern den jungen Erben eines erfolgreichen Handelskontors.

    Jayel blieb auch stumm, während sie ihren Gerstenbrei löffelte. Erst nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatte, ergriff sie wieder das Wort: „Ich gehe jetzt gleich los auf den Markt, um noch ein paar Dinge für die Reise zu besorgen. Und danach bringe ich die Tinte ins Kontor."

    „Mach das, meine Liebe. Dein Vater hat die Tinte schon letzte Woche beim Händler geordert und bezahlt, sie müsste also fertig sein. Sei bitte vorsichtig damit, denn sie ist selten und musste extra bestellt werden. Jayel wunderte sich, denn Extravaganz gehörte eigentlich nicht zu den Eigenschaften ihres Vaters. „Ist sie denn sehr teuer? erkundigte sie sich.

    Tria lachte: „Oh nein, du kennst doch deinen Vater. Er ist ein praktisch denkender Mensch. Teuer ist sie nicht, ein Alchemist hat nur irgendetwas hinzugefügt, das diese Tinte besonders haltbar macht. Ein Kunde deines Vaters ist daran interessiert, diese Tinte zu kaufen. Und falls das Geschäft klappt, wird die Tinte wohl wirklich teuer werden…"

    Jayel seufzte. Wieder einmal Kaufmannsangelegenheiten, von denen sie kein Wort verstand. Manchmal hatte sie das Gefühl, überhaupt nicht in die Familie zu passen. Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater entstammten Kaufmannsfamilien und hatten einen tiefsitzenden Sinn fürs Geschäft geerbt, den sie auch an Grat weitergegeben hatten. Nur Jayel konnte mit Zahlen und Verhandlungen nichts anfangen. Sie hatte schon ernsthafte Mühe, auf dem Markt zu feilschen.

    Jayel griff nach einem Korb und einem Umhängetuch und wollte die Küche verlassen. „Ach, Jayel, hörte sie da die Stimme ihrer Mutter und drehte sich nochmals um. Tria warf ihr einen warnenden Blick zu. „Versuch bitte, nicht wieder in Schwierigkeiten zu geraten, mahnte sie.

    „Aber Mutter, protestierte Jayel, „du weißt doch, dass es die Schuld dieses Müllers war, er wollte mich einfach nicht in Ruhe lassen.

    „Ich kenne deine Version der Geschichte, unterbrach Tria ungeduldig. „Aber der Vater des jungen Hinrich ist immerhin ein guter Kunde deines Vaters, und er wollte wohl nur höflich sein … ihr Götter, jetzt reden wir schon wieder von dieser Geschichte! Was ich eigentlich sagen wollte, Tria lächelte jetzt, „versuche einfach, dich wie eine junge Dame zu benehmen! Wenn dich junge Männer ansprechen, dann lass sie abblitzen, anstatt ihnen eins auf die Nase zu geben, verstanden?" Wortlos drehte sich Jayel um und verließ das Haus. Ihre Mutter sah ihr nachdenklich hinterher.

    Vor dem Elternhaus verbeugte sich Jayel noch rasch vor dem kleinen Altar des Janos. Ihr Vater hatte den Altar errichten lassen, denn Janos war der Gott, der von Familie Ysternas verehrt wurde und als Schutzherr des Handels galt. Tria betete außerdem zu Gareta, der Mutter. Und auch wenn Jayel mittlerweile dazu übergegangen war, der Göttin Lyria, der Göttin des Wortes, zu opfern – denn als Bardin wurde sie gleichzeitig als Priesterin der Lyria angesehen – so brachte sie den Göttern ihrer Kindheit doch Ehrerbietung entgegen. Nachdem sie für Janos ein kleines Räucherstäbchen entzündet und um seine Unterstützung bei den vor ihr liegenden Einkäufen gebeten hatte, setzte Jayel ihren Weg fort.

    Zum Markt war es nicht sonderlich weit, doch das junge Mädchen kam nur langsam voran. Die Straßen waren sehr belebt. Obwohl Uhlenburg nur eine Provinzstadt war, so hatte sie doch als Marktflecken einen durchaus respektablen Ruf und stellte im Umkreis von fünf Tagesreisen die einzige Möglichkeit dar, nicht nur an gewöhnliche Handelswaren, sondern auch an seltenere Gewürze, Stoffe und sogar an Papier heranzukommen.

    Das Handelskontor der Familie Ysternas war eines von sechs großen Kontoren in Uhlenburg, hinzu kamen noch unendlich viele kleinere Händler und natürlich einige Spezialgeschäfte wie die verschiedenen Schmieden, Kräuterläden, das Geschäft des Alchimisten Grinabald und sogar ein Laden für magische Artefakte hatte seinen Platz in Uhlenburg gefunden. Dort kauften zumeist Durchreisende, obwohl Winnifried, die Inhaberin, allerlei Gewinn mit kleinerem Schnickschnack zu machen wusste. Junge Damen besorgten sich bei ihr Liebeszauber, um ihren Auserwählten an sich zu binden, junge Männer kauften Amulette, um ihre Kampfkraft zu mehren. Jayel allerdings hielt diesen Plunder für Unsinn und lachte darüber. Magie, so war sie sich sicher, konnte nur von Meistern dieses Handwerks gebraucht werden – und Winnifried verkaufte zwar die nötigen Zutaten, war selbst jedoch mit Sicherheit nicht zauberkundig. Jayel wusste, dass dazu ein bestimmtes, ererbtes Talent nötig war, und sie war sich ziemlich sicher, dass die dicke Winnifried es nicht besaß.

    Jayel genoss es, durch die kopfsteingepflasterten Straßen von Uhlenburg zu gehen. Als kleines Mädchen hatte sie sich häufig zwischen den alten Fachwerkhäusern herumgetrieben, hatte sich in den engen, verwinkelten Gassen versteckt und heimlich die Menschen beobachtet – wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, sich mit den Freunden ihres Bruders zu prügeln. Jayel war zierlich, aber zäh, und sie genoss eine gewisse Achtung unter den kleinen Jungen der Stadt. Diesen Respekt musste sie mit manch blutiger Nase bezahlen. Tria hatte einige Male die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie ihr kleines Mädchen abends in zerzaustem Zustand in Empfang nahm. Als Jayel älter wurde, zog sie sich mehr und mehr in sich zurück. Sie merkte, dass ihr Bruder und dessen Freunde anderes im Sinn hatten als sie.

    Ihr Lieblingsplatz wurde damals der alte Glockenturm am Marktplatz. Dort gab es einen Mauervorsprung, in dem einst ein Krähenpaar genistet hatte. Von dort aus hatte Jayel einen wunderbaren Blick über den Marktplatz und einige angrenzende Straßen, blieb dabei selbst jedoch ungesehen. Viele Reisende kamen auf ihrem Weg durch Uhlenburg, und Jayel verbrachte viel Zeit damit, sich Geschichten über die Unbekannten auszudenken. Lächelnd erinnerte sich das Mädchen an eine in Pelze gehüllte Dame, die sie mehrere Tage lang fasziniert verfolgt hatte. Jayel war damals fest davon überzeugt gewesen, dass es sich um die Kaiserin handelte. Heimlich war sie ihr auf dem Markt hinterher geschlichen, einmal sogar auf das Dach des Schuppens geklettert, der neben ihrer Herberge stand. Wie groß war ihre Enttäuschung, als sie herausfand, dass die Frau nicht die Kaiserin, sondern nur die Gemahlin eines reichen Kaufmannes war. Damals war in der kleinen Jayel der Wunsch erwacht, eines Tages der echten Kaiserin gegenübertreten zu dürfen.

    Als Jayel am Marktplatz ankam, herrschte Hochbetrieb. Vor den Verkaufsständen drängten sich die Menschen dicht an dicht. Es ging eifrig hin und her, und in der Stadt hallte ein lautes Sprachgewirr. Uhlenburg war unter anderem deshalb zu einem bedeutenden Handelsort geworden, weil es direkt an der Reiseroute lag, die das Land Celane mit den südlichen Reichen verband. Die Großkaiserin Cwell hatte ihren Palast in der Hauptstadt Farseth, die weiter im Norden lag, und über die „Hohe Straße", die direkt an Uhlenburg vorbeiführte, reisten nicht nur Händler und Abenteurer, sondern auch die kaiserlichen Diplomaten. Die Verbindung in die südlichen Reiche war politisch gesehen eine der wichtigsten, wie Jayel gelernt hatte. Denn die Länder, die Celane im Norden, Osten und Westen umschlossen, waren seit Jahrzehnten friedlich gesinnt. Die östlichen Reiche unter der Herrschaft des Weisen Lei betrieben ausgleichende Politik mit allen anderen Ländern. Früher waren sie ein kriegerisches Volk gewesen, doch schon seit Jahrhunderten führte es ein zufriedenes Leben mit Ackerbau, Handel - und reichsinternen Intrigen. Jayel hatte davon gehört, denn der Broterwerb eines Barden bestand darin, solche Gerüchte weiterzutragen.

    Die Eisländer im Norden waren weniger aufregend. Der einzige Grund, warum sie niemand erobern wollte, lag darin, dass es dort nichts zu holen gab. Unendliche, kahle Steppe, so hieß es. Zwar gab es dort Menschen, doch sie lebten in kleineren Gruppen zusammen und zogen als Nomaden durch die karge Landschaft. Jayel konnte sich das Leben in dieser Einöde nicht recht vorstellen, doch irgendetwas musste es schließlich geben, das die Menschen dort hielt.

    Aquien im Westen schließlich war ein Meeresreich. Die Grenze zu Celane war das Meer. Ob es auf der anderen Seite ein Ufer gab, wussten wahrscheinlich nur die Bewohner Aquiens selbst. Sicher, es gab dort Menschen, die auf kleineren Inseln lebten. Regiert wurde das Land allerdings von den Aquanten. Jayel hatte noch niemals einen Aquanten gesehen. Fast niemand hatte das. Nur die Botschafter der Kaiserin kannten die Bewohner von Aquien, denn Großkaiserin Cwell unterhielt gute Beziehungen zu König Zash, dem Herrscher der Aquanten. Cwell bemühte sich überhaupt, gute Beziehungen zu allen Reichen zu halten, die sie umgaben – doch bei den südlichen Reichen war dies nicht so einfach, denn Ilbatan und Balenndi lagen im Streit. Ursprünglich waren beide Reiche eins gewesen, ehe sich die beiden Völker wegen eines Erbstreites entzweit hatten. Großkaiserin Cwell versuchte nun zu vermitteln. Deswegen hatte die „Hohe Straße" in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen und Uhlenburg zum Aufschwung verholfen.

    Der Herzog von Uhlenburg gewährte regelmäßig den Diplomaten des Königs Nachtquartier, und Händler aus dem Süden nutzten den Markt, um ihre Waren feil zu bieten. Da Ilbatan und Balenndi versuchten, ihre Preise gegenseitig zu unterbieten, lief der Handel sehr gut.

    Jayel sah sich an den unterschiedlichen Ständen um. Es war nicht sonderlich viel, was sie brauchte: neue Sandalen und einen Umhang, ein paar Kerzen und etwas Seife. Außerdem Proviant für die Reise, also Brot, Dörrfleisch und getrocknetes Obst.

    Nachdem Jayel die erforderlichen Dinge erworben hatte, betrachtete sie noch eine Weile eine hübsche Gewandnadel, die ihr gefiel. Doch 15 Goldmünzen erschienen ihr als Preis zu hoch, und so ignorierte sie die Beteuerungen des Händlers, der Stein sei ein echter Meeresrubin aus Aquien, und machte sich auf den Weg zum Alchemisten, um die Tinte ihres Vaters abzuholen.

    Grinabald stand im hinteren Teil des Ladens, als Jayel durch die Tür trat. Er war ein klein gewachsener Mann, den viele fälschlicherweise für einen vom alten Erdvolk hielten, doch Grinabalds Stärken lagen keinesfalls auf dem Gebiet der Schmiedekunst, für die dieses Volk so berühmt war. Sein Ruf als Alchemist war ausgezeichnet, denn er vertraute nicht nur den alten Wegen, sondern arbeitete immerzu an neuen Techniken und Rezepturen.

    „Ah, guten Tag, Herrin Jayel, rief er gut gelaunt, nachdem er seine Kundin gesehen hatte. „Ihr kommt sicherlich wegen der blauen Tinte. Dort drüben steht sie schon. Ihr könnt eurem Vater versichern, dass ich besonders stolz auf diese Zusammensetzung bin. Jayel nickte und sah sich neugierig im Laden um. Jedes Mal, wenn sie hierher kam, schien es anders auszusehen – was damit zusammenhing, dass aufgrund von Grinabalds Forschungen des Öfteren etwas explodierte. Rußflecken an Wänden und Decke gaben ein reges Zeugnis davon ab. Doch Grinabald ließ sich nie entmutigen und tüftelte unentwegt weiter.

    Auf dem Arbeitstisch entdeckte Jayel einen kleinen Topf, in dem eine hellblaue Flüssigkeit blubberte. Neugierig trat sie darauf zu. „Oh nein, Fräulein, bleibt lieber weg davon! Hastig kam Grinabald herbeigestürmt und schob Jayel von dem Topf fort. „Wieso? Ist das ein gefährliches Experiment?, wollte Jayel wissen.

    Grinabald schien verwirrt: „Wie? Oh, nein, nein, das ist nur mein Mittagessen. Aber ich bin mir nie sicher, was hier in die Luft fliegen kann und was nicht."

    Jayels Aufmerksamkeit war schon wieder von etwas anderem in Anspruch genommen worden. Direkt neben der Flasche mit blauer Tinte lag ein Häufchen silbriges Pulver auf dem Tisch. „Interessiert, Fräulein?, wollte Grinabald wissen. „Das könntet Ihr in der Hauptstadt bestimmt gut brauchen. Es nennt sich Nieswurzpulver. Wenn euch einer aufdringlich kommt: zack, eine Prise ins Gesicht, der Kerl sieht nix mehr und niest sich in den nächsten paar Minuten die Nase aus dem Kopf.

    „Was wollt Ihr dafür haben?", erkundigte sich Jayel lächelnd. Sie hatte ein Mittel dieser Art bisher noch nie gebraucht, aber immerhin trat sie diesmal die Reise allein an. Die letzten Male hatte sie immer jemand begleitet: ihr Bruder, ihr Vater oder der Diener Chrisofus. Diesmal jedoch würde Jayel sich mit ihrem Pferd der Kutsche anschließen, die alle fünf Tage in die Hauptstadt fuhr. Bequemer wäre es natürlich gewesen, selbst in der Kutsche zu fahren. Aber alle Akolythen, die Schüler der Bardenschule, mussten ein Pferd besitzen, um bestimmte Botengänge ausführen zu können, und ihr Pferd musste schließlich ebenfalls in die Stadt gelangen.

    „Für euch mache ich einen Sonderpreis, versprach Grinabald. „Nur fünf Goldmünzen für den Beutel. Das erschien Jayel in der Tat günstig. Für alchemistisches Werk wurden normalerweise bis zu zehn Goldmünzen gefordert. „In Ordnung, sagte sie daher, öffnete ihren Geldbeutel, den sie unter dem Gewand trug, und schob fünf der großen, golden schimmernden Münzen über den Tresen. „Ihr werdet es nicht bereuen, versprach Grinabald und füllte das Pulver in einen kleinen Lederbeutel, den er Jayel in die Hand drückte. „Nehmt aber immer nur eine kleine Prise, das ist durchaus ausreichend. Wenn Ihr mehr verwendet, sieht der Kerl mehrere Tage lang nichts, und das wäre Verschwendung, wo Ihr doch nur wenige Minuten braucht, um euch aus dem Staub zu machen…"

    Jayels Mutter wäre entsetzt über die Ausdrucksweise des Alchemisten gewesen, doch Jayel machte es nichts aus. Sie hatte in der Bardenschule gelernt, dass die Ausdrucksweise jedes Menschen etwas ganz Persönliches ist und sich über das ganze Leben hinweg ausprägt. Und Grinabalds Sprache zeugte von harter Arbeit, tiefsitzender Erfahrung und einer guten Portion Lebensfreude.

    Jayel bedankte sich und nahm behutsam die große Flasche Tinte an sich. Sie war schwer, doch zum Glück war es bis zum Handelskontor nicht allzu weit. Jayel verabschiedete sich und verließ langsam und vorsichtig den Laden. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und war darauf bedacht, niemanden der Vorbeihastenden anzurempeln. Durch diese Fortbewegungsweise dauerte der Weg natürlich länger, und die Flasche in Jayels Armen schien immer schwerer und schwerer zu werden. Allmählich wünschte sie sich, ihren Bruder doch nicht fortgeschickt zu haben; ihm würde es sicherlich leichter fallen, die schwere Flasche zu transportieren…

    Aber schließlich konnte Jayel schon das Handelskontor sehen. Es waren nur noch etwa 100 Schritte bis zur Eingangstür, und dort würde einer der Angestellten ihr die Flasche abnehmen.

    Erleichtert ging Jayel weiter. Doch im nächsten Moment hörte sie neben sich ein Pferd wiehern, dann traf sie ein heftiger Schlag an der Schulter und sie stürzte. Jemand warf sich vor sie, und so fiel Jayel nicht auf die harte Erde, sondern auf … nun ja, auf jemanden. Aber die schwere Flasche konnte sie nicht halten: Sie polterte zu Boden und zerbrach genau neben dem Kopf von Jayels Helfer. Dunkelblaue Tinte spritzte…

    Jayel war wie erstarrt. Die Tinte ihres Vaters. Wieder einmal war sie in Schwierigkeiten geraten. Aber, so sagte sie sich im nächsten Moment, diesmal konnte sie wirklich nichts dafür. Jayel starrte auf den Boden, wo die zerbrochene Tintenflasche lag. Daneben saß ein Mann auf dem Boden. Jayel sah an sich herab. Ihr rotes Kleid war mit blauer Tinte bespritzt. Sie sah auf den Mann, der sich langsam aufrichtete. Er war schlank, in schwarze Gewänder gehüllt und trug einen Stab bei sich. „Ein Magier", schoss es Jayel durch den Kopf. Er hatte schulterlange, gelockte schwarze Haare und braune Augen. Mehr

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