Wer sorgt morgen fürs Gemeinwohl?: Zivilgesellschaft und Freiwilligenarbeit in der Schweiz
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Buchvorschau
Wer sorgt morgen fürs Gemeinwohl? - Lukas Niederberger
Einleitung
Die Begriffe Gemeinsinn, Gemeinwohl und Gemeinnutzen wirken leicht verstaubt. Inhaltlich ist ihr Gegenstand jedoch topaktuell. Der Begriff Gemeinwohl (von griechisch koiné symphéron, lateinisch bonum commune, englisch common good) bezeichnet den kollektiven Nutzen und das kollektive Interesse für eine Gesellschaft. Gesellschaft kann Familie, Verein, Region, Land, Menschheit oder Gemeinschaft aller Lebewesen bedeuten. Gemeinwohl entsteht dadurch, dass Individuen, Vereine, Firmen und Gemeinden, Verbände und Kantone nicht nur ihre Partikularinteressen verfolgen, sondern das Wohl aller im Blick behalten. Gleichzeitig ist das Gemeinwohl auch der Nutzen, den Einzelne für ihr Leben aus den Erfahrungen mit der Gesellschaft ziehen. Das Gemeinwohl bildet auch die Voraussetzung, dass sich Menschen und Organisationen in einer Gesellschaft frei einbringen können und wollen. Der Moralphilosoph und Begründer der Nationalökonomie Adam Smith (1723–1790) war überzeugt, dass Gemeinwohl dadurch entstehe, dass es den Einzelnen wohlergehe.
Rein monetär betrachtet wird das Gemeinwohl am effektivsten durch Steuern gefördert. Gesellschaftlich betrachtet tragen die private und die bezahlte Care-Arbeit entscheidend zum Gemeinwohl bei. Weil Individuen und Familien sowie das staatliche Sozial- und Gesundheitswesen mit ihren gemeinnützigen Diensten zunehmend an Grenzen stossen und zahlreiche von der Wirtschaft angebotene Dienste kaum bezahlbar sind, wird das freiwillige Engagement zu Gunsten des Gemeinwohls immer wichtiger. Vereine, Kirchen, gemeinnützige Institutionen und politische Gemeinden würden ohne Freiwillige nicht funktionieren. Damit gesellschaftlich notwendige Dienste auch in Zukunft garantiert und finanziert werden können, wird die Gesellschaft noch stärker auf freiwilliges Engagement angewiesen sein und dieses entsprechend stärker fördern müssen.
Dieses Buch erscheint ein Vierteljahrhundert nach dem UNO-Jahr der Freiwilligenarbeit. Seit 1985 wird jedes Jahr weltweit am 5. Dezember die Freiwilligenarbeit gewürdigt. In der Universal Declaration on Volunteering heisst es:
«An der Schwelle eines neuen Jahrtausends ist die Freiwilligenarbeit ein wesentliches Element aller Gesellschaften. Freiwilliges Engagement ist ein Baustein der Zivilgesellschaft. Diese Erklärung unterstützt das Recht aller, sich frei zu versammeln und freiwillig zu engagieren, unabhängig vom kulturellen und ethnischen Ursprung, von Religion, Alter, Geschlecht sowie physischen, sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnissen. Alle Menschen sollen das Recht haben, ihre Zeit, ihr Talent und ihre Energie anderen im Rahmen von Einzel- oder Kollektivmaßnahmen frei anzubieten, ohne eine finanzielle Entschädigung dafür zu erwarten.»
Die Erforschung und die Förderung von Freiwilligenarbeit wurden in der Schweiz im Jahr 2001 durch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) angestossen. In regelmässigen Abständen von drei bis fünf Jahren hat sie seitdem fünf Freiwilligen-Monitore mit landesweiten Befragungen durchgeführt, die – ähnlich dem deutschen Freiwilligensurvey – differenzierte Einblicke in das unbezahlte Engagement für das Gemeinwohl bieten. Von 2013 bis 2022 war ich als Geschäftsleiter der SGG verantwortlich für drei Freiwilligen-Monitore und leitete zudem zahlreiche Fachtagungen zu den Themen Freiwilligenarbeit, Gemeinwohl und gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Wie hat sich Freiwilligenarbeit in den letzten 25 Jahren entwickelt? Und für welche Herausforderungen muss die Gesellschaft in den kommenden 25 Jahren Lösungen finden? Dieses Buch bietet Anstösse zum Reflektieren und für die politische Debatte.
Im ersten Kapitel werden die unterschiedlichen Formen des tätigen Menschen thematisiert – von der Hausarbeit über Angehörigenbetreuung bis zur Freiwilligenarbeit und der Erwerbsarbeit. Das zweite Kapitel beleuchtet Aspekte der Freiwilligenarbeit sowie deren historische Entwicklung und künftige Perspektiven. Im dritten Kapitel wird untersucht, wie Staat, Wirtschaft, Vereine, Kirchen, Medien, Schulen und Stiftungen die Freiwilligenarbeit fördern können und wie sektorübergreifende Kooperationen dieses Engagement noch effektiver unterstützen könnten. Schliesslich widmet sich das vierte Kapitel den zukünftigen Herausforderungen und den Möglichkeiten zur gezielten Förderung der Freiwilligenarbeit.
Dieses Buch will zur Stärkung von Freiwilligenarbeit beitragen. Darüber hinaus will es in der Schweiz das Bewusstsein für den Dritten Sektor – die Zivilgesellschaft – wecken: für den Raum kollektiven Handelns zwischen und jenseits von Staat, Wirtschaft und Privatbereich. Zwar sind drei von vier Erwachsenen Mitglied in mindestens einem der rund 100’000 Schweizer Vereinen. Fast jede zehnte Person bekleidet ein Ehrenamt in einem Verein, für das sie für eine bestimmte Zeit gewählt wird. Und es gibt 13’000 gemeinnützige Stiftungen. Gleichzeitig wirken mehrere tausend berufstätige Bürger:innen in den lokalen und regionalen Parlamenten und Regierungen des politischen Milizsystems. Staat und Zivilgesellschaft sind eng miteinander verzahnt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb wird in der Schweiz die Bedeutung der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements selten thematisiert. 25 Jahre nach dem UNO-Freiwilligenjahr soll aufgezeigt werden, dass und wie zivilgesellschaftliches Engagement stärker gefördert werden kann und muss.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Lukas Niederberger Rigi Klösterli, im Januar 2025
1. Homo faber: Der tätige Mensch
Wenn kleine Kinder am Seeufer spielen, bewundern sie nicht die schöne Landschaft, sondern bauen Bäche und Burgen. Auch der erwachsene Mensch ist, sofern er nicht schläft, ist ein Tätiger, ein Homo faber. Ob am Arbeitsplatz, im Fussballclub, beim Sprachenlernen oder gar beim Zähneputzen, stets ist er aktiv. In ihrem Buch Vom tätigen Leben (1958) differenzierte Hannah Arendt das Tätigsein – die vita activa – in körperliche Arbeit, ökonomisches Herstellen und selbstbestimmtes Handeln. Dem gegenüber stünden kreatives Wirken und Muße – die vita contemplativa.
Das Bundesamt für Statistik untersucht alle drei bis vier Jahre mittels der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) die Tätigkeiten, die wir als Erwerbsarbeit gegen Bezahlung, als Freiwilligenarbeit für das Gemeinwohl oder im Rahmen von Familie und Haushalt verrichten. Die folgende Tabelle zeigt die Veränderung des zeitlichen Investments pro Person im Alter von 16–70 Jahren zwischen 1997 und 2020 in den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen auf.
Im Jahr 1997 zählte die Schweiz bei einer Gesamtbevölkerung von 7.1 Mio. rund 5 Mio. Personen im Alter von 16–70 Jahren. Im Jahr 2020 waren auf 8.67 Mio. Bewohner:innen rund 6.2 Mio. Personen im gleichen Alter. Die verwendete Zeit für Haus- und Familienarbeit sank bei den Frauen zwischen 1997 und 2020, während sie bei den Männern stieg – allerdings noch nicht auf das Niveau der Frauen. Unbezahlte private Care-Arbeit, das heisst die Betreuung von Angehörigen, nahm bei Frauen und
Tabelle 1: Die Entwicklung unserer Tätigkeiten (1997–2020)
Quelle: Schweizerisches Bundesamt für Statistik: SAKE-Befragungen 1997/2020. Lesebeispiel: Im Jahr 1997 leisteten Frauen im Alter von 16–70 Jahren in der Schweiz im Durchschnitt 861 Stunden unbezahlte Arbeit. Im Jahr 2020 waren es 738 Stunden.
Männern zu, was stark mit der demografischen Entwicklung zusammenhängt. Auch in diesem Bereich leisten Frauen noch immer deutlich mehr als Männer. Die formelle Freiwilligenarbeit in Zivilgesellschaftlichen Organisationen sank bei beiden Geschlechtern. Männer leisten in diesem Bereich mehr als Frauen, weil fast die Hälfte der Freiwilligenarbeit in Sportvereinen stattfindet. In der informellen Freiwilligenarbeit, das heisst bei Tätigkeiten ausserhalb von Organisationen, insbesondere Care-Arbeit in der Nachbarschaft, sind Männer heute fast doppelt so viel tätig wie vor 30 Jahren. Aber auch in diesem Bereich leisten sie noch immer weniger als Frauen. Dass Männer in der Care-Arbeit weniger engagiert sind als Frauen, hängt mit der traditionellen Sozialisation zusammen. Insgesamt leisteten Männer im Jahr 2020 etwa 25 % mehr unbezahlte Arbeit als im Jahr 1997, während sie bei den Frauen leicht abnahm. Im gleichen Zeitraum nahm bei den Männern die Erwerbsarbeitszeit leicht ab, während sie bei den Frauen zunahm. Zählt man die formelle Freiwilligenarbeit und die informelle Freiwilligenarbeit von Frauen und Männern zusammen, kommt man im Jahr 2020 auf rund 620 Millionen Stunden Freiwilligenarbeit in der Schweiz. Diese Zahl wird im weiteren Verlauf wiederholt Erwähnung finden. In der Sozialforschung unterscheidet man fünf Kategorien von Tätigkeiten: die vier unbezahlten Bereiche Haushaltsproduktion, private Care-Arbeit, die informelle und die formelle Freiwilligenarbeit sowie den bezahlten Bereich der Erwerbsarbeit. Weil diese
