Die kleine Gezeitenkunde: Ebbe und Flut einfach erklärt
Von Rainer Lüthje
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Über dieses E-Book
Ursprünglich als Unterrichtsskript für den Lehrgang zum Seevermessungstechniker konzipiert, wurde der Inhalt kontinuierlich erweitert und verbessert. Durch anschauliche Bilder, verständliche Illustrationen und gut nachvollziehbare Texte vermittelt der Autor dem Leser das Wissen über das tägliche Steigen und Fallen des Wassers. Dabei werden nicht nur die verwendeten Abkürzungen erklärt, sondern auch die Vorausberechnungen der Gezeiten und die korrekte Nutzung von Gezeitenkalendern und Gezeitentafeln anhand von Beispielen verdeutlicht.
Rainer Lüthje, Diplom-Ingenieur und Mitarbeiter im Gezeitendienst des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie, ist einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Gezeiten. Seine langjährige Erfahrung und sein Fachwissen machen dieses Buch zu einer unverzichtbaren Ressource für alle, die die Geheimnisse der Gezeitenwelt entschlüsseln möchten. Egal ob Küstenbewohner, Gewässerkundler, Sportbootfahrer oder Tourist - dieses aufschlussreiche Werk bietet allen Interessierten einen umfassenden Einblick in das faszinierende Phänomen der Gezeiten.
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Buchvorschau
Die kleine Gezeitenkunde - Rainer Lüthje
1Entstehung der Gezeiten
1.1 Allgemeine Beschreibung der Gezeitenerscheinungen
Das regelmäßige Heben und Senken der Wasser- und Landmassen wird als Gezeiten bezeichnet. Deren Erscheinungen wurden schon von den Römern beschrieben, als sie sich zum Nordatlantik und zur Nordsee vorwagten.
Im 17. Jahrhundert ist aus dem mittelniederdeutschen Wort »Getide« (festgesetzte Zeit) das Wort Gezeiten entstanden. Die Gezeitenerscheinungen treten allerdings nicht in allen Meeresgebieten der Erde in gleicher Form auf. Die Gezeitenkräfte sind so klein, dass ihre Wirkung selbst auf großen Binnenseen nur mit erheblichem Aufwand messbar ist. Erst auf den Ozeanen sind die Gezeitenbewegungen merklich zu erkennen (mittlerer Tidenhub 0,8 m). Die periodischen Änderungen der Stellung der gezeitenerzeugenden Gestirne zur Erde führen zusammen mit der Trägheit des Wassers, der Reibung und der Ablenkung durch die Erddrehung zu sehr komplizierten und örtlich sehr unterschiedlichen Gezeitenbewegungen. Die Gezeitenwellen nehmen bei den auftretenden Wellen in allen Meeren eine Sonderstellung ein und bedürfen daher einer eigenen Betrachtung. Sie gehören zu den fortschreitenden langen Wellen, die sich durch Umformungen zu stehenden langen Wellen oder Drehwellen verändern können. Bei den halbtägigen Gezeitenwellen kann die Wellenlänge in flachen Gewässern wie z. B. der Nordsee mehrere hundert Kilometer lang sein. Das bedeutet, dass die Wellen im Verhältnis zu ihrer Länge sehr flach sind.
Hoch- und Niedrigwasser in der Hamburger Deichstraße.
Wie schon gesagt wird das abwechselnde Steigen und Fallen des Wasserstandes Gezeiten genannt. Dagegen wird das waagerechte Hin- und Herströmen der Wasserteilchen als Gezeitenstrom bezeichnet. Die Gezeiten und die Gezeitenströme treten in Abhängigkeit vom jeweiligen Ort in regelmäßiger etwa halb- oder eintägiger Wiederkehr auf.
1.2 Massenanziehung (Gravitationskraft)
Im Jahre 1687 beschrieb Isaac Newton das allgemeine Gravitationsgesetz. Darin wird die Gravitation (Schwerkraft) grundsätzlich als Anziehungskraft beschrieben.
Die Himmelsmechanik ist die aus der Physik stammende Lehre der Bewegungen von astronomischen Objekten. Dazu gehört unter anderem die Gravitationskraft, die auf jeden Körper wirkt. Die Gravitationskraft ist die wichtigste Kraft im Universum, sie ist der Antrieb aller Bewegungsänderungen.
Das Newton’sche Gravitationsgesetz beinhaltet folgende Aussage:
Jede MasseM1zieht eine andere MasseM2mit einer KraftFGan.
Die Stärke der KraftFGist proportional zum Produkt von den jeweiligen MassenM1undM2.
Die Stärke der KraftFGnimmt mit dem Quadrat des AbstandsDder MassenM1undM2zueinander ab.
In einer Formel ausgedrückt:
FG=γM1 × M2D2
Gravitationskonstanteγ=0,0000000000667 [ m3kg s2 ]
FG[ kg ms2 ],M [ kg ],D [ m ]
Isaac Newton.
In der unteren Grafik sind die beiden Massen gleichgeblieben, während sich die Entfernung zwischen ihnen verringert hat. Die beiden Körper M1 und M2 ziehen sich gegenseitig mit einer jeweils betragsmäßig gleichen Kraft FG an. Das hat zur Folge, dass sich die Anziehungskräfte absolut vergrößert haben.
1.3 Gezeitenerzeugende Kräfte
Warum gibt es jeden Tag Hoch- und Niedrigwasser? Woher kommen die Gezeiten? Was ist deren Ursprung?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen wir uns mit der Astronomie, genauer dem Teilgebiet der Himmelsmechanik beschäftigen. Aus der Wechselwirkung der Gravitationskraft (Massenanziehung) von Himmelskörpern und deren Bahnbewegungen entstehen die Gezeiten.
Die Gravitationskräfte von Mond und Erde bewirken eine gegenseitige Anziehung beider Körper. Diese Anziehung ruft eine »Dehnungskraft« oder eine Gezeitenkraft an jedem Punkt der Erde hervor. Die Massen von Mond und Erde sind eine feste Größe, die sich nicht ändert. Im vorherigen Kapitel haben wir gelernt, dass für die Gravitationskraft auch die Entfernung entscheidend ist. Das bedeutet, dass die mondzugewandte Seite auf der Erde eine stärkere Gravitationsbeschleunigung a durch den Mond erfährt als die mondabgewandte Seite.
Formel der Gravitationsbeschleunigung a:
a1=FGM1 [ m/s2 ]
Die Differenzen der Anziehungskräfte zwischen der Mitte S des Erdkörpers und einem beliebigen Punkt auf der Erde (A–D) werden als die verbleibenden gezeitenerzeugenden Kräfte FG bezeichnet. Anders ausgedrückt ist die Gezeitenkraft FG die Differenz aus den unterschiedlichen örtlichen Anziehungskräften.
Eine Zerlegung der Anziehungskräfte A-D und S in Kräftevektoren FG ergibt folgende Bewegungen:
Wenn diese verbleibenden gezeitenerzeugenden Kräfte auf eine vollständig mit Wasser bedeckte Erde übertragen werden, entstehen jeweils zwei »Wasserberge« und zwei »Wassertäler«. Aus der kreisrunden Form wird etwa eine Ellipsenform (Rugbyball).
Annahme:
Die Erde ist vollständig mit Wasser bedeckt
Das gleiche gilt auch für die Anziehungskräfte zwischen Sonne und Erde.
In der bisherigen Betrachtung der gezeitenerzeugenden Kräfte wurde die Erddrehung um die eigene Achse außer Acht gelassen. Sie hat tatsächlich auch keinen Einfluss auf die Entstehung dieser Kräfte. Nur für einen Beobachter auf der Erde ergibt sich durch die Drehung ein periodischer Verlauf der gleichen gezeitenerzeugenden Kräfte des Mondes (siehe Abbildung), d. h. durch die Erddrehung wird der »Wellenberg« nur positionell verlagert.
Verteilung der horizontalen Komponenten der gezeitenerzeugenden Kräfte. Im Zenit Z steht der Mond über dem Äquator.
1.4 Gezeiten in den Ozeanen
Die Erde ist strenggenommen keine Kugel, und ihre Oberfläche ist mit Kontinenten und Ozeanen bedeckt. Durch die unterschiedlichen Anziehungskräfte wird die Erde gestreckt bzw. gedehnt. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass die Gezeitenkräfte so gering sind, dass die eher festen Landmassen sich kaum ausdehnen. Dagegen kann das flüssige Wasser der Ozeane stärker auf die Gezeitenkräfte reagieren.
Die Wasseroberfläche der Ozeane ist stets bestrebt, sich senkrecht