Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Persische Rochade: Kriminalroman
Persische Rochade: Kriminalroman
Persische Rochade: Kriminalroman
eBook236 Seiten2 Stunden

Persische Rochade: Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Sommer 2013.
Ein vermeintlich unbeschwerter Urlaub entwickelt sich für Kriminalkommissar Nikos Pavlides und seine Partnerin Penelope Livanou zu einem atemberaubenden Rennen gegen die Zeit. Können sie ein drohendes Kapitaldelikt vereiteln?
Mitten in der griechischen Wirtschaftskrise wird die ägäische Ferieninsel Kos zu einem geopolitischen Brennpunkt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. Jan. 2023
ISBN9783347833265
Persische Rochade: Kriminalroman
Autor

T. H. Isaak

T. H. ISAAK ist Telemachos Hatziisaak. Der Arzt und Autor von Politthrillern lebt und arbeitet in der Schweiz. MAGNETSTURM ist sein vierter Pavlides-Roman. Bisher sind KALTE ALLIANZ (2011), SABOTAGEAKT (2013) und HASARDEUR (2015) erschienen.

Ähnlich wie Persische Rochade

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Persische Rochade

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Persische Rochade - T. H. Isaak

    Bulgarien, Kernkraftwerk Kozloduj

    Freitag, 31. März 2006

    «Nehmen Sie Platz, Nedeltschew.»

    In der Regel bedeutet es nichts Gutes, wenn man zum Chef ins Büro beordert wird.

    Bojko Menoski ist ein Stück Scheisse, das von der New Economy in den Neunziger Jahren hervorgebracht wurde. Ein rechthaberischer und cholerischer Lackaffe. Ein Ökonom, der wesentlich daran beteiligt war, das bulgarische Energieproduktions-System herabzuwirtschaften. Nein, zu euphemistisch. Er hat es an die Wand gefahren, zu Tode rationalisiert. Natürlich sieht er selbst das ganz anders: Er hat die bulgarische Stromproduktion fit getrimmt. Er hat sie konkurrenzfähig gemacht. An westliche Standards angepasst. Und wie sie sonst alle noch so lauten, diese manipulativen Floskeln neoliberalen Selbstbetrugs.

    «Ich habe hier den Untersuchungsbericht der Aufsichtsbehörde vor mir liegen», eröffnet Menoski das Gespräch und blättert in einem vor ihm liegenden, spiralgebundenen Dossier. «Die INES ordnet den Störfall auf Stufe zwei ein. Sie selber haben mir aber versichert, es handle sich um eine einfache Abweichung ohne sicherheitstechnische Bedeutung. Also INES-Stufe null. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?»

    Mit strengem Blick und spitzem Mund, so als hätte er sich an einer Tasse Espresso die Lippen verbrüht, lehnt er sich zurück in seinen Zweitausend-Dollar-Chefsessel. Alcantara vom Feinsten. Menoski ist kein Nuklearwissenschaftler. Er hat von Kernphysik etwa so viel Ahnung wie von Darmchirurgie oder Ikebana. Aber trotzdem ist er Nedeltschews Vorgesetzter. Eine weitere Segnung des Neoliberalismus’.

    1995 wurde er ihm einfach vor die Nase gestellt. Ein fünfunddreissigjähriger Exilbulgare, der nach seinem Abschluss in Ökonomie an der Universität Heidelberg direkt den Eingang in die Teppichetage eines deutschen Energiekonzerns gefunden hatte. Bei der Übernahme des bulgarischen Kernkraftwerks durch den erwähnten deutschen Konzern erfolgte gleich auch die Einsetzung des neuen Managements, das sich aus Leuten zusammensetzte, die bis anhin am Hauptsitz in Düsseldorf residierten. Der Marschplan war klar: Das Kernkraftwerk – nun Teil einer neu gegründeten Tochtergesellschaft – für den Mutterkonzern rentabel machen. Und die Technologie mit deutscher Hilfe an den westlichen Standard anpassen. Wie anno Einundvierzig: Okkupation und Gleichschaltung.

    «Die Hauptkühlmittelpumpe war 36 Minuten lang ausgefallen. Unsere Techniker haben sie in kürzester Zeit repariert. Seither funktioniert sie wieder einwandfrei. Das ist ein Zwischenfall, der weltweit mehrmals pro Jahr vorkommt und einer INES-Stufe null entspricht.» Petar Nedeltschew bleibt gelassen und argumentiert mit der Nüchternheit eines Wissenschaftlers. Ein hochangesehener Kernphysiker. Absolvent des Moskauer Kurtschatov-Institutes für Nuklearphysik. Hauptverantwortlicher für den Bau und die Inbetriebnahme der Blöcke fünf und sechs, beides robuste Reaktoren sowjetischer Bauart mit einer Gesamtleistung von zweitausend Megawatt. Professor an der St. Kliment-Ohridski Universität von Sofia. Ehemals geachtetes Mitglied der heute bedeutungslosen, bulgarischen Kommunistischen Partei.

    «Die Pumpe interessiert mich nicht», entgegnet Menoski schroff. «Fakt ist, dass zweiundzwanzig der sechzig Steuerelemente in der oberen Position hängen geblieben sind. Das hätte in einer Katastrophe enden können. Ihnen aber ist nichts Besseres in den Sinn gekommen, als den Vorfall klein zu reden. Wissen Sie, wie Sie mich vor dem Minister haben aussehen lassen?»

    Im Grunde genommen ist es Nedeltschew egal, wie Menoski vor dem Minister für Energie und Umwelt ausgesehen hat. Scheissegal sogar. «Wir haben den Reaktor sofort nach Feststellen des Pumpendefektes ordnungsgemäss abgeschaltet und Borsäure hineingepumpt, wie es für einen solchen Fall vorgesehen ist. Es hat einwandfrei funktioniert. Für das Hängenbleiben der Steuerelemente kann man uns nicht verantwortlich machen. Die Zulieferfirma selbst hat unmittelbar danach bekannt gegeben, dass ein verändertes Design der Elemente zur Blockade geführt hat. Sie wurden mittlerweile ausgetauscht.»

    «Da habe ich aber ganz andere Informationen, Nedeltschew! Es hätte zur Kernschmelze kommen können! Das geht aus dem Bericht der Aufsichtsbehörde eindeutig hervor, und der Minister hat das mehrfach betont!» Er blättert demonstrativ und mit zerknirschter Miene in dem Bericht. «Sie haben mir wichtige Informationen vorenthalten, Nedeltschew. Und es ist nicht das erste Mal, dass Sie das tun!»

    «Kernschmelze? Kommen Sie, Menoski! Das ist verantwortungslose Stimmungsmache. Sie kennen doch Sidorow, den Chef der Aufsichtsbehörde. Hat er nicht im gleichen Konzern wie Sie in Deutschland gearbeitet? Als Berater für Atomenergieanlagen oder so? Ich weiss gar nicht, ob er überhaupt jemals einen Abschluss gemacht hat. Sidorow ist eine Marionette des Konzerns. Wir wissen doch schon lange, dass die wollen, dass auch die Reaktorblöcke fünf und sechs geschlossen werden, damit nur noch der Konzern Strom nach Bulgarien liefern kann und wir vom Exporteur zum reinen Importeur degradiert werden. Dafür stopft der Konzern Sidorow die Tausender bündelweise in die Taschen!»

    «Unterstehen Sie sich, solche Behauptungen zu äussern! Erst recht nicht in Ihrer Position! Ich habe Ihnen schon zu viel durchgehen lassen. Ich war immer sehr nachsichtig mit Ihnen. Ihre aufmüpfige Art, Ihre ständigen Affären, Ihr forderndes Auftreten. Und immer dieses altkommunistische Gejammer! Sie sind ein Ewiggestriger! Früher taten Sie so, als würden Sie arbeiten, und der Kommunistenstaat tat so, als würde er Sie dafür bezahlen. Diese Zeiten sind vorbei, Nedeltschew! Ich wiederhole: Vorbei! Heute zählt Leistung! Und diese wird endlich auch angemessen honoriert. Und das ist gut so! Ich habe Sie schon lange durchschaut: Sie sind immer darauf bedacht, einen Haufen Leute um sich zu scharen, die sie angeblich für Ihre Arbeiten brauchen. Mit einem Drittel des Personals könnte man diese Arbeiten erledigen, Nedeltschew! Ich habe den Sachverhalt unter ökonomischen Gesichtspunkten analysieren lassen. Mit einem Drittel! Und erst noch effizienter, denn dann übernimmt auch mal jemand die Verantwortung, wenn etwas nicht so läuft, wie es sollte. Sie hingegen verschanzen sich hinter Ihrer akademischen Fassade und labern unverständliches Zeugs, anstatt hinzustehen und einzugestehen, dass wir hier knapp an einer Katastrophe vorbeigeschifft sind!»

    Offenbar hat er sich auf das Gespräch gut vorbereitet. Es geht hier nicht um den Vorfall vom ersten März. Es geht hier um eine ordnungsphilosophische Debatte. Nedeltschew versucht die Diskussion wieder auf den Vorfall zu lenken. Ist wohl gescheiter so, denn Menoski hat sich allmählich in Rage geredet.

    «Seit dem dritten März produzieren wir wieder unter absolut stabilen Bedingungen Strom. Nicht mal achtundvierzig Stunden nach dem Zwischenfall haben wir die Produktion wieder aufs Maximum hochgefahren. Zu keiner Zeit hat die Gefahr einer radioaktiven Verseuchung bestanden. Geschweige denn eines ernsthaften Störfalles oder einer Katastrophe. Ich verstehe nicht, was Sie mit diesem Gespräch bezwecken wollen.»

    Menoski schüttelt verständnislos den Kopf. «Stur und uneinsichtig. Und rechthaberisch! Nedeltschew, Sie kotzen mich an, Sie Kommunistenschwein!»

    Das hat ihm noch nie jemand gesagt. Muss er sich das von Menoski bieten lassen? Ausgerechnet von diesem blasierten Geldbeutel? Von diesem Stück Scheisse, das von Stromproduktion keine Ahnung hat und nur auf die Kriterien der Wirtschaftlichkeit bedacht ist? Wirtschaftlich für wen, eigentlich? Sicher nicht für die nahezu vierhundert in den letzten zehn Jahren entlassenen Mitarbeiter und deren Familien! Nein! Wirtschaftlich ist der Betrieb für ihn selbst, sowie für seine Nadelstreifen-Anzüge tragenden Gebieter im deutschen Mutterkonzern. Menoski ist eine Art Gauleiter in der monopolisierten Energie-Landschaft des neoliberalen Wirtschaftsfaschismus.

    Nedeltschew steht vom wackeligen Besucherstuhl auf, Symbol des sozialen Unterschiedes im Vergleich zum robusten Chefsessel, auf dem Menoski sitzt, und stützt sich mit beiden Händen auf dem imposanten Schreibtisch ab. Seine Lippen verjüngen sich zu einem schmalen trichterförmigen Ausführungstrakt. Speichel sammelt sich im Vestibül zwischen Zahnreihen und Zunge an. Mit einer heftigen Kontraktion der perioralen Muskulatur stösst er schliesslich sein Geschoss aus. Das schleimige Mundwasser trifft sein Gegenüber gleich unterhalb des rechten Auges zwischen Wange und Nasenansatz. Gemächlich rinnt es, der Schwerkraft folgend, nach unten.

    Nedeltschew weiss: Das ist das Ende. Immerhin hatte er es nach der politischen Wende sechszehn Jahre ausgehalten. Bis heute. Aber nun hat er verloren. Er ist besiegt. Egal. Er hat die Schnauze voll. Irgendwie wollte er diese vulgäre Geste schon lange abziehen. Aber sein Ethos und seine Stellung in der Gesellschaft, die er notabene schon lange nicht mehr innehat, verboten es ihm.

    Nun aber reicht’s. Endgültig.

    Ukraine, Kiew, Nationale Taras Schewtschenko Universität

    Mittwoch, 11. Juni 2008

    «Bitte entschuldigen Sie mich, Herr Professor, darf ich Sie kurz stören?»

    Petar Nedeltschew schaut auf. Ein dunkelhaariger Mitdreissiger in Jeans und T-Shirt. Am Hals hängt ein Badge, der ihn als Konferenzteilnehmer ausweist. Current problems in nuclear physics and atomic energy. Es ist gerade Pause. Nedeltschew hat sich soeben einen Automatenkaffee herausgelassen, eine übelriechende Brühe, aber das kennt er nicht anders. Im Krankenhaus, wo er seit einem halben Jahr angestellt ist, schmeckt der Kaffee nicht besser.

    «Ja, bitte?»

    «Sie waren doch soeben auch am Vortrag von Pronyaev.»

    «Ja, warum?»

    «Was glauben Sie? Sollten die diskrepanten Daten im Zusammenhang mit den Querschnitten des Neutronenspektrums bei der Kernspaltung von Californium-252 revidiert werden?»

    Nedeltschew hebt die Augenbraue. Offenbar ein interessierter junger Kollege, der weiss, mit wem er es zu tun hat. Sein Englisch ist sehr gut. Natürlich mit Akzent, aber den hat ausser den Muttersprachlern jeder in der Community der Nuklearphysiker.

    «Nun, wenn man ein zuverlässiges Set von relevanten Reaktionen für die Detektion der schnellen Neutronenausbreitung schaffen will, dann kommt man nicht darum herum. Ich spreche von der Dosimetrie, wohl verstanden.»

    «Denken Sie, dass dieselbe Argumentation auch für alle diskrepanten Daten in Bezug auf Uran-235 gilt?»

    Ein Lächeln huscht über Nedeltschews Gesicht. Das letzte halbe Jahr war eine Qual. Im Team mit zweitklassigen Physikern, einer davon sein Vorgesetzter, und völlig ignoranten Ärzten, die sich Nuklearmediziner nennen, droht er zu verkümmern. Jeder Tag eine einzige Routine. Dieser internationale Kongress hier bietet ihm Abwechslung vom grauen Alltag. Hier kommt er in Berührung mit gleichgesinnten Kollegen, Forschern, die ebenfalls begeistert sind von ihrer Arbeit als Kernphysiker. Wie der junge Mann, der nun vor ihm steht.

    «Falls die Diskrepanzen das Resultat unzuverlässiger Messmethoden bei den mikroskopischen Querschnittanalysen sind, dann ja. Dann sollten diese Daten ebenfalls reevaluiert werden.»

    «Zehn Schwellenwert-Reaktionen wurden meines Wissens vor kurzem für die russische Datensammlung evaluiert.»

    «Und fünf Neutroneneinfangreaktionen», ergänzt Nedeltschew. Bei solchen Gesprächen fängt sogar der Kaffee an, besser zu schmecken. Genüsslich nimmt er einen Schluck. Aber nein. Er schmeckt immer noch nicht viel besser, als er riecht.

    «Ich sehe, Sie sind gut informiert», fährt er sogleich fort. Wie früher als er an der Universität dozierte. «Und ich kann Ihnen versichern, dass man damit im Vergleich zu den experimentellen eine deutlich bessere Konsistenz der kalkulierten Werte erhält.»

    Sein Gegenüber nickt interessiert. «Diese Thematik beschäftigt mich derzeit auch. Ich wäre interessiert, die Daten einzusehen.»

    «In welchem Kernkraftwerk arbeiten Sie?»

    «Fessenheim.»

    «Fessenheim! Frankreich, also. Sehr schön, sehr schön. 880 Megawatt Nettoleistung. Aber zahlreiche Zwischenfälle, nicht?»

    «Zweihundert in den letzten zwanzig Jahren, um genau zu sein. Aber immer nur INES-Stufen null und eins.»

    Verbittert denkt Nedeltschew an seine Jahre in Kozloduj zurück. Schöne Jahre des Schaffens. Aber alles vorbei. Wegen eines Zwischenfalls der INES-Stufe null! Daraus wurde ihm ein Strick gedreht. Ein fabrizierter Rausschmiss.

    Der junge Mann legt ihm seine Hand auf die Schulter. «Professor Nedeltschew, es tut mir leid, dass Sie in Kozloduj entlassen wurden. Ihre Arbeiten und Ihr Ruf waren tadellos. Sie sind eine Kapazität in Bezug auf den Betrieb von Kernkraftanlagen.»

    Danke für die Blumen, denkt sich dieser. Der junge Herr hat seine Arbeiten ganz offensichtlich gelesen. Nedeltschew ist gerührt. So schnell wird man ihn wohl doch nicht vergessen.

    «Könnten Sie sich vorstellen für uns zu arbeiten?»

    Überrascht hebt Nedeltschew den Blick. Hat er sich verhört? Ein Jobangebot an einer Konferenz in der Ukraine? Aus heiterem Himmel? Und erneut führt er sich seine jetzige Situation vor Augen. Klinik für Nuklearmedizin, Doktor-Georgi-Stranski-Krankenhaus, Plewen. Abgeschoben in die Provinz für den Rest seines Lebens. Berechnungen auf dem Niveau von Abiturienten.

    «In Fessenheim?», antwortet er noch immer perplex.

    «Nein. Im Iran.»

    «Im Iran? … Wie war doch gleich Ihr Name?» «Dariush Ferhadi.»

    Israel-Gazastreifen, Kerem Shalom

    Donnerstag, 15. November 2012

    Ein Bunker aus der Zeit des Sechstage-Krieges. Immer noch voll funktionstüchtig. Getarnt nach allen Regeln der Kunst. Drei Fahrzeuge in kurzer Gehdistanz. Eines davon ein militärischer Jeep. Nicht allzu konspirativ. Aber spielt auch keine Rolle. Eine leichte Anhöhe, rundherum der sandig, trockene Boden mit der typischen, genügsamen Vegetation: Sträucher, Büsche, Feigenkakteen, aber auch Kieferngewächse und Olivenbäume. Daneben urbar gemachtes Land, der Wüste entrissen, Gemüseplantage. Der Kibbuz ist von einer hohen Mauer mit Sicherheitszaun umgeben. Eine Gated Community. Es gibt nur einen einzigen Zugang, der aus aktuellem Anlass von Soldaten der israelischen Streitkräfte streng bewacht wird. Nur etwa sechzig Personen leben hier in Kerem Shalom. Die nächsten Siedlungen sind zwei, drei Kilometer entfernt. Näher ist die grüne Linie, die Grenze zum Gazastreifen. Waffenstillstandsabkommen von 1949. Gerade mal hundertfünfzig Meter entfernt vom Bunker. Die Bewohner des Kibbuz sitzen in ihren Häusern, jederzeit bereit in die gemeinschaftlichen Schutzräume zu fliehen. Eine unheimliche Stille herrscht, nur unterbrochen vom ständigen Gezirpe der Grillen. Und vom gelegentlichen, fernen Donnergrollen. Nein, kein aufziehendes Gewitter. Operation ,Wolkensäule’.

    Vor einigen Tagen hatten die Bombardierungen aus der Luft eingesetzt. Flächendeckend. Auf seine ehemaligen Kollegen ist Verlass. Sie beherrschen ihr Metier. Neid kommt auf. Wie gerne würde er in solchen Momenten in einer F-16 sitzen. Hundertdreissig Kilonewton Schub unter dem Hintern. Höchste Manövrierfähigkeit dank Fly-by-Wire Steuerung. Heftiges Kopfschütteln, um die Gedanken zu vertreiben.

    Was war er doch für ein Ass gewesen! Abi Cohen. Mit zweiundzwanzig Jahren jüngster Pilot unter den acht wagemutigen Fliegern, die 1981 ihre Kampfjets bis weit in den Irak hineingeflogen hatten. Die Helden der Operation ,Opera’. Ihre Mission: Zerstörung des sich im Bau befindlichen Atomreaktors Osirak nahe Bagdad. Bis an die Zähne bewaffnet flogen sie unter der Radargrenze über tausend Kilometer in feindliches Gebiet hinein. Mitten am Nachmittag. Jordanische und saudische Luftabwehr: Vernachlässigbar, da von wahren Verbündeten beliefert. Die Irakis hatten sie schliesslich mit einer Finte genarrt: Sie sprachen im Funkverkehr arabisch untereinander. Das Ziel war innerhalb von zwei Minuten zerstört und keine drei Stunden nach Beginn der Operation waren er und seine Kameraden wieder unversehrt in Etzion gelandet.

    Hühnerhaut, wenn er nur dran denkt. Das Gefühl jenes Adrenalinrausches kann er nach zweiunddreissig Jahren immer noch hervorrufen. Leider hält es nur ein paar Sekunden an. Beschissen, wie sich Erinnerungen zersetzen.

    Eine ruhmreiche Karriere bei der Israelischen Luftwaffe hatte damals ihren Anfang genommen. Dabei hatte er nichts anderes getan, als einen Befehl auszuführen. Als junger Leutnant. Als talentierter Pilot, zugegebenermassen. Aber diese Operation war ein bedeutendes Life Event gewesen, wie ihm seine Psychologin später erklärt hatte. Es folgte die Beförderung vom Flügelmann zum Schwarmführer. Vom Leutnant zum Hauptmann. Später zum Staffelführer im Majorsgrad. Und immer wieder Auslandsaufenthalte, Weiterbildungen. In den Staaten. Wo denn sonst. Die einzig wahren Verbündeten.

    Er zündet sich eine Zigarette an. Halb sechs Uhr nachmittags. Die Bodenequipe ist mit Installieren und Fine-Tuning beschäftigt. Diesmal soll es eine besondere Herausforderung werden. Insgesamt vier Kameras werden den Einsatz live übertragen und überwachen. Ein Verbindungsmann der Luftwaffe gehört heute auch zum Team. Dann sind da noch die bekannten drei Gesichter: Die Lady, ihr Schuhabtreter und der Schleimer. In was für eine Gesellschaft ist er bloss hineingeraten. Gut, Deborah hat zumindest Stil. Ein gerissenes Weib. Ihren echten Namen kennt er nicht. Obwohl sie schon seit zwei Jahren zusammenarbeiten. Ihn wundert, ob ihr Schuhabtreter, den sie Zvi nennt, ihren Namen ebenfalls

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1