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Der Hitler Code
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eBook383 Seiten4 Stunden

Der Hitler Code

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Über dieses E-Book

„Die Maschine des Führers, eine Junkers 52/3m, befindet sich nun im Anflug. Der Rückflug vom Ufer des Lago Maggiore, wo in der kleinen Stadt Castelveccana ein Treffen mit dem Duce wegen der polnischen Frage stattgefunden hat, ist turbulent gewesen, genauso stürmisch wie die europäische Gegenwart. Doch die Menschen in allen deutschen Gauen, von der Nordseeküste bis zu den Dolomiten, von Tilsit an der Memel bis Trier an der Mosel, sind in ihren Herzen voller Zuversicht. Ja, sie hoffen, nein, sie wissen, dass es unserem Führer auch diesmal, wie schon im letzten Herbst in München, gelingen wird, unbeachtet der Provokationen Warschaus, mit den Westmächten Frankreich und England zu einer einvernehmlichen, friedlichen Lösung zu gelangen. Die Ostmark und das Sudetenland wurden heim ins Reich geführt, und wir sind felsenfest davon überzeugt, dass bald auch die alten deutschen Städte Danzig, Posen, Bromberg und Thorn wieder dem Deutschen Reich angehören werden.“

Die Stimme des Reporters verstummte und die Kamera, die ihn bisher in Großaufnahme vor dem Flugfeld Tempelhof gezeigt hatte, schwenkte hinauf zum Himmel. Es war ein sonniger, warmer Augusttag, genauer der 25. August 1939, 14:27 Uhr. Eine eingeblendete Skala zeigte die Bodentemperatur von fast 27 Grad Celsius und den Luftdruck von 1015 Millibar. Keine Wolke befand sich am strahlend blauen Sommerhimmel.

„Der Hitler Code" ein Polit-Thriller von Heiger Ostertag. Basierend auf historisch-kontrafaktischen Recherchen zum III. Reich.
SpracheDeutsch
HerausgeberSWB Media Publishing
Erscheinungsdatum27. Okt. 2017
ISBN9783946686682
Der Hitler Code
Autor

Heiger Ostertag

Dr. Heiger Ostertag ist Autor von zahlreichen historischen Romanen und politisch-kritischen Thrillern. In Berlin wohnend, erlebt er die täglichen Intrigen, den steten Kampf um Macht und Einfluss hautnah mit. Das ist der Stoff, aus dem seine Werke entstehen.

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    Buchvorschau

    Der Hitler Code - Heiger Ostertag

    1.Der Führer ist tot

    »Die Maschine des Führers, eine Junkers 52/3m, befindet sich nun im Anflug. Der Rückflug vom Ufer des Lago Maggiore, wo in der kleinen Stadt Castelveccana ein Treffen mit dem Duce wegen der polnischen Frage stattgefunden hat, ist turbulent gewesen, genauso stürmisch wie die europäische Gegenwart. Doch die Menschen in allen deutschen Gauen, von der Nordseeküste bis zu den Dolomiten, von Tilsit an der Memel bis Trier an der Mosel, sind in ihren Herzen voller Zuversicht. Sie hoffen, nein, sie wissen, dass es unserem Führer auch diesmal, wie schon im letzten Herbst in München, gelingen wird, ungeachtet der Provokationen Warschaus, mit den Westmächten Frankreich und England zu einer einvernehmlichen, friedlichen Lösung zu gelangen. Die Ostmark und das Sudetenland wurden heim ins Reich geführt, und wir sind felsenfest davon überzeugt, dass bald auch die alten deutschen Städte Danzig, Posen, Bromberg und Thorn wieder dem Deutschen Reich angehören werden.«

    Die Stimme des Reporters verstummte und die Kamera, die ihn bisher in Großaufnahme vor dem Flugfeld Tempelhof gezeigt hatte, schwenkte hinauf zum Himmel. Es war ein sonniger, warmer Augusttag, genauer der 25. August 1939, 14:27 Uhr. Eine eingeblendete Skala zeigte die Bodentemperatur von fast 27 Grad Celsius und den Luftdruck von 1015 Millibar. Keine Wolke befand sich am strahlendblauen Sommerhimmel.

    Aus Südwesten näherte sich ein silberglänzender Punkt, der rasch größer wurde, das Flugzeug, in dem Adolf Hitler von seinem Krisentreffen mit Benito Mussolini zurückkehrte. Allmählich wurden die Konturen deutlicher; nun senkte sich die Maschine nach vorne und der Pilot begann mit der Landephase.

    »Jetzt geht das Flugzeug in den Landeanflug über«, setzte wieder die Stimme des Reporters ein. »Ganz sacht gleitet die Junkers näher und näher. Der Pilot wackelt zur Begrüßung mit den Flügeln … Was ist das? Aus Westen ist plötzlich ein zweites Flugzeug aufgetaucht, dessen Bahn direkt die der JU 52 zu kreuzen droht. Um Gotteswillen, sieht der andere Pilot nicht die Gefahr? Wenn er so weiter fliegt, werden beide Maschinen in der Luft kollidieren! Da, im letzten Augenblick reißt der Pilot des Führers die Junkers in die Höhe. Diese schwankt, droht durchzusacken, in ein unkontrolliertes Trudeln zu geraten und in die Tiefe zu stürzen! Aber ihm gelingt es, das schwere, für solche Manöver nicht ausgelegte Flugzeug zu stabilisieren und auf Höhe zu bringen, um erneut in den Anflug zu gehen. Und die andere Maschine? Es scheint sich um eine Messerschmitt vom Typ 109 zu handeln. Das wird für den Piloten Konsequenzen haben, eine solche Gefährdung muss geahndet werden, zumal der Führer … Mein Gott, was macht der Mann jetzt? Die Messerschmitt zieht ebenfalls nach oben, legt sich in eine enge Kurve und setzt sich genau hinter die Junkers. Fast möchte man meinen, einem Luftkampf beizuwohnen. Nun zieht er die Maschine steil nach oben und … ist der Pilot völlig verrückt geworden? Er stößt schräg nach unten, gerade auf den Rücken des anderen Flugzeugs zu und kracht mit der Messerschmidt direkt in die Junkers hinein! Beide Maschinen bilden ein dunkles Gewirr und – sie explodieren! Sie explodieren

    Die Stimme des Reporters überschlug sich. Ein ungeheurer Detonationsknall war zu hören, Menschen schrien, aus der Ferne tönten Sirenen. Dann, nach einer endlos wirkenden Pause, setzte wieder der Reporter ein. Mit tränenerstickter Stimme verkündete er: »Es ist schrecklich, es ist unvorstellbar! Das kann niemand überlebt haben. Entsetzliches ist geschehen! Ein Attentat auf den Führer, unser Führer Adolf Hitler ist tot

    Die Filmaufzeichnung endete.

    Dr. Friedrich von Schirach lehnte sich zurück. Wie oft hatte er die Aufzeichnung in den letzten Tagen schon angesehen? Er wusste es nicht, doch noch immer traf ihn der Mitschnitt des Todes des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler bis ins Innerste. Offiziell war der Führer bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Und jetzt das! Das war kein Unfall, das war ein bewusster Angriff auf die JU 52 gewesen. Über Jahrzehnte hinweg war das wirkliche Geschehen streng geheim gehalten worden. In keiner der zahlreichen Darstellungen und Biografien zum Leben des Führers hatte auch nur eine Zeile über ein Attentat im Sommer 1939 oder gar über mögliche Hintergründe gestanden.

    Von Schirach blickte sinnend aus dem Fenster seines Büros im Historischen Institut in der Alfred-Rosenberg-Straße. Ein Trupp Hitlerjungen marschierte singend und trommelnd am Haus vorbei. Gegenüber lag das verwinkelte Gebäude des Museums für Entartete Kunst, das der Nachfolger Hitlers im Reichskanzleramt Hermann Göring 1947 für seine Kunstsammlung hatte bauen lassen. Zwei Jahre später war Göring einer Herzattacke erlegen, was in Anbetracht seines enormen Übergewichts kein Wunder gewesen war. Überhaupt schienen viele der Granden des Großdeutschen Reichs erstaunlich früh und unerwartet verstorben zu sein. Heinrich Himmler, der, wie es in Historikerkreisen hieß, wohl selbst Ansprüche auf die Führung in Berlin angemeldet hatte, war ein Jahr nach Hitlers Tod im Alter von gerade vierzig bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Rudolf Hess, der offizielle, von Göring allerdings rasch beiseitegeschobene Stellvertreter des Führers, hatte im Winter 1941/1942 eine Lebensmittelvergiftung dahingerafft. Und und – die Liste ließ sich mit Heydrich, Saukel, Ley und Rosenberg durchaus fortsetzen. Für die Öffentlichkeit waren diese Fakten weitgehend unbekannt geblieben. Weder die Reichspresse noch die Wochenschau hatte sich mit ihrem Ableben mehr als nötig beschäftigt. Sie waren von einem auf den anderen Tag aus der allgemeinen Wahrnehmung wie verschwunden gewesen. Erst durch seine Forschung waren von Schirach diese Fakten aufgefallen, wobei er eine zufällige Koinzidenz der Fälle nicht gänzlich ausschließen mochte. Auch hatte von Schirach seine Untersuchungen längst nicht abgeschlossen, und vieles schien ihm nach wie vor unklar zu sein. So waren seine Ergebnisse bislang unter Verschluss geblieben und nur zwei Personen hatte er Einblick in seine Aufzeichnungen und Unterlagen gestattet. Der Kreis der »Wissenden« beschränkte sich auf seinen Freund aus der Schulzeit Hans-Joachim von Ribbentrop und seine Assistentin Eleonore Klink. Jetzt war von Schirach aufgefordert worden, einen Vortrag über den Stand seiner Recherchen zu halten und diesen auch in Schriftform vorzulegen. Das konnte schwierig werden, denn seine Forschung hatte in bestimmten Bereichen längst den Pfad des ihm vorgegeben Auftrages verlassen. Ja, dachte er, der Auftrag …

    Er erinnerte sich genau der Situation im Frühsommer. An jenem Morgen, es war Dienstag, der 26. Juni gewesen, rief ihn die Sekretärin von Professor Mannerheim an und bestellte von Schirach für den Mittag in das Militär- und Nationalgeschichtliche Institut nach Potsdam …

    »Mein lieber Dr. von Schirach«, begrüßte ihn der Professor jovial, als er in dessen Arbeitszimmer trat. »Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, in unser Institut zu kommen. Der militärische Leiter unseres Hauses General von Alvensleben ist Ihnen sicher bekannt.«

    Ein schlanker Mann Anfang, Mitte fünfzig erhob sich aus einem Sessel und gab von Schirach die Hand.

    »Ich freue mich, den Großneffen unseres verehrten Reichsjugendführers Baldur von Schirach einmal persönlich kennen zu lernen. Mein Großvater und er waren lange Jahre gute Freunde. Ich glaube, Ihr Großonkel hat ihn sogar einmal in Santa Rosa de Calamuchita besucht, wo mein Großvater seine letzten Lebensjahre verbrachte. Ja, die guten alten Zeiten … Aber kommen wir zum Grund Ihres Besuches. Herr Professor, wenn Sie bitte die Darstellung übernehmen!«

    »Sie sind seit einigen Jahren als Fachjournalist für ›Historia heute‹ tätig und arbeiten seit kurzem, wie ich weiß, an einer Studie zur jüngeren Geschichte des Deutschen Reichs in den Jahren 1940 bis 2015. Korrekt?«

    Von Schirach nickte. Das war der Hintergrund seiner Kontakte zum Institut und zum Reichsarchiv. Vor allem die Quellen zur Phase der späten 40er und der 50er Jahre stellten in dem Zusammenhang eine lohnende Forschungsaufgabe dar, da diese Umbruchszeit bislang nicht vollständig erfasst und dargestellt worden war.

    »Sie sind daher mit der Quellenlage gut vertraut.«

    Mannerheim stockte einen Augenblick, als ob er um eine Formulierung zu ringen habe. Von Alvensleben wippte ungeduldig mit den Füßen und es schien, als wolle er selbst das Wort ergreifen, da hatte der Professor offenbar die passende Wortwahl gefunden.

    »Wie Sie wissen, arbeitet unser Haus derzeit an dem Jahrhundertwerk zur Deutschen Geschichte, das pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum des Eintritts des Führers in die Politik 2019 in zwanzig Bänden erscheinen soll. Nun hat Oberst Dr. Schröder, dessen Gruppe für die Bände 1935 bis 1940 und 1941 bis 1945 verantwortlich war, bedauerlicherweise einen Infarkt erlitten und ist vor einer Woche verstorben. Sein Stellvertreter, Oberstleutnant Dr. Maier-Welcker, ist seit Monaten erkrankt. Und der dritte Mann im Bunde, Major Seersfeld, ist überraschend zu unserer Botschaft in Teheran als Militärattaché abkommandiert worden …«

    An dieser Stelle räusperte sich der General vernehmlich und Mannerheim unterbrach sofort seine Erklärung.

    »Jedenfalls brauchen wir dringend jemanden, der in der Materie zu Hause ist. Und das sind Sie, Herr Dr. von Schirach. Professor Vensge, der Ihr Projekt betreut, hat Sie wärmstens empfohlen.«

    »Zumal Ihr Großonkel ein Mann der ersten Stunde und mit dem Führer eng verbunden gewesen ist!«, warf der General ein. »Kurz, Sie übernehmen das Projekt. Für die Zeit werden Sie militärisch aktiviert und erhalten den Dienstgrad eines Majors. Ihre Berichte gehen direkt an mich und an Professor Mannerheim.«

    »Schröders Assistentin Frau Dr. Klink wird Sie über den aktuellen Stand in Kenntnis setzen«, fügte letzterer hinzu.

    Damit sah sich von Schirach entlassen. Das Ganze hatte mehr den Charakter einer Anweisung, ja einer Befehlsausgabe gehabt, überlegte von Schirach. Ganz in der Art und Weise, wie dies Militärs zu halten pflegten. Dass sich die Gesellschaft und vor allem die politische Wirklichkeit in den letzten zwanzig Jahren deutlich verändert hatten, schien bei der militärischen Elite noch nicht angekommen zu sein.

    Seine neue Arbeitsstätte war die Außenstelle des Militär- und Nationalgeschichtlichen Instituts in der Alfred-Rosenberg-Straße.

    Frau Dr. Eleonore Klink hatte ihn in den folgenden Wochen intensiv eingewiesen. Das Projekt war zu seiner Überraschung erstaunlich weit geraten gewesen. Im Eigentlichen standen beide Bände kurz vor der Drucklegung.

    »Klaus-Peter …, also Oberst Schröder, hatte das Gesamtmanuskript bereits zum Satz gegeben«, erklärte die Kollegin. Sie wirkte ziemlich jung, von Schirach schätzte ihr Alter auf höchstens dreißig. Dazu war Frau Klink mit ihrem modisch frisierten Blondhaar und der schlanken, dabei durchaus fraulichen Figur und den klaren, fein geschnittenen Gesichtszügen sehr attraktiv. Auch besaß die Kollegin erstaunliche Fach- und Sprachkenntnisse und gehörte damit zum Typus der neuen Frau. Noch 1983 hatte Frauenschaftsführerin Eva Riefenstahl auf dem Reichsfrauenschaftstag in Nürnberg mit großer Vehemenz aus »Mein Kampf« zitiert. »Mädchen gedenke, dass du eine deutsche Mutter werden sollst!« und »Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.« Doch seit Ende der 80er Jahren war das alte Frauenbild Stück für Stück revidiert worden. Das blonde Gretchen, das im Schiller’schen Sinne daheim am Herd waltete, die Kinder hütete und sich für den Gatten und das Land gleichermaßen aufopferte, war schon in den Endsechziger Jahren von den Studentinnen des Leni Riefenstahl-Bundes heftig hinterfragt worden. Erst als sich 1986 ihre Mitkommilitonen vom George-Kreis und des Wartburg-Bundes sowie die unermüdliche Hitler-Witwe Eva Braun ihren Forderungen anschlossen, letztere sogar unter Zitierung einschlägiger Passagen aus »Mein Kampf«, hatte die Partei sich genötigt gesehen, mehr Freiheiten sowohl im Privaten als auch in der Gesellschaft zuzulassen. »Durchblick und Offenheit« waren vom neuen Kanzler und Reichsverweser Rudolf von Papen 2001 als Parole ausgegeben und damit – zumindest in Teilbereichen – größere Veränderungen angestoßen worden. Allerdings gab es beim konservativen Flügel der NSDAP weiterhin massive Widerstände gegen die Reformen des mittlerweile verstorbenen von Papen und seines Nachfolgers Gregor Strasser Junior. Und dass es 2014 einem Exponenten der »Sozialisten« gelungen war, die Macht im Reich zu übernehmen, war für die meist ländlichen Anhänger der konservativen Rechten geradezu Verrat am Geist des Führers …

    Wie auch immer, Eleonore Klink war von Schirach gleich von Beginn ihrer Zusammenarbeit sehr sympathisch gewesen und dieses Gefühl hatte sich durchaus verstärkt. Bald waren beide zum vertrauten Du übergegangen.

    Vier weitere Wochen verbrachten sie damit, gemeinsam die Unterlagen des verstorbenen Obersten zu sichten. Dabei fiel auf, dass in den Kapiteln zu den Jahren 1938 bis 1943 an etlichen Textstellen Markierungen angebracht worden waren. »Überprüfen« hatte Schröder gut zweidutzend Mal notiert. Und dann waren im August 1939 sowie in den Jahren 1941 und 1942 unerklärliche Lücken aufgetaucht.

    »Ich verstehe nicht, wieso das Skript an den Satz abgegangen ist, wenn noch Prüfungsbedarf bestand und wohl auch besteht. Die Lücken müssen natürlich gefüllt werden«, stellte von Schirach fest. »Ich denke, das wird, neben dem Redigieren des Textes, unsere Hauptarbeit sein. Wie sieht es mit Oberst Schröders Materialiensammlung aus?«

    »Der Herr Oberst«, sagte sie und vermied, erneut das vertrauliche »Klaus-Peter« zu verwenden, »hat eine umfangreiche Datenspeicherung vorgenommen und zudem alle relevanten Unterlagen zusätzlich kopiert. Normalerweise …«, sie öffnete mehrere Schränke und hielt überrascht inne. »Normalerweise müssten die Datenträger und die Kopien hier gelagert sein …«

    In den betreffenden Aktenbehältern herrschte gähnende Leere. Sie durchsuchten Schröders komplettes Büro und das von Oberstleutnant Dr. Maier-Welcker, doch das Material war und blieb verschwunden. Nur ein Datenstab war erhalten geblieben, den Eleonore per Zufall unter einem Schrank entdeckt hatte. Auf ihm waren einige kodierte Dateien gespeichert, die sich bislang jedem Entschlüsselungsversuch erfolgreich widersetzt hatten. Dazu ein ganz normales Wort-Schrift-Programm, das sich ohne weiteres öffnen ließ. In ihm fanden sich auf einer Seite mehrere »Notizen«, die sich mit den fehlenden Lücken beschäftigten und unter anderem den Vermerk enthielten: »Recherche Babelsberg«.

    »Weißt du, was Oberst Schröder damit gemeint haben kann?«

    »In Babelsberg ist das Reichsfilmarchiv beheimatet, ich weiß, dass er von dort mehrfach Kopien von Dokumentationen bezogen hat. Alte Wochenschauen, Riefenstahlproduktionen und ähnliches. Ich könnte mir vorstellen, dass die Kryptodateien entsprechende Hinweise enthalten.«

    »Oder wir fragen direkt im Reichsfilmarchiv nach«, schlug von Schirach vor.

    Das taten sie und fuhren gleich am nächsten Tag nach Babelsberg.

    Der Film … Sie hatten ihn erst nach zweiwöchigen Recherchen ganz versteckt in einem als Privatarchiv etikettierten Fundus in einer Sondersammlung entdeckt. Mehrere Wochenschaujahrgänge waren aneinandergeschnitten und geklebt worden. Dann hatten Techniker den Filmstreifen vor acht oder neun Jahren digitalisiert. Ein Eintrag, der besagte, dass Oberst Schröder Einsicht genommen habe, ließ von Schirach neugierig werden. Er rollte sich durch den Bestand und hätte beinahe den Markierungsstreifen übersehen, der vom Oberst offenbar gesetzt worden war. Aber Eleonore, die neben ihm vorm Bildschirm saß, stoppte plötzlich den schnellen Vorlauf.

    »Warte, Friedrich. Hast du den roten Streifen gesehen? Das ist Schröders Handschrift. Lass uns in die Normalwiedergabe gehen.«

    Doch beim langsamen Vorlauf der Wochenschau, es war die vom 9. November 1953, welche sich ausführlich mit den Feiern zum dreißigjährigen Jubiläum des heldenhaften Münchner Aufstandes von 1923 beschäftigte, blieb ergebnislos. Auch die zweite Betrachtung führte nicht weiter. Ein Regiment der Waffen-SS marschierte schweigend zu den riesigen Tempeln auf dem Münchner Königsplatz, wo Reichsverweser Joseph Goebbels – Göring hatte die Bezeichnung anstelle des Titels »Führer« geführt und angeordnet, dass »Führer« nur für Adolf Hitler vorwendet werden durfte – den riesigen Ehrenkranz niederlegte und zum letzten Appell aufrief. Erst bei der dritten Sichtung waren sie fündig geworden. Ehrenmarsch, Kranzniederlegung, Appell, Salut …

    »Halt!«, rief Eleonore. »Siehst du, dort drüben!«

    Die Kamera vollzog einen Schwenk, bei dem für einen kurzen Augenblick der Himmel zu sehen gewesen war – und an ihm ein Messerschmitt Strahlenflieger Model ME 2016! Von Schirach stoppte und klickte mit der Katz die silberne Silhouette an. Ein neues Sehfenster öffnete sich und sie waren plötzlich mitten in einem völlig anderen Film:

    »Die Maschine des Führers, eine Junkers 52/3m, befindet sich nun im direkten Anflug …«

    Wie erstarrt saßen sie eine Weile auf ihren Stühlen, als der Ausschnitt endete.

    »Ein Attentat auf den Führer. Wenn der Film bekannt wird, schlüge das ein wie eine Bombe!«

    Wieder schwiegen sie.

    »Wir sollten vielleicht erst mit Professor Mannerheim sprechen, bevor wir mit unserem Fund an die Öffentlichkeit gehen. Bis dahin …«

    »Du willst den Film zurückhalten?«, fragte Eleonore ungläubig. »Das ist ein Jahrhundertfund!«

    »Das habe ich nicht gesagt. Aus meiner Sicht ist es aber wichtig, wissenschaftlich an die Entdeckung heranzugehen. Vor allem stellt sich für mich die Frage, warum wurde das Attentat damals verschwiegen? Und wer ist für das Geschehen verantwortlich? Oberst Schröder muss sich die gleichen Fragen gestellt haben, warum hat er das Ganze unter Verschluss gehalten? Hat er denn nie mit dir über diesen Film gesprochen?«

    »Nein«, entgegnete Eleonore fast ärgerlich. »Er war mir bis eben nicht bekannt. Könnte es nicht sein«, sie stockte, setzte dann neu an. »Wenn der Oberst den Film nicht veröffentlicht hat, muss er starke Gründe dafür gehabt haben. Vielleicht hat er noch mehr brisantes Material entdeckt, eventuell kann uns der Datenstab Auskunft geben.«

    »Wir benötigen einen Krypto-Experten, aber keinen offiziellen«, überlegte von Schirach. »Ich kenne da jemanden …«

    Soweit war der Sachstand vor zwei Wochen gewesen. Von Schirach hatte seinen alten Schulfreund, Dr. Hans-Joachim von Ribbentrop, einem Krypto- und Nachrichtentechnikfachmann an der Friedrich-Wilhelm-Universität, der dort auch als Dozent Seminare abhielt, für die Entschlüsselung anwerben können. Hans-Joachim, ein Urenkel des früheren Reichsaußenministers, hatte zusammen mit ihm die Napola I in Potsdam besucht. Schon früh war er eigene Wege gegangen und hatte sich bewusst aus dem Familienverband Ribbentrop-Henkel zurückgezogen.

    »Alles dreht sich um den Urgroßvater und dessen große Bedeutung für das Reich. Du weißt schon, ›Hitler-Stalin-Vertrag‹ und so. Ich kann das nicht mehr hören«, hatte ihm der Freund einmal gestanden, »und dass Großonkel Adolf Henkell von Ribbentrop diese schreckliche Gräfin von und zu Eltz geheiratet hat, empfinde ich als absolut peinlich.«

    Das Peinliche und Delikate war gewesen, dass der Sohn der Gräfin aus erster Ehe, ein gewisser Freiherr von und zu Guttenberg wegen einer Plagiatsaffäre seinen Hut als General hatte nehmen müssen und der Familienname damit unliebsam in die Schlagzeilen geraten war.

    Nun jedenfalls erklärte sich Hans-Joachim bereit, eine interne Entschlüsselung des Datenstabs zu versuchen. Seit dem Erfolg der Enigma-Technologie der 40er Jahre durch die Fachleute der Firma »Heimsoeth & Rinke« hatte die Forschung im Reich an den deutschen Universitäten völlig neue Wissenschaftssektoren hervorgebracht, die sich mit der Kryptologie und ihre Anwendung im Rechner und Datenbereich beschäftigten. Durch diese Forschung war es Deutschland gelungen, seinen technischen Wissensvorsprung auszubauen und wirtschaftlich sowie militärisch zu nutzen. Bislang hatte sich die Kodierung jedoch nicht knacken lassen, obwohl die modernste Siemens-Rechner-Technologie zum Einsatz gekommen war.

    Währenddessen arbeiteten sowohl von Schirach als auch Eleonore Klink weiter im Reichsarchiv Potsdam sowie im Historischen Institut, um alle vorhandenen Dokumente aus dem von Oberst Schröder behandelten Zeitraum zu sichten und mit ihrer Hilfe bestehende Lücken zu schließen beziehungsweise primär das Umfeld der Absturzsituation zu klären.

    Inzwischen war der August ins Land gegangen und der Kalender zeigte Montag, den 4. September.

    Der Fernsprecher läutete, von der anderen Seite meldete sich militärisch knapp: »von Alvensleben. Kommen Sie sofort zu mir, Herr Major. Ich erwarte Sie in spätestens einer Stunde!«

    Ohne weitere Begründung beendete der General den Anruf. Verwundert legte von Schirach auf. Was sollte die schroffe Art? Ein solcher Ton herrschte bei einer Heereseinheit der Wehrmacht, doch nicht in der geisteswissenschaftlichen Forschung. Zudem kam ihm die Fahrt nach Potsdam ungelegen, eigentlich hätte er anderes zu tun gehabt. Kurz überlegte er, von Alvensleben länger warten zu lassen, entschied sich aber dagegen. Wenn es irgendwelche Probleme gab, sollte er diese am besten gleich klären, wobei sich von Schirach nicht vorstellen konnte, worum es ging. Der Bericht jedenfalls musste erst in einer Woche vorgelegt werden. Er rief die Fahrbereitschaft an und bestellte einen Transport nach Potsdam.

    Anschließend zog er die Uniformjacke an. Vor dem Spiegel schloss er die Knöpfe und fuhr sich mit der Bürste über das kurze, dunkelblonde Haar.

    »Herr Major«, sagte er und grüßte sein Spiegelbild durch das Anlegen zweier Finger.

    »Schaust passabel aus!«, zumindest hatte ihm das vor kurzem Professors Vensges Sekretärin Carola Weiß versichert, als er seinen alten Doktorvater wegen eines anderen Projekts aufgesucht hatte. Carola hatte wunderschöne schwarze Locken und eine wahre Traumfigur. Ihr Urgroßvater war Polizeipräsident in Berlin gewesen und hatte in den 30er Jahren auf dem Höhepunkt des plumpen Antisemitismus das Land verlassen müssen. Erst 1952, mit dem Tode Julius Streichers, des fanatischen Herausgebers des »Stürmers«, war dieser allmählich abgeebbt. Die heimliche Unterstützung der vom Führer ursprünglich abgelehnten jüdischen Zionistenbewegung in Palästina, die die Engländer aus dem Mandatsgebiet in den Jahren ’56 bis ’61 bekämpft und schließlich vertrieben hatte, mündete 1975 sogar in ein offizielles Bündnis mit dem neu gegründeten Staat Israel. Damit endeten schlagartig jegliche antizionistischen Propagandaaktivitäten. Die bereits mit Beginn der Kanzlerschaft Karl von Bülows einsetzenden Reformen hatten dann die Nürnberger und andere antijüdischen Gesetze und Vorschriften aufgehoben und eine umfassende Revision der Medien, der Publikationen und besonders der Schul- und Jugendbücher in die Wege geleitet. Dennoch lebte im rechten Flügel der NSDAP das frühere Gedankengut fort und wurde von den »Alt-Parteigenossen«, wie sie sich nannten, weiterhin gepflegt und tradiert. Im Alltag sahen sich daher jüdische Mitbürger vereinzelt Diskriminierungen ausgesetzt, die die Obrigkeit allerdings durchaus ahndete. Von Schirach war Carola Weiß in einer solchen Situation einmal zur Seite gestanden, und seitdem hatte sich zwischen ihnen ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, mehr aber auch nicht. Jedenfalls war ihr Kompliment durchaus ernst gemeint gewesen, was seine persönliche Eitelkeit ein wenig gekitzelt hatte.

    Luftwaffenmajor – passenderweise hatte von Schirach seine dreijährige Militärzeit in einer Luftwaffeneinheit absolviert und war im Rahmen der obligatorischen, jährlichen Wehrübungen zum Hauptmann der Reserve aufgestiegen. Der Karrieresprung zum Major war also durchaus respektabel, jedoch nicht riesig gewesen. Er verließ sein Büro und begab sich zur Pforte, wo mit laufendem Motor bereits ein feldgrauer VW-Kübel auf ihn wartete.

    In einer guten Stunde erreichten sie das Militär- und Nationalgeschichtliche Institut in Potsdam. Dieses war in der Villa in der Brandenburger Vorstadt im Westen von Potsdam untergebracht. Das ursprüngliche Privatgebäude befand sich seit 1894 in Besitz der Hohenzollern und war von Prinz Eitel Friedrich, dem zweiten Sohn Kaiser Wilhelms II. bis zu seinem Tod im Jahre 1942 bewohnt worden. Seit den 50er Jahren wurde die weitläufige Anlage der Villa Ingenheim durch das Reichinstitut für Militärgeschichte und das Reichsmilitärarchiv genutzt. 1994 war das Reichsinstitut in das Militär- und Nationalgeschichtliche Institut umbenannt worden. Von Schirach meldete sich im Vorzimmer von Alvenslebens und wurde sogleich in das Allerheiligste des Generals vorgelassen. Dieser hatte sich das Kommandantenzimmer ganz im Stile des früheren Potsdamer Garderegiments eingerichtet. Der Raum wurde fast zur Hälfte von einem riesigen Schreibtisch ausgefüllt, hinter dem an der Wand die alte Regimentsfahne mit dem gekrönten Adler hing. Unter der Fahne prangte der Wahlspruch »Semper Talis«.

    Der Major meldete sich, von Alvensleben bot ihm mit einer kurzen Geste einen Stuhl an und las weiter in dem Schriftstück, mit dem er bereits beim Eintritt von Schirachs beschäftigt gewesen war. Ein, zwei Minuten vergingen, dann legte er das Papier zur Seite.

    »Ich höre, Sie kommen mit Ihrem Auftrag gut vorwärts?«

    »Jawohl, Herr General.«

    »Und es ist richtig, dass Oberst Schröder das Gesamtmanuskript bereits zum Satz gegeben hatte?«

    »Das ist korrekt, aber …«

    Von Schirach zögerte. Ihm war deutlich, der General musste von seinen Recherchen erfahren haben, doch was er davon hielt, vermochte er nicht abzuschätzen, zumal er über den entdeckten Film vorerst nicht berichten wollte.

    »Warum forschen Sie und Frau Dr. Klink dann weiter?«

    Die Stimme von Alvenslebens klang scharf und befehlsgewohnt.

    »Es gibt etliche Lücken, die unklar sind. Sie waren dabei, als mich Professor Mannerheim beauftragte, diese zu schließen. Und das geht nur durch Recherchen.«

    »Korrekt, aber wozu wollen Sie einen Krypto-Experten heranziehen? Die Herren von der Geheimen Staatspolizei sind darüber sehr verwundert und haben eine Stellungnahme angefordert!«

    Von Schirach erschrak. Hatte Hans-Joachim sein Schweigeversprechen gebrochen und mit dritten über den verschlüsselten Datenstab gesprochen? Und was hatte die Gestapo damit zu tun? Noch immer war die von Heinrich Himmler aufgebaute Organisation im Volk gefürchtet, auch wenn ihre Befugnisse seit den 90er Jahre

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