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Kafkas Reise durch die bucklige Welt: Roman
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eBook326 Seiten4 Stunden

Kafkas Reise durch die bucklige Welt: Roman

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Über dieses E-Book

Keineswegs ist Franz Kafka 1924 in einem Sanatorium in Wien gestorben, wie die Welt glaubt. Seinen Tod hat er nur vorgetäuscht. Jetzt in den Nachkriegsjahren führt er ein unaufgeregtes Leben in Meran, von niemandem erkannt. Die erfolglose Schriftstellerei hat er aufgegeben, stattdessen arbeitet er als Billeteur in einem Kino.
Eines Nachts führt ihn der Zufall mit Marek Hłasko zusammen, einem jungen Schriftsteller aus Polen. Das ungleiche Paar organisiert sich kurzerhand ein Fahrzeug, einen Fiat Ollearo, und die beiden brechen auf zu einer Reise. Ihr surrealer Trip führt sie nach Graz, Wien und München. Die Gespräche mit Hłasko und die Abenteuer unterwegs wecken bei Kafka Erinnerungen an eigene Werke und an Stationen seines früheren Lebens, zum Beispiel an die aufregende, aber kurze Beziehung zu Milena Jesenská, an seine letzte große Liebe Dora Diamant oder an das schwierige Verhältnis zu seinem Vater.
SpracheDeutsch
Herausgeberlichtung verlag
Erscheinungsdatum7. März 2024
ISBN9783941306660
Kafkas Reise durch die bucklige Welt: Roman

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    Buchvorschau

    Kafkas Reise durch die bucklige Welt - Bernhard Setzwein

    1

    Nun hatte es sich der Doktor, immerhin war er schon siebenundsiebzig Jahre alt, doch noch so einzurichten gewusst, dass er sagen konnte: Das Leben ist unproblematisch. So unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind ja nur wir Lenker, weil wir nicht wissen, wie man das Leben zu fahren hat. Auch diejenigen, die eine Mitfahrgelegenheit suchen, können ein Problem sein, indem sie den Lenker irritieren, manchmal sogar unvermittelt ihm ins Steuer greifen, sie sind schuld, wenn das Leben im Graben landet. Schließlich die Straßen selber mit ihren hinterhältigen Straßengräben, die gehören zu den problematischsten Seiten der Lebensfahrt überhaupt. Sie machen die Sache erst so richtig kompliziert, weil sie nicht einfach geradeaus führen, an einen Ort, von dem man behaupten könnte, er sei das Ziel. Die unablässige Bosheit der Straßen besteht darin, Kurven zu machen, insbesondere in einem alpinen Gelände wie dem rund um Meran, wo der Doktor nun schon seit geraumer Zeit lebte.

    Er war hier nach dem Krieg untergetaucht, in dieser hinter dem Alpenhauptkamm gut verborgenen Gegend. Niemand aus seinem alten Leben wusste, dass er hier war. Freilich, es waren die meisten von früher auch schon tot, umgebracht in Lagern, die man jetzt, da das volle Ausmaß des Grauens nach und nach offengelegt wurde, anfing, Tötungsfabriken zu nennen. Von seiner Familie war es allein dem Doktor gelungen, sich zu retten, was ausgerechnet ihm niemand zugetraut hätte. Alle waren sie der Meinung gewesen: Der Doktor ist sowieso verloren.

    War er aber nicht. Oder höchstens verloren im Sinne von verschwunden. Seit dem vierundzwanziger Jahr war er das. Damals hatten alle geglaubt, er sei gestorben. Und fingen an, ihn posthum hochleben zu lassen. Während er, nach langem Hin- und Hertreiben durch die Mitte Europas, sein ideales Versteck gefunden hatte. In einer Gegend freilich, die herausforderte, das hatte er schnell bemerkt und das gefiel ihm auch. Er musste sie ja, in seinem Alter, nicht noch selber ausprobieren, all die rasiermesserscharfen Grate, Klettersteige, Steilwände und halsbrecherischen Passstraßen, aber zuschauen vom sicheren Platz am Rand her, das mochte er schon. Und somit auch ein wenig teilhaben an dem Gefühl, das einem sagte: Solange man dem Absturz entkommt, ist man am Leben. Und das Am-Leben-Sein war das Unproblematischste überhaupt, vorausgesetzt man hatte seinen Tod, so wie der Doktor, schon hinter sich.

    Dann war es möglich, sich allem auszusetzen, sogar einer Bergwelt wie der rund um Meran. Außerdem schien hier 300 Tage im Jahr die Sonne. Genau das Richtige für den Doktor, der noch immer dieselbe dunkle Hautfarbe trug wie in seinen jungen Jahren. In einer solcher Gegend war man vom ersten Tag an überredet zum Übermut. Und wenn’s nur das Zuschauen beim Übermut der anderen war, der Jüngeren, Risikofreudigeren. Das Fenster zur Gasse hatte der Doktor dieses Lebensgefühl einmal genannt, und jenes Fenster hatte er schon früh als Ausweg für all diejenigen erkannt, die verlassen lebten, so wie er. Nur waren es längst nicht mehr Pferde und in ihrem Gefolge Wagen und Lärm, die einen zu menschlicher Eintracht mitrissen, sondern beispielsweise Motorradfahrer. Lärm machten die sogar noch mehr, und so sah der Doktor ihnen gerne hinterher, wie sie das Passeiertal hinaufjagten, um sich dem Jaufenpass in kämpferischer Absicht zu stellen. Sie, die neuen Âventiure-Ritter, waren bereit für Abenteuer, bei denen ihr Leben jederzeit aus der Kurve fliegen konnte … und scherten sich nicht darum. Das war es, was dem Doktor imponierte.

    Solche Schauspiele auf der Messerschneide zwischen Leben und Tod hatte er schon viele Jahren zuvor beobachten können, im neunzehnhundertneuner Jahr, als er nämlich mit seinem Prager Freund Max Brod unterwegs gewesen war. Damals waren sie auch schon durch Südtirol gekommen und hatten die verwegenen Haarnadelkurvenkünstler erlebt, die immer halb über den Abgründen hingen, um im allerletzten Moment dem drohenden Absturz doch noch davonzurasen auf ihren höllischen Motorrädern der ersten Generation. Und dann erst die noch viel tollkühneren Frauen und Männer in ihren fliegenden Kisten bei der Flugschau in Brescia, dem eigentlichen Ziel ihrer Reise. Denen genügten die Straßen und Kurven unten auf der Erde nicht und daher gravierten sie die aberwitzigsten Serpentinen oben in den Himmel, mit den Dunststreifen aus ihren Etrichmotoren. Die schrieben dann in den lombardisch blauen Himmel, das Leben ist unproblematisch, und der junge Doktor hatte ungläubig zu dieser Wahrheit hinaufgestaunt und sie gerade noch entziffern können, ehe die Geheimschrift auch schon wieder verschwunden war.

    Vielleicht war es aber auch einfach nur eine Vision des Zukünftigen gewesen und ein kurzer Fingerzeig des Himmels, dass das Glück, wenn überhaupt, südlich des Alpenhauptkammes zu finden war, jedenfalls nicht im grauen, oft nebeligen Prag, woher die beiden jungen Männer gekommen waren. Dass das Mütterchen, das sie zur Welt gebracht hatte, Krallen hatte und nie loslassen würde, war eine Tatsache, die dem Doktor lange schon bewusst gewesen war, er hatte sie einfach nur nicht ändern können. Dazu hatte noch sehr viel passieren müssen. Tode waren zu sterben gewesen und eine Neu- und Wiedergeburt durchzumachen. Aber dann landete er doch noch dauerhaft hier im Paradiesgarten, wo Palmen, Pinien und Zedern in der Erde wurzelten und ganzjährig wuchsen und der Himmel voller Trauben und Äpfel, Walnüsse und Kastanien hing, lauter Geschenke der Natur, die längst zu seiner Leibspeise geworden waren. Er ernährte sich von nichts anderem mehr, Kochschokolade und Vanillenudeln vielleicht ausgenommen.

    Und noch etwas kam hinzu: Man sprach hier deutsch, wenn auch nicht auf den Ämtern und am Gericht. Aber das kannte er ja schon von Prag nach 1918 her, und das hatte er auch gemeistert, ja es hatte ihn sogar inspiriert. Deutsch sprach man hier in der ehemaligen Grafschaft unterhalb der offiziellen Sprache, im Geheimen, es war ein Sprechen wie in Katakomben, kam es dem Doktor vor, vielleicht auch aufgrund der Enge der Gassen unterhalb des Pulverturms, der viel zu schmalen Himmelsausschnitte über manch kleiner Piazza im Steinach-Viertel. So wie es einmal ein Prager Deutsch gegeben hatte, mittlerweile war es verschwunden, auf ewig und immer, so gab es hier gleichfalls ein anderes Deutsch, immer noch, ein kleines, ohnmächtiges, das der Doktor, trotz der vielen Jahre, die er jetzt schon hier wohnte, nicht immer in allen Augenblicken des Alltags verstand. Aber das machte nichts. Er liebte dieses Deutsch und er würde es verteidigen, so wie er seinerzeit das Deutsch der Niklasgasse, des Altstädter Rings, der Geistgasse und des Ghettos verteidigt hatte. Nicht indem er etwas aufschrieb, das Schreiben hatte er aufgehört, längst schon. Oder doch wenigstens völlig in sich hineinverlegt, hineinversenkt, ohne jede äußeren Anzeichen wie Schreibgerät und Papier. Wenn es noch da war, war es ein heimliches Schreiben geworden, ein in ihm vergrabenes, er fuchtelte nicht mehr mit der Axt in der Schreibhand wie wild herum, er war ganz ruhig geworden. Wenn er am Feierabend – er ging noch immer einem Brotberuf nach, sein inszenierter Tod hatte ihn aller Pensionsansprüche beraubt – in seiner winzigen Wohnung saß oder in einer der Trattorien, dann sah er zwar noch immer den Vorbeigehenden nach, hörte ihren Gesprächen hinterher, aber nichts davon schrieb er mehr auf. Er war still geworden. So still, dass er manchmal glaubte, ein leises Knacken und Splittern tief in sich drinnen zu spüren und zu hören. Dann wusste er: Die Axt, für die er das Schreiben immer gehalten hatte, war jetzt tatsächlich angekommen, sie arbeitete an dem gefrorenen Meer in ihm, und keiner würde auch nur das Geringste davon erfahren.

    2

    Endlich hatte der Doktor doch noch sein Erez Israel gefunden, nur dass es unerwarteterweise die Gestalt eines liebenswürdigen Südtiroler Städtchens angenommen hatte. Auswanderungspläne mit dem Ziel Palästina waren längst ad acta gelegt und vergessen. In seinem alten Leben hatte er an einem bestimmten Punkt geglaubt, dass er niemals aus Böhmen hinausfinden würde, dass er nur mehr auf Prag eingeschränkt sei (und da, genau genommen, auch nur auf die wenigen Straßenzüge rund um den Altstädter Ring), dann auf sein Zimmer, schließlich sein Bett, letztlich auf eine bestimmte Körperlage und dann … auf nichts mehr. Auf eine solche Möglichkeit, wie sie ihm dann Meran angeboten hatte, hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt.

    Bald nachdem er hier gestrandet war, hatte er sich aufgemacht, eine Stellung zu finden. Der Besitzer des Apollo war schließlich nachsichtig gewesen und hatte über das fortgeschrittene Alter des Doktors großzügig hinweggesehen. Schließlich suchte er für sein winziges Kino, es hatte nur einen einzigen Vorführraum, dringend einen Billeteur, idealerweise jemanden, der durch seine Erscheinungsweise ein gewisses Gegengewicht zu der schrulligen Alten darstellen würde, die er gezwungen war, an der Kasse zu beschäftigen. Als der Doktor zur Bewerbung in seinem obligaten Dreiteiler erschien, hatte er im Grunde schon so gut wie gewonnen, denn dem Kinobetreiber war sofort klar, ein solcher Herr, noch dazu mit solchen Umgangsformen, wie sie sich ihm im Gespräch schnell offenbarten, würde sein bescheidenes Filmtheaterchen zu einem fast schon Lichtspielpalast aufwerten. Außerdem erhoffte er sich, dass sein vorwiegend jugendliches Publikum den neuen Billeteur aufgrund seiner Erscheinung als Respektsperson ansähe und es nicht mehr wie in der Vergangenheit dazu kommen würde, dass sich besonders gewitzte Halbstarkenbürscherl einfach ohne Eintrittskarte in die Aufführungen hineinmogelten.

    Dem war auch so. Zumindest in der Anfangszeit der neuen Aufgabe für den Doktor. Er nahm sein Amt als Einlasskontrolleur zum Kinomatographenparadies gerade so ernst wie all die Türwächter in seinen Geschichten, die er früher geschrieben hatte. Das heißt, an ihm war unmöglich ein Vorbeikommen. Und doch mochte er die vielen jungen Menschen, die das Kintopp genauso liebten, wie er es geliebt hatte in seinen jungen Jahren. Mit der Zeit wurden sie immer vertrauter, die Kinogeher und der Billeteur, bis er ihnen sogar eines Tages seinen Vornamen verriet. Von da ab war er für alle nur mehr der »Franz«, den man alles fragen konnte, die große, weite Filmwelt betreffend. Er wusste nicht nur, was die kommende Woche auf dem Programm stehen würde, er konnte beinahe jeden beliebigen Film, auch der Vergangenheit, in einer kurzen Inhaltsangabe zusammenfassen, die auftretenden Stars beim Namen nennen und vor allem ein stets treffendes Urteil darüber abgeben, ob sich der Besuch der Aufführung lohne oder nicht. Und so konnte es irgendwann nicht mehr ausbleiben, dass »der Franz« in seiner Gutmütigkeit den einen oder die andere durchwinkte, wenn er den Eindruck hatte, er oder sie müsse unbedingt La Dolce Vita von Fellini oder die Schachnovelle mit Curd Jürgens sehen, auch wenn gerade unglücklicherweise das nötige Kleingeld dazu fehlte. Vor allem bei jungen Pärchen konnte er nicht anders, als ein Auge zuzudrücken. Zu oft war er dann nämlich an seine eigenen jungen Jahre erinnert, als er für seine Sinn- und Nutzlosigkeit, seine grenzenlose Einsamkeit nur mehr die eine Rettung wusste, nämlich ins Kinomatographentheater zu gehen, der einzige Ort, wo er weinen konnte und denken, »ich bin ganz leer und die vorüberfahrende Elektrische draußen auf der Straße hat mehr lebendigen Sinn als ich«.

    In der Straße vor dem Apollo Kino fuhr allerdings gar keine elektrische Tramway. Auch saßen hier nur glückliche Menschen, die meisten in Umarmungen mit denjenigen, die sie begleiteten. So jedenfalls kam es dem Doktor vor, wenn er von seinem Notsitz aus ganz hinten im kleinen Vorführungssaal dies alles betrachtete. Und er selber durfte mit dabei sein in diesem magischen, rubinfarbenen Raum, wenn die bewegten Höhlenbilder vorne über die große Leinwand flimmerten. Am frühen Nachmittag spazierte er meist noch den Weg zur Pferderennbahn hinaus und wieder zurück, und um fünf Uhr nachmittags begann dann seine Arbeit, die ihm der Himmel geschickt haben musste, obwohl er an den gar nicht glaubte. Der Verdienst war gering, und es dauerte auch nicht lange, bis der Doktor begriff, dass der Besitzer des Apollo selber in beträchtlichen Geldnöten steckte. Aber das alles machte nichts, weil der Doktor brauchte nicht viel, er bewohnte ja lediglich ein möbliertes Zimmer bei der Familie Wischkin. Das heimliche Glück, jeden Tag, ganz hinten im Kinosaal auf dem Notsitz versteckt, gleich mehrere Filme sehen zu dürfen und das verzauberte Kinogeherpublikum mit dazu, war sowieso mit keinem Geld aufzuwiegen. Und so kam der Doktor letztlich zu dem Schluss: Alles war gut.

    Freilich gab es auch immer wieder Zwischenfälle, Nichtigkeiten, abgefeimte Versuche, ihn spüren zu lassen, dass seine Tarnung durchschaut werden konnte. Einzelne, besonders gemeine und böse nicht Mit-, sondern Gegenmenschen versuchten gar, ihn ansatzweise all das spüren zu lassen, was zum Beispiel seinen Schwestern samt deren Familien angetan worden war. Doch das, was er im Vergleich zu seinen Angehörigen auszuhalten hatte, waren Bedeutungslosigkeiten und gingen als Angriff im Grunde ins Leere. Auch wusste der Doktor sich dagegen zu schützen. Er verkroch sich in einem labyrinthischen Bau, den er unterhalb der Lebensoberfläche der alltäglichen Verrichtungen anlegte, kein Mensch hatte die geringste Ahnung davon. Zusätzlich tarnte sich der Doktor mit größtmöglicher Distanziertheit und einer stets nur lächelnden Einsilbigkeit, die nicht wenige für eine Form erstaunlich kultiviert wirkenden Blödseins hielten.

    Daher ließen die allermeisten den Doktor so sein, wie er war, und billigten ihm die Rolle eines Sonderlings zu. Jedes Städtchen sollte eine Handvoll von ihnen haben, warum also nicht auch Meran? Wenn tatsächlich einmal irgendwo, in einer Espresso-Bar oder in der Warteschlange vor einem Ufficio postale, das Zischen oder Fauchen irgendwelcher Ewiggestrigen hörbar wurde, dann hätte der Doktor eigentlich allen Grund gehabt, das nicht auf sich zu beziehen, es wusste doch niemand etwas Näheres über ihn. Im Grunde blieb rätselhaft, wer gemeint sein sollte, wenn in hasserfüllter, unterdrückt mordgieriger Weise geraunt wurde, ob die denn noch immer da seien und warum man die oder den, jene oder jenen eigentlich beim Vergasen vergessen habe. Im dreiundvierziger Jahr hatte man die letzten dreihundert Meraner Jüdinnen und Juden zusammengetrieben und weggebracht, so gut wie niemand von ihnen kam mehr zurück und folglich konnte es im Grunde gar keine Adressaten mehr für solcherlei Anfeindungen geben. Wenn der Doktor also in einem ungeschützten Moment und während eines plötzlichen Erschreckens eine dieser giftigen Verwünschungen aufschnappte und auf sich bezog, war das allein sein Problem. Denn niemand ahnte das Geringste über seine Abkunft mütterlicherseits von den Löwys aus Podiebrad und von den landjüdischen Fleischhauern der Vaterfamilie aus Wossek. Er konnte also gar nicht gemeint sein. Und was das Problem in seiner Grundsätzlichkeit betraf, da hatte er doch bereits seit seiner Kindheit damit zurechtkommen müssen, dass es auf dem gesamten Erdball nicht einen einzigen Platz gab, nirgendwo, wo nicht Leute lebten, die einen bis zur Mordlust gehenden Hass auf Menschen wie ihn hatten. Warum also nicht auch in Meran? Was half es? Am besten, man legte sich eine Art Käferpanzer zu, etwas, was der Doktor schon vor Zeiten getan hatte. So ließ sich dann auch in Meran leben. Und gar nicht einmal schlecht.

    3

    Das hatte der Doktor schon bei seinem ersten Besuch 1920 festgestellt, da war er noch als Kurgast gekommen und drei Monate lang geblieben. In der Maiastraße in der Pension Ottoburg war er untergekommen, nachdem er zuvor zwei Nächte im Hotel Frau Emma in der Nähe des Bahnhofs logiert hatte. Schnell hatte er eingesehen, der Frau Emma nicht gewachsen zu sein, sie war eben das erste Haus am Platz und für den Doktor schlichtweg zu nobel. Er suchte sich besser etwas Günstigeres und bezog schließlich ein Zimmer in der Pension Ottoburg. Dort logierten ausschließlich Kurgäste, die Linderung für ihre sie nur mäßig einschränkenden Leiden suchten. Der Doktor mit seinen 37 Jahren – vom Aussehen her wirkte er bedeutend jünger, beinahe wie ein Student – stach unübersehbar aus dem Gesamtbild der Ottoburg hervor. Es wurde nämlich fast nur von Rentiers und Pensionären bestimmt, allesamt in Begleitung ihrer Gattinnen, die sich aus Mitleid, ehelicher Solidarität und Praktikabilität dieselben Malaisen zugelegt hatten wie ihre Männer. Dass der gutaussehende junge Herr aus Prag, der sich nur vorübergehend von seinem Beamtendienst in der Prager Arbeiter- und Unfallversicherung hatte freistellen lassen, alleine reiste, wurde genauestens registriert und hinter vorgehaltener Hand auch kommentiert. Darüber hinaus hatte niemand Gravierenderes an ihm auszusetzen. Allenfalls sein auffälliges Bemühen, stets allein zu bleiben und sich abzusondern, fand nicht bei allen Billigung.

    Vor allem ein aus Deutschland stammender pensionierter Armeeoberst mochte es aufgrund seiner früheren Profession gar nicht leiden, wenn jemand versuchte, sich von der Truppe zu entfernen. Zum Beispiel indem er sich einbildete, er könne sein Abendessen im Speisesaal ganz allein an einer Art Katzentisch einnehmen. Wieder und wieder forderte der Oberst den jungen Prager auf, sich doch zu ihnen an den Tisch zu setzen, eine immer mehr den Befehlston annehmende Einladung, der sich der Doktor schließlich nicht länger entziehen konnte, wollte er nicht eine tatsächliche Brüskierung riskieren. Und so saß er denn nach kurzer Zeit und für den Rest seiner drei Meraner Monate an einer Tafel zusammen mit dem Oberst, dessen Frau sowie einem weiteren Ehepaar, das aus Graz stammte, wo der Mann einen Laden für Eisenwaren betrieb. Zu einem weitergehenden Austausch mit den Grazern konnte es freilich vorerst nicht kommen, weil im Folgenden der Einzige, der bei diesen Abendrunden das große Wort führte, der Oberst war.

    Er kommandierte die Conversation so, wie er wahrscheinlich im Ersten Weltkrieg irgendwo an der Westfront seine Truppenteile kommandiert hatte. Kaum hatte sich der Doktor mit an den Tisch gesetzt, schickte der Oberst seine ersten Angriffswellen gegen ihn los, indem er dessen eigenartige Ernährungsgewohnheiten ins Trommelfeuer seiner Nachfragen nahm. Die Provokation begann ja im Grunde schon damit, dass sich der junge Mann aus Prag sein eigenes Essen an den Tisch mitbrachte, anstatt sich vom Personal der Ottoburg das vorbereitete Menü auftragen zu lassen. Sein Speiseplan für das Abendessen bestand lediglich aus Nüssen, Äpfeln und gelegentlich einem Glas Milch. Der Oberst besah sich das jeden Abend aufs Neue so, als ob ihm gerade der größte Essensfrevel seit der Erfindung des Feuers präsentiert werde. Er nahm die feindliche Frontlinie sofort unter Dauerbeschuss, indem er eine Frage nach der anderen abfeuerte, ungefähr des Inhalts, wozu dieser ganze Unsinn überhaupt gut sei – etwa das Herumkauen auf jedem einzelnen Bissen, bis davon nichts mehr übrig sei als ein völlig gleichförmiger Brei.

    Der Doktor hätte erklären wollen, dass er sich bereits seit vielen Jahren, im Grunde seit seinem Kuraufenthalt bei Dr. Lahmann in dessen Sanatorium Weißer Hirsch bei Dresden, eingehend mit Fragen einer gesunden Lebensführung beschäftigt habe. Buchstäblich seine Leib- und Magenlektüre seit dieser Zeit sei das Hygienische Kochbuch zum Gebrauch für ehemalige Curgäste. Dort lese man nicht nur von der richtigen Speisenwahl, sondern auch von der sachgemäßen Zubereitung in Form von Bettelmann-Aufläufen, Grünkern-Puddingen und vegetarischen Ragouts. Von Fleisch kein einziges Wort bei Lahmann! Und dann erst der richtige Verzehr, von dem hätte er noch reden wollen. Exakte zweiunddreißig Mal sei jeder Bissen zu kauen, man müsse förmlich den Versuch wagen, beim Essen zu verhungern, erst dann sei es richtig praktiziert. Und das Müllern müsse unbedingt auch noch dazukommen, die Leibesübungen bei geöffnetem Fenster, wie sie der dänische Gymnasialturnlehrer Johann Peder Müller empfehle, auch davon hätte der Doktor noch gerne begeisterte Reden geführt … aber er sah schon an den Gesichtern der anderen, dass er damit nicht weit kommen würde. Man las ihnen förmlich den Unglauben ab: Wie konnte das alles richtig sein, wenn es den jungen Mann, der nicht einmal halb so alt war wie die Fleischesser am Tisch, offenbar schon seit Jahren von einem Sanatorium ins nächste verschlage? Und helfen konnte ihm offenbar niemand, war er denn schon so etwas wie ein hoffnungsloser Fall? Dem Doktor fielen wieder all die Gespräche ein, die er daheim am elterlichen Essenstisch hatte führen müssen, vor allem mit dem Vater, dem Fleischerssohn aus Wossek, und die hatten auch immer damit geendet, dass sich der Vater ein weiteres Bratenstück nahm, es sich reichlich mit Soße übergoss und die Debatte damit beendete, dass er sagte: Komplett meschugge müsse man sein, wenn man all diesen Unsinn glaube. Kampflos überließ der Doktor daher dem Oberst das Feld.

    Als alter Praktiker und Taktiker des Kriegshandwerks wusste der aber nur zu genau, wenn er jetzt nicht nachsetzte, würde er einen großen Fehler begehen. Er blinzelte den jungen Herrn aus Prag, der sich partout zu keinem Widerspruch provozieren ließ, schon eine Spur feindseliger an und brachte, sehr zum betreten schweigenden Missfallen der Damen am Tisch, die Politik aufs Schlachtfeld des ganz allein von ihm dominierten Gesprächs. Ob er schon einen Verdacht hatte und genau wusste, welche Schwachstelle in der Deckung des Gegenübers er nun offenzulegen hatte? Er machte jedenfalls eine überraschende Ausfallbewegung, als er eines Abends plötzlich in Richtung typisch jüdische Lumpereien losstürmte und die übrige Tischgesellschaft damit überrumpelte. Aus irgendeinem Grund war man auf die erst wenige Monate zurückliegenden Münchner Ereignisse zu sprechen gekommen, womit nichts anderes gemeint war als der Umsturz, die Revolution und die Münchner Räteregierung, die in den Augen des Oberst das allergrößte Übel darstellte. Gott sei Dank sei der innerhalb kürzester Zeit der Garaus gemacht worden, und zwar durch Männer wie ihn, Männer vom Fach, Militärfach. Die hatten eilig Truppen zusammengestellt, kernige Burschen aus dem Oberland, wo jeder brave Patriot seinen Karabiner im Bauernschrank versteckt hielt, und mit denen war man in Richtung München marschiert, wo man leichtes Spiel gehabt hatte. Denn im Sündenpfuhl am Isarufer hatte man es ja beinahe durchwegs nur mit verweichlichten Kohlrabiaposteln und Jesuslatschenjüngern zu tun gehabt, über die mit echten Knobelbechern schnell hinweggetrampelt war.

    Der Hauptfeind waren dabei die Aufwiegler zu dieser sogenannten Novemberrevolution gewesen, allesamt Juden und zwar von der allerschlimmsten Sorte, nämlich grässliche Machwerke zusammenschmierende Literatenjuden. Die hatten das alles angezettelt und die waren völlig zu Recht, wie der Oberst fand, ohne viel Federlesens sofort an die Wand gestellt worden oder in den Zuchthäusern, in die man sie warf, auf wenig überraschende Weise tödlich verunglückt.

    »Was sagt man da?«, bot der Oberst in seinem Redeschwall eine kurze Gelegenheit zum Einhaken an, die aber niemand zu ergreifen die Geistesgegenwart besaß. Und so konnte der Oberst abschließen: »Ein Segen ist das für Deutschland, dass es mit diesen mosaischen Bengeln und diesen jüdischen Frechheiten so schnell ein Ende hatte.«

    Immer wieder kam er auf dieses Thema zurück, auch an den folgenden Abenden, und immer insistierender wollte er wissen, was denn der junge Herr aus Prag zu der ganzen Angelegenheit meine. Man sah dem jungen Mann an, wie sehr er unter diesen ständigen Nachfragen litt. Der Doktor wand sich wie eine Schlange, die man mit einer Astgabel unmittelbar hinter dem Kopf auf die Erde drückt. Wie alle klugen Schlangen blieb er dabei vollkommen stumm. Dennoch war das Schauspiel kaum mehr auszuhalten. Diejenige, die es schließlich gar nicht mehr ertrug, war die Ehefrau des Grazer Eisenwarenhändlers. Sie war es, die sich in der höchsten Not dem Doktor zuneigte, um ihm zuzuflüstern, leise, aber nicht leise genug, sodass es alle hören konnten: »So sagen Sie es doch ruhig, man kann es doch zugeben, sagen Sie es, dass Sie selber Jude sind.« Sie wollte einfach nur, dass das ständige

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