Kindesentzug: Zerstörte Familien in der DDR
Von Heidrun Budde
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Über dieses E-Book
Heidrun Budde
Dr. Heidrun Budde, geb. 1954 in der DDR, Studium der Rechtswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg. Danach Tätigkeit als Justitiarin in der Wirtschaft. Promotion zum Seevölkerrecht. Von 1992 bis März 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Rostock.
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Buchvorschau
Kindesentzug - Heidrun Budde
Gewalttaten
Die SED-Propaganda wollte den „kommunistischen Vorzeigemenschen erschaffen, der fleißig arbeitete, seine Familie umsorgte und sich für das politische System einsetzte. Abweichungen von diesem verordneten Leitbild wurden als Ausnahmen deklariert, gegen die man konsequent vorgehen und entsprechende „Erziehungsmaßnahmen
einleiten würde. Die Medien unterstützten diese politische Vorgabe und hielten sich mit kritischen Berichten, insbesondere zur Kriminalität zurück.
Anfang der 90iger Jahre schenkte mir ein Rechtsanwalt aus Rostock, der langjährig zu DDR-Zeiten tätig war, einen ganzen Stapel von internen Heften mit dem Titel: „Informationen des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik. Das Material hatte den Vermerk: „Nur für den Dienstgebrauch
. In diesen Heften wurde über schwere Straftaten berichtet, die nur ausgewählte Personen, wie dieser Rechtsanwalt, zur Kenntnis nehmen durften. Beim Lesen hat mich die aufgezeigte Brutalität entsetzt.
Um dem Leser einen eigenen Einblick in diese Vorgänge und damit in das damalige reale Leben zu ermöglichen, sollen einige aus den Heften zitiert werden.
Alkohol und Gewalt
„Oberstes Gericht 5 OSB 28/79 vom 24. Juli 1979
Der Angeklagte ist Einzelgänger. Er lebte zurückgezogen, pflegte sich wenig und vernachlässigte seine Wohnung. Gegenüber Frauen war er stark gehemmt. Im Mai 1977 fand er die damals fast 60 Jahre alte Frau betrunken und hilflos auf der Straße. Er kümmerte sich um sie, und es entwickelte sich in der Folgezeit zwischen beiden ein intimes Verhältnis, obwohl er bemerkte, daß die Frau verschmutzt war und ihre Wohnung verwahrlosen ließ. Er hoffte, sie vom übermäßigen Genuß alkoholischer Ge-tränke und übermäßigen Rauchen abzubringen. In Abständen von etwa einer Woche besuchte er Frau B. Während dieser Besuche hatte der Angeklagte bemerkt, daß die Frau, wenn sie betrunken war, oftmals hinfiel und dabei hart auf den Fußboden aufschlug. Er hatte sie danach im-mer entweder in ihr Bett gebracht oder auf einen Stuhl gesetzt. Niemals hatte er sie bewußtlos oder hilflos verlassen. Am 21. September 1978 besuchte der Angeklagte sie wieder, schenkte ihr Lebensmittel und eine kleine Flasche Rum-Verschnitt. Beide tranken etwa zu gleichen Teilen den Rum-Verschnitt. Der Angeklagte begab sich gegen 20.30 Uhr in eine Gaststätte und kaufte eine 0,35 l Flasche Goldbrand, die er Frau B. schenkte, damit sie bis zu ihrer Rentenzahlung in einigen Tagen etwas zu trinken habe. Frau B. trank jedoch den Goldbrand sofort allein aus. Darüber war der Angeklagte empört. Die stark angetrunkene Frau ging im Zimmer umher, stieß eine brennende Kerze um, fiel schließlich auf Grund ihrer Trunkenheit hin und blieb auf dem Fußboden liegen. Der Angeklagte wollte sie zu ihrem Bett führen und versuchte deshalb, sie vom Fußboden hochzuziehen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit unterstützte die Frau sein Vorhaben durch eigene Anstrengungen nicht. Der Angeklagte zerrte sie auf einen Sessel, dessen rechte Armlehne durch das Gewicht der Frau abbrach. Sie stürzte auf den Fußboden und schlug dabei hart mit dem Kopf auf. Der Angeklagte machte ihr Vorhaltungen, sie erwiderte jedoch, daß es ihn nichts anginge, wie sie lebe. Als sein weiterer Versuch, die Frau zu Bett zu bringen, fehlschlug, legte er die Bettdecke unter ihren Kopf und Oberkörper. Da sie sich seinen ständigen Vorhaltungen unzugänglich zeigte, geriet er in Wut, ergriff die abgebrochene Armlehne und schlug ihr drei- bis viermal gezielt und wuchtig in das Gesicht, auf Nase, Kinn und Wange. Danach setzte er sich auf einen Stuhl. Als die Geschädigte wiederum nach Schnaps und Zigaretten verlangte, schlug er ihr vier- bis fünfmal mit der Sessellehne auf den Rücken. Dann versuchte er nochmals, sie zum Aufstehen zu bewegen. Als das misslang, setzte er sich wieder hin. Die Geschädigte wollte abermals Schnaps und Zigaretten haben und beschimpfte den Angeklagten. Daraufhin ergriff er den Sessel, hob ihn etwa einen Meter an, ließ ihn der Geschädigten auf den Bauch fallen und stieß, nach jeweils erneutem Anheben des Sessels, noch zwei- bis dreimal nach. Sein Ziel war es, die Geschädigte durch die Schläge zu einem anderen Lebenswandel zu veranlassen. Da sie danach laut schnarchte und der Angeklagte verhindern wollte, daß die Nachbarn gestört werden, legte er ihr eine Wanne auf den Kopf. Danach schlief er, auf dem Stuhl sitzend, ein. Am nächsten Morgen lag die Geschädigte noch auf der gleichen Stelle. Der Angeklagte entfernte die Wanne. Als er sich verabschiedete, antwortete sie. Der Angeklagte erkannte, daß die Verletzte ärztliche Hilfe benötigte, hoffte jedoch auf ihre eigenen Aktivitäten und auf Nachbarschaftshilfe. Als er am Abend wieder in die Wohnung kam, stellte er fest, daß die Geschädigte ihre Lage verändert hatte. Er bemerkte, daß sie atmet, und er war froh, daß sie am Leben war. Danach verließ er die Wohnung. Zwar erkannte er den lebensbedrohlichen Zustand der Geschädigten, benachrichtigte aber keinen Arzt, weil er eine Bestrafung wegen seines Vorgehens gegen sie befürchtete. Er hoffte auf Nachbarschaftshilfe, erkannte aber, daß die Geschädigte möglicherweise stirbt, wenn keine ärztliche Hilfe erfolgt. Am Morgen des 27. September 1978 suchte der Angeklagte wiederum die Wohnung der Geschädigten auf. Sie lag unverändert auf dem Fußboden. Er zog sie zu der noch am Fußboden liegenden Bettdecke, legte sie am Kopf und Oberkörper darauf und deckte sie mit Decken zu. Er entschloß sich, auch weiterhin nichts zur Abwendung des als möglich erkannten Todes der Geschädigten zu unternehmen. Am Morgen des 28. September 1978 rief er schließlich anonym das Rettungsamt an und erklärte, es solle bei Frau B. oder bei Nachbarn nachgefragt werden. Die Geschädigte war bereits am Abend zuvor tot aufgefunden worden."
„Oberstes Gericht 5 OSB 1/88 vom 11. März 1988
Der 20jährige Angeklagte sprach in der Freizeit übermäßig dem Alkohol zu und ging ab 11. Mai 1987 keiner Arbeit mehr nach. Der Angeklagte neigt - insbesondere nach Alkoholgenuß - zu aggressiven Handlungen. Am 11. April 1987 zog der Angeklagte in die Wohnung des später Geschädigten. Da er sich an der Sauberhaltung der Wohnung nicht beteiligte, machte ihm der Geschädigte Vorwürfe. Darüber war der Angeklagte so verärgert, daß er - etwa eine Woche vor der Tat - die Tötung des Geschädigten erwog. Am 5. Juni 1987 befanden sich ab 17.00 Uhr der Angeklagte und der Geschädigte allein in der Wohnung. Beide waren angetrunken. Gegen 17.45 Uhr machte der Geschädigte dem Angeklagten gegenüber eine abwertende Bemerkung über die am 15. Januar 1974 geborene Zeugin J. Darüber geriet der Angeklagte in Wut und entschloß sich, den Geschädigten zu töten. Er holte aus dem Bad einen 800 g schweren Hammer und trat dem Geschädigten im Schlafzimmer gegenüber. Ohne ihn anzusprechen, versetzte er ihm unvermittelt einen kräftigen Schlag mit dem Hammer gegen die Stirn, wodurch der Geschädigte zu Boden fiel. Nunmehr schlug er noch weitere acht- bis neunmal auf dessen Kopf und Oberkörper ein. Anschließend drehte er den Geschädigten auf die Seite und entnahm aus der Gesäßtasche die Geldbörse und daraus einen Bargeldbetrag von 20,- Mark. Da er noch immer wütend war, zerschlug er mit dem Hammer einen dem Vermieter gehörenden Elektroboiler. Gegen 18.45 Uhr kam die Zeugin J. in die Wohnung. Als sie den Geschädigten liegen sah, fragte sie, was los sei. Daraufhin tötete der Angeklagte mit dem Hammer drei Meerschweinchen und begab sich ins Schlafzimmer, wo er nochmals mehrfach wuchtig auf den Rücken und Hinterkopf des Geschädigten einschlug. Kurz nach 19.00 Uhr verließen der Angeklagte und die Zeugin J. die Wohnung. Vor dem Haus trafen beide die Zeugin N. Ihr gegenüber äußerte der Angeklagte, daß er ein Mörder sei. Da die Zeugin das nicht glauben wollte, begaben sich alle drei wieder in die Wohnung. Der Angeklagte schloß die Haus- und Wohnungstür von innen ab und steckte die Schlüssel ein. Da er eine Anzeige seitens der Mädchen befürchtete, entschloß er sich, beide zu töten. Er holte ein Messer aus der Küche und sagte zu den Mädchen, daß es `auf einen mehr oder weniger auch nicht ankommt‘ und `wen er zuerst umbringen soll‘. Die Mädchen versprachen, nichts von dem Geschehen zu sagen, und der Angeklagte warf das Messer fort, da er sein Tötungsvorhaben aufgegeben hatte. Bei der gerichtlichen Sektion wurde mehrfache stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf, den Oberkörper und den Bauch festgestellt, die zur Schädel-Hirnzertrümmerung und zu schweren Verletzungen innerer Organe geführt hatten. Der Tod trat durch die Schädel-Hirnzertrümmerung ein. Alle Verletzungen erlitt der Geschädigte zu Lebzeiten"
„Oberstes Gericht 1 OSK 5/83 vom 20. Mai 1983
Die zur Tatzeit 17jährigen Angeklagten sind miteinander bekannt. Der Angeklagte G. arbeitet als Maurer, er er-bringt zufriedenstellende Leistungen. In seinem Heimat-ort fiel er wiederholt durch Ordnungs- und Disziplin-schwierigkeiten auf. Die Angeklagten R. und F. sind Lehr-linge. Beide verletzten wiederholt die Arbeitsdisziplin, in-dem sie der Lehrausbildung unentschuldigt fernblieben. Alle drei Angeklagten neigen zu übermäßigem Alkohol-genuß. Von ihren Arbeitskollektiven wurden deshalb wiederholt mit ihnen Aussprachen geführt. In den Vormittagsstunden des 10. Mai 1982 suchten die Angeklagten mit dem später Geschädigten gleichaltrigen W. und weiteren Jugendlichen eine Klubgaststätte auf. Um die Wirkung des Alkohols zu steigern, nahm W. mehrere in Schnaps aufgelöste Schlaftabletten `Benedorm` zu sich. Insgesamt hat er an diesem Tag neun Schlaftabletten eingenommen. Als er sich negativ über die `Dorndorfer` äußerte, fühlte sich der Angeklagte G. angesprochen. Er forderte W. auf, mit auf die Toilette zu kommen und stellte ihn dort zur Rede. Auf dessen Bemerkung, ob dies alles wäre, versetzte er ihm zwei Faustschläge ins Gesicht. Inzwischen waren auch die Mitangeklagten zur Toilette gekommen. Auf Aufforderung von R. schlug F. dem W. zweimal mit der Faust ins Gesicht, erfaßte ihn dann an der Kleidung und stieß ihn weg. W., der weinte, sich aber nicht wehrte, blutete aus der Nase; außerdem war seine Lippe aufgeplatzt. Da die Jugendlichen auf Grund des Aussehens des Geschädigten keinen Alkohol mehr erhielten, begaben sie sich zunächst zur Mitropa-Gaststätte und fuhren anschließend mit dem Zug nach D. Dort wurde ihnen in mehreren Gaststätten auf Grund des Zustandes des Geschädigten der Alkoholausschank verweigert. Die Angeklagten waren deshalb verärgert. W. gab ihnen daraufhin Geld, wofür eine 0,7-Liter Flasche Korn gekauft wurde. Währenddessen fiel der Geschädigte rücklings von einem Gehwegbegrenzungsgitter, erhob sich aber sofort wieder und ging mit den Angeklagten und den übrigen Jugendlichen in Richtung Sportplatz. Unterwegs fiel er nochmals hin. In der Nähe der Sprunggrube setzten sich alle Beteiligten auf den Boden, während W. sich hinlegte. Sie tranken abwechselnd aus der Flasche. Da W. nicht in der Lage war, diese zu halten, hielt sie ihm R. zweimal an den Mund. Als der Geschädigte, am Boden liegend, nach einiger Zeit erneut etwas über die `Dorndorfer` sagte, schlug ihm der Angeklagte G. dreimal mit der Faust ins Gesicht. Anschließend zog R. den Geschädigten hoch und versetzte ihm zwei Kinnhaken. Daraufhin fiel dieser um. Nunmehr schlug ihn auch der Angeklagte F. dreimal mit der Faust ins Gesicht. Danach wurde er von allen drei Angeklagten mindestens dreimal getreten, wobei G. einmal an die Schläfe und R. ihn in den Rücken trat. R. versetzte dem Geschädigten außerdem noch einen Handkantenschlag gegen die Brust. Einige Zeit später erfaßte der Angeklagte G. mit dem Bemerken, er wolle dem Geschädigten `Benehmen beibringen`, eine in der Nähe liegende Holzlatte von 120 cm Länge, 11,5 cm Breite, 2 cm Stärke und einem Gewicht von 1,5 kg und schlug diesem damit zweimal auf den Körper und einmal auf den Kopf. Als W. zu erkennen gab, daß er wisse, wer ihn geschlagen habe, schlug G. erneut dreimal mit der Latte auf den am Boden Liegenden
