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Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster: Aktuelle Fachbeiträge zur Prüfung wahrscheinlicher Tatmotive - Szenarien der Grundprobleme als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen
Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster: Aktuelle Fachbeiträge zur Prüfung wahrscheinlicher Tatmotive - Szenarien der Grundprobleme als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen
Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster: Aktuelle Fachbeiträge zur Prüfung wahrscheinlicher Tatmotive - Szenarien der Grundprobleme als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen
eBook957 Seiten10 Stunden

Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster: Aktuelle Fachbeiträge zur Prüfung wahrscheinlicher Tatmotive - Szenarien der Grundprobleme als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen

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Über dieses E-Book

Diese deutschen Tatorte erlangten traurige Berühmtheit: Eppstein-Vockenhausen (Freiherr-von-Stein-Schule, 1983), Eching und Freising (staatliche Wirtschaftsschule, 2002), Erfurt (Gutenberg-Gymnasium, 2002), Emsdetten (Geschwister-Scholl-Realschule, 2006), Würzburg (Kaufhaus am Barbarossaplatz, 2021, Berlin (Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, 2022), und jetzt schließlich auch Hamburg (Deelböge, Gemeindehaus der Zeugen Jehovas, 2023). Die Liste ließe sich problemlos verlängern. Die Namen sind nur allzu bekannt.

Aus Medienberichten - und viel zu oft aus eigener bitterer Erfahrung - ist Bürger*innen der Bundesrepublik der Begriff "Amoklauf" vertraut. Tatsächlich scheint es kaum Personen zu geben, die nicht eine recht dezidierte Meinung zum Thema "Amok" besitzen. Aber landläufige Klischees führen im Regelfall in die Irre: So sind zum Beispiel Amokläufer*innen keineswegs unzurechnungsfähige, plan- und ziellos mordende Berserker-Typen, sondern oft genug Mehrfachmörder*innen, die ihre Anschläge präzise und langfristig vorbereitet haben - und keineswegs "im Rausch" handeln. Die irrtümliche Interpretation der im Vollrausch handelnden Amokläufer*innen wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sogar in renommierten Enzyklopädien vertreten. Denn: Der Ursprung des Begriffes "Amok" ist wesentlich im malaiischen Kulturraum zu verorten. So bedeutet das malaiische Wort "Amuk" in unserer Sprache so viel wie "zornig", "rasend oder auch "blindwütig angreifen und töten".

Nun handeln Amokläufer*innen in unseren Breiten im Regelfall weder "blindwütig", noch sind alle diese Täter*innen paranoid bzw. zum Tatzeitpunkt einem paranoiden Anfall ausgesetzt. Diese Tatsache wird anhand der nachstehenden Kurzbiografien und Fallbeschreibungen deutlich erkennbar sein. Immerhin finden sich in unserer Zeit zu diesem Thema zahlreiche fachwissenschaftliche Texte mit aktuell-solidem Erklärungsversuch. Diese dürfen nicht allein auf den akademisch-fachlichen Bereich begrenzt werden. Sie müssen allen interessierten Bürger*innen offenstehen, denn alle sind wir in unserer Sicherheit und Lebensqualität von diesen fatalen Gewalttaten betroffen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. März 2023
ISBN9783347906891
Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster: Aktuelle Fachbeiträge zur Prüfung wahrscheinlicher Tatmotive - Szenarien der Grundprobleme als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen
Autor

Volker Mariak

Volker Mariak wurde in Hamburg geboren und ist dort aufgewachsen. Nach grafischer Lehre und zweijährigem Militärdienst, Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Abschluss: Diplom-Sozialwirt. In den Jahren 1976 bis 1981 Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg mit dem Abschluss Diplom-Soziologe. Promotion zum Dr. rer. pol. im Jahre 1986. Danach Studium der Kriminologie mit dem Abschluss Diplom-Kriminologe. Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg und später Lehr- und Forschungstätigkeit an einem Sonderforschungsbereich der Universität Bremen. Nachfolgend Leiter der Forschungsdokumentation und Senior-Projektleiter in einem privatwirtschaftlichen Regional- und Stadtforschungsinstitut. Primäre fachliche Interessengebiete: Ethik, Tierschutz, Kriminologie.

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    Buchvorschau

    Amok-Lagen in Deutschland - Volker Mariak

    Amok - Versuch einer Phänomenologie

    2. Notwendige Begriffsklärungen – Thematische Einführung

    Die aufgezeigten Vorab-Überlegungen sind nützlich, weil sie in den Problemkreis „Amoklauf" einführen. Sie ersetzen jedoch keine tiefere fachwissenschaftliche Betrachtung und Begriffs-Definition. Im nachfolgenden Textabschnitt wird diese eingehendere Erörterung angestrebt.

    2. 1. Amok: Zur Herkunft des Begriffes

    Aus Medienberichten und oftmals eigener bitterer Erfahrung ist den meisten Bürger*innen der Bundesrepublik der Begriff „Amoklauf vertraut. Tatsächlich scheint es kaum Personen zu geben, die nicht eine recht dezidierte Meinung zum Thema „Amok besitzen. Aber landläufige Klischees führen im Regelfall in die Irre: So sind zum Beispiel Amokläufer*innen keineswegs unzurechnungsfähige, plan- und ziellos mordende Berserker-Typen, sondern oft genug Mehrfachmörder*innen, die ihre Anschläge präzise und langfristig vorbereitet haben und keineswegs „im Rausch handeln. Die irrtümliche Interpretation der im Vollrausch handelnden Amokläufer*innen wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sogar in renommierten Enzyklopädien vertreten. Im Vokabular von „Meyers Konversations-Lexikon des Jahres 1888 lautet die Erklärung:

    „Amucklaufen (Amoklaufen, vom javan. Wort amoak, töten), eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, zum Beispiel auf Java, besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Kris (Dolch) bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden."

    (URL Seite „Amok; Quelle: Meyers Konversations-Lexikon, 1888, Stichwort: „Amucklaufen)

    Dass selbst noch im Jahre 2017 ein Kompendium wie der bekannte „Duden folgende irreleitende Auskunft beinhaltet, stimmt nachdenklich. Dort heißt es unter dem Stichwort „Amok:

    „[…] (malai.); Amok laufen ([in einem Anfall von Paranoia] umherlaufen und blindwütig töten)" (Duden, 2017, S. 191)

    Nun handeln Amokläufer*innen im Regelfall weder „blindwütig", noch sind alle diese Täter*innen paranoid bzw. zum Tatzeitpunkt einem paranoiden Anfall ausgesetzt. Diese Tatsache wird anhand der nachstehenden Kurzbiografien und Fallbeschreibungen deutlich erkennbar sein. Immerhin finden sich in unserer Zeit zu diesem Thema zahlreiche fachwissenschaftliche Texte mit aktuell-solider Erklärung:

    Der Ursprung des Begriffes „Amok ist zunächst im malaiischen Kulturraum zu verorten. So bedeutet das malaiische Wort „Amuk in unserer Sprache soviel wie „zornig oder „rasend. In der sehr informativen Forschungsarbeit zu Amokläufen an deutschen Schulen von Elstermann und Buchwald führen die Autorinnen aus:

    „Nach Adler bezeichnet der daraus abgeleitete Ausdruck „mengamuk" (Hatta, 1996) einen spontanen, ungeplanten und mörderischen Angriff gegen unbeteiligte Personen. Der Soziologe Wolfgang Sofsky übersetzt den Begriff mit »im Kampf sein Letztes geben« (Sofsky, 2002, S. 41).

    Der Ruf »Amok, Amok« ist als Kampfschrei der Malaien bekannt und analog zu dem »Attacke-Ruf« europäischer Soldaten (Adler, 2000), während Schrieke »amokan« als Kampfruf der Javanesen mit »stab them to death« umschreibt (vgl. Schrieke, 1957). Die verschiedenen Übersetzungen mögen von den unterschiedlichen Erscheinungsformen herrühren.

    Laut Adler hat der Amoklauf seinen Ursprung in Malaysia. Er ist aber auch bei Malaien ethnisch und sprachlich nahe stehenden Völkern im gesamten malaiischen Archipel zu finden, zu denen die modernen Staaten Malaysia, Indonesien, Singapore, Brunei und Teile von Thailand und den Philippinen sowie Südindien gehören. Erste Berichte über dieses Phänomen stammen aus dem 14./15. Jahrhundert und beschreiben zwei verschiedene Formen des Amoks: den kriegerischen Amoklauf von Gruppen und den individuellen Amoklauf (vgl. Adler, 2000)." (URL Elstermann u. Buchwald)

    In einem weiteren Fachtext wird auf eine ältere, indische Herkunft verwiesen: Das Wort „Amok hat danach seinen Ursprung im Kampfruf der „Amucos, einer hinduistisch geprägten Einheit von Elite kriegern. Diese Krieger-Gruppe war auf ihren König eingeschworen und hatte sich ihm rituell verpflichtet, ihren Kampf bedingungslos und mit Todesverachtung zu führen. Für den Feind bedeutete dieser Schwur: Würden seine Kämpfer den gegnerischen König töten, dann hätten sie mit der rückhaltlosen Rache der Amucos zu rechnen. Man hütete sich daher, den König zu verletzten oder gar zu töten. Vor diesem Hintergrund strebten Könige danach, sich mit möglichst zahlreichen Amuco-Kämpfern zu umgeben und stellten derart ihr Prestige und ihre militärische Macht zur Schau. Materielle Zuwendungen und ein hoher gesellschaftlicher Status garantierten die Motivation der Krieger-Elite (URL Seite „Amok, Quelle: Adler, 2015, S. 52; ebenso: URL Faust, „Amok) Bei Volker Faust heißt es dazu:

    „Die so motivierten Amok-Krieger sollen militärisch und zahlenmäßig weit überlegene Heere angegriffen und dabei fürchterliche Blutbäder angerichtet haben.

    Damals wurden diese Heldentaten in volkstümlichen Sagen verherrlicht, wobei auch schon einmal einzelne Amokläufer eine heroische Verklärung erfuhren (siehe unten), besonders wenn sie Schande oder erlittene Schmähungen mit einem Massenmord zu vergelten suchten, um anschließend selbst den Tod zu akzeptieren - und meist zu finden."

    (URL Faust, „Amok")

    Faust weist in seinem historischen Abriss des „Amok" ausdrücklich daraufhin, dass dieses Phänomen nicht auf den Fernen Osten beschränkt war, sondern zum Beispiel auch im skandinavischen Raum auftrat. Und dort kam es ebenfalls zu einem Bedeutungswandel:

    „Einen ähnlichen Bedeutungswandel wie Amok erlebte das in den altnordischen Sagas belegte Wort Berserkr, ursprünglich für ‚Krieger, die in Bärenfälle gekleidet waren’, später für jene Menschen, die das Wesen eines Bären anzunehmen versuchten. Ursprünglich waren es gewaltbereite Haudegen, die im Dienste skandinavischer Fürsten des Mittelalters - in Ekstase versetzt – ‚mit übermenschlicher Stärke wütend kämpften’. Manche von ihnen trugen auch Wolfsfelle und wurden deshalb Ulfhednar, ‚Wolfshäupter’, später ‚Werwölfe’ genannt.

    Hier spielt auch die schamanische Vorstellung von wilder ‚Tierbesessenheit’ durch das ‚Anlegen eines Bären- oder Wolfsfelles’ eine Rolle.

    Neben diesen gefürchteten Elitetruppen skandinavischer Berserker-Krieger (die sogar von byzantinischen Kaisern im Mittelalter in Sold genommen wurden) berichteten auch hier die altnordischen Sagas von individuellen Berserkrgangr, also ekstatischen Anfällen von Berserkerwut, in denen der Betreffende ‚wahllos mörderisch raste’. Das hat sich bis in das moderne Englisch gehalten, und zwar durch den Ausdruck ‚to go berserk’ für aggressives Toben. (URL Faust, „Amok)

    Aus der klassisch-indischen Militärtradition vererbten sich Begriff und Phänomen des „Amok ebenfalls auf malaische und javanische Krieger-Gruppen. Wie Adler anmerkt, zeigten sich parallel zum Amok als militärischer Strategie im malaiisch-indonesischen Kulturkreis auch individuelle Amokläufe. (URL Seite „Amok, Quelle: Adler, 2015, S. 52) Angeführt wird das Beispiel insolventer Schuldner, die ihrer Versklavung zuvorkommen wollten, indem sie im Alleingang tödliche Angriffe solange fortführten, bis sie selbst den Tod fanden. Vermerkt wird in den Quellen, dass diese Handlungen ebenfalls eine Form des blutigen sozialen Protestes bildeten: Allein die Drohung mit dem beabsichtigten Amoklauf – etwa bei eindeutig ungerechter Behandlung durch die Oberschicht (begüterter Adel bis hin zum despotischen Herrscherhaus) – zeigte Wirkung und war in dieser Gesellschaftsform kulturell positiv besetzt: Diese Protestaktion wurde traditionell sozial akzeptiert. (URL Seite „Amok, Quelle: Jilek u. jilek-Aall, 2013, S. 406 f.) Der dann tatsächlich verübte Amoklauf durch wahllos vollzogene Mordattacken trug den Charakter der Ultima Ratio: Er führte zu einem „ehrenvollen Tod. (URL Faust, „Amok; URL Seite „Amok, Quelle: Adler, 2015, S. 52)

    Im 14. Jahrhundert prägte der Islam den malaisch-indonesischen Kulturkreis. Im Verlaufe dieser Islamisierung geriet der „Amoklauf" gegen die andersgläubigen Feinde des Islam zu einer Handlung, in der sich religiöser Fundamentalismus und das Sendungsbewusstsein der Kämpfer ausdrückte.

    Der Tod für die Sache des Islam erhielt derart – im Gegensatz zu dem für Muslime geächteten Suizid - die Anerkennung der „Rechtgläubigen und war aus islamischer Sicht Allah wohlgefällig. (URL Seite „Amok, Quelle: Jilek u. jilek-Aall, 2013, S. 406 f.; ebenso: URL Faust, „Amok) Wie zum Beispiel Faust berichtet, hielt sich diese blutige Tradition bis in die späte Kolonialzeit. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die an den holländischen Kolonialherren auf Sumatra verübten „Aceh-Morde durch islamistische Fanatiker. Weiterhin gab es amok-ähnliche, rituell geprägte Handlungen auf den südlichen Philippinen, die im Kern nur als eine Form des indirekten Suizids gewertet werden können. Ergänzend zu diesen historischen Hinweisen findet sich bei Faust eine Bemerkung zum sog. „Gruppen-Amok, der in diesem Kulturbereich etwa zur Kampftaktik der Piraten gehörte. Erst entschiedene militärische Eingriffe der Kolonialmacht setzten dieser Praxis bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Ende. (URL Faust, „Amok)

    Insbesondere mit den europäischen Forschern und Fernreisenden des 17- bis 19. Jahrhunderts kamen der Begriff und die inhaltliche Interpretation in den westlichen Kulturkreis. Genannt wird in den Quellen zum Beispiel der britische Seefahrer, Kartograf und Entdecker James Cook. Das Phänomen „Amok wurde aber weiterhin primär der malaiisch-indonesischen Kultur zugeordnet – nicht zuletzt durch damals aktuelle Amokläufe, die aus Fernost stammende Täter zu verantworten hatten. Faust nennt hier das Beispiel „Kapstadt 1786 und den dortigen Amoklauf eines exilierten Javaners. (URL Faust, „Amok, ebenso: Jilek u. Jilek-Aall, 2013, S. 406 f.) Mit Blick auf unsere Zeit und den westlichen Sprachgebrauch verweisen die Quellen auf eine inflationären Verwendung des Begriffes „Amok. Im Alltagsverständnis ist „Amok nun gekennzeichnet durch blindwütige Aggression – unabhängig davon, ob Todesopfer zu beklagen sind oder nicht. (zum Beispiel in: URL Faust, „Amok) Im „Kriminologie-Lexikon" finden sich ähnliche Hinweise. Es heißt dort:

    „Im Laufe der Zeit löste sich der Begriff von der ursprünglich historischen, religiösen, geographischen und kulturellen Verwurzelung.

    Aktuell wird der Begriff Amok häufig inflationär gebraucht. Die Medien orientieren sich in ihrer Berichterstattung an keiner eindeutigen Definition.

    Die Definitionsansätze sind jeweils von der wissenschaftlichen Disziplin, der sie entstammen, geprägt. (URL Thier: „Amok)

    2. 2. Amok – fachdisziplinäre Definitionsversuche

    Es ist bemerkenswert, dass mit dem kulturellen Phänomen „Amok" primär medizinisch-psychologische Forschungsarbeit in das Auge fällt. Psychiatrie hat hier sicher ein gewichtiges Wort mitzureden und sollte an wissenschaftlichen Entscheidungen zur Interpretation - und wenn möglich Prävention – beteiligt sein, aber es darf für diese Disziplin kein Alleingang werden, wenn angemessene Resultate erwünscht sind.

    Wenn also Faust (URL Faust, S. 5) hier kritisch anmerkt, dass man in der Psychiatrie bisher vorwiegend „das äußere Erscheinungsbild" betrachtet hat, während Ätiologie (Krankheitsursachen), Pathogenese (Krankheitsentstehung und –entwicklung) sowie psychologische Aspekte weiterhin nur hypothetische Grundlagen besitzen, dann muss zudem gefragt werden, ob andere Disziplinen aktuell solidere Erkenntnisse vorweisen können, da der Amoklauf eben nicht verkürzt auf Persönlichkeitsstörungen usw. zurückzuführen ist. Wohl leider viel zu wenig Beachtung findet in diesem Kontext eine Anmerkung Adlers, die im Deutschen Forum für Kriminalprävention (DFK) noch einmal aufgegriffen wird:

    „Nach Adler (2002) soll Amok ‚erst im Verlauf der Kolonialisierung zum krankhaft abweichenden Verhalten erklärt und gesellschaftlich negativ bewertet worden sein’"

    (URL Deutsches Forum Kriminalprävention, 2009; Adler-Zitat: Adler, 2002, S. 4)

    Mit Blick auf die kulturspezifische Prägung des Amok-Phänomens in Malaysia definierte der niederländische Neurologe und Psychiater Feico Herman Glastra van Loon (1886-1971) damals wie folgt:

    „Amok ist, kurz gesagt, der ganz unerwartete Mordangriff des malaiischen Mannes, der plötzlich und ohne direkten Grund aufspringt, eine Waffe (den ‚Keris‘ oder einen ‚Parang‘ oder ein anderes Messer oder sein Gewehr, wenn er ein Soldat ist) ergreift und einen jeden ersticht oder niederschlägt oder erschießt, der in seinen Weg kommt, auch wenn es sein Bruder, Vater oder seine Mutter ist. Bis der ‚Amokläufer‘ selber erlegt oder gefangen wird."

    (van Loon, 1931, S. 23; zitiert bei: Sell, 2021, S. 8 f.) Abgesehen von der hier betonten Kulturgebundenheit des Phänomens Amok (Malaysia) zeichnet van Loon das Bild einer Gewaltaktion, die sich durch ihren überfallartigen, emotional-explosiven Charakter auszeichnet, in der Sicht Außenstehender unvermittelt, grundlos geschieht und zufällige Opfer fordert. (Vgl. Sell, 2021, S. 9)

    Wie sehen nun die offiziell-wissenschaftlichen Definitionen des Phänomens „Amok" in jüngster Zeit aus? Eine der wichtigsten fachlichen Deutungen stammt von dem deutschen Psychiater Lothar Adler. Seine Definition des Amok benennt vier Schlüsselkriterien, die dieses spezielle Anschlag-Muster von herkömmlichen Gewalttaten mit Tötungsabsicht abgrenzen:

    „1. Amok muss so konzipiert sein, dass es zur Tötung mindestens einer Person kommt oder hätte kommen können, wenn äußere Einwirkungen den Taterfolg nicht verhindert hätten. Darüber hinaus muss die typische Ein-Täter-Ein-Opfer-Konstellation aufgebrochen werden.

    2. Die Tat muss über den gesamten Verlauf oder zumindest zeitweise ohne Rücksicht auf das eigene Leben vollzogen werden oder zum Tod durch Suizid oder Fremdeinwirkung führen.

    3. Die Tathandlung muss von außen betrachtet impulsiv und raptusartig beginnen. Sowohl sui- als auch homizidale Absichten müssen erkennbar sein.

    4. Die Tat darf nicht politisch, ethnisch, religiös oder kriminell motiviert sein."

    (Adler, 2000, S. 50-51; zitiert bei: Sell, 2021, S. 9)

    Die Problematik dieser Definition ergibt sich aus den Kriterien Nr. 3 und Nr. 4: In der Regel wurden die in Deutschland verübten Amokläufe langfristig und sorgfältig geplant. Es waren keineswegs „impulsive und „raptusartige Aktionen des Augenblicks. Sie wurden in kaltem Hass und zumeist mit schrecklicher, überlegener Ruhe durchgeführt. Dies gilt insbesondere für die sog. School Shootings. Gerade in dieser - auch für Außenstehende - „coolen Angriffs-Aktion (oftmals nach dem Muster der „Ego-Shooter vorgeübt) lag die fatale Effektivität dieser tödlichen Gewalt. Weiterhin: Die suizidale Absicht lag bei den nachstehend erörterten Amokläufern nicht in jedem Fall vor (Flucht / Fluchtversuch vom Tatort, sich selbst der Polizei stellender Täter).

    Das 4. Kriterium schließt fast alle Motive aus, die bei bekannten Amokläufen eine primäre Rolle spielten: Zu nennen sind etwa der Fall Heinz Schmidt (Jesuitenhasser / Kulturkampf fortgesetzt), der Fall Walter Seifert (Ämterfrust und Rache am politischen System), der Fall Karel Charva (Integrations-Debakel und Rache an der aufnehmenden Gesellschaft), der Fall Adam Labus (ebenfalls gescheiterte Integration und Rache am „System").

    Sinnvollerweise in die Kategorie der Amokläufe einzubeziehen sind die Attentate der islamistischen Fundamentalisten wie Anis Amri oder Rafik Mohamed Yousef (Dschihad / religiöser Fanatismus). Wir werden später sehen, dass es nicht vorteilhaft ist, diese Gewalttäter herauszurechnen, um sie dann einer eigenen Gruppe der „Terroristen" zuzuordnen.

    Festzuhalten bleibt mit Blick auf die Definition Lothar Adlers, dass in praxi damit fast alle Amokläufer*innen aus seinem Erklärungsraster herausfallen. Denn selbst die jungen Attentäter der School Shootings richteten ihren Vernichtungswillen gegen die gesellschaftliche Institution der Schule, wollten ein Zeichen setzen gegen Ungerechtigkeiten wie Schüler*innen-Mobbing und ungesetzlichem Schulverweis – und waren derart durchaus politisch motiviert. Gemäß der Definition Adlers wäre sogar der malaiische Mann kein Amokläufer, der als insolventer Schuldner mit seinen Mordanschlägen Zufallsopfer trifft, gegen die ungerechte Behandlung durch Höhergestellte und erbarmungslose Gläubiger protestieren will, und schließlich auf diese Art einen „ehrenvollen" Tod der Sklaverei vorzieht.

    Denn: Auch dieser Attentäter handelt nicht ohne politisches Motiv. Im Erklärungsraster des Lothar Adler bleibt somit nur ein „Bodensatz" von Gewalttäter*innen, die man wohl als rational motivationslos und psychisch vollkommen gestört bezeichnen dürfte. Hauptfehler dieser Definition ist die totale Ausblendung gesellschaftlich bedingter Motive.

    Zwei weitere Erklärungen des Begriffs „Amok benennt der renommierte Psychiater Volker Faust. Zum einen heißt es dort mit Bezug auf das „klassische Vorbild der malaiisch-indonesischen Tradition:

    „Nicht materiell-kriminell motivierte, tateinheitliche, mindestens in selbstmörderischer Absicht durchgeführte, auf den unfreiwilligen Tod mehrerer Menschen zielende plötzliche Angriffe".

    (URL Faust, „Amok", S. 5)

    Diese auf das generalisiert Offensichtliche verkürzte Definition deckt wichtige Aspekte ab, ist aber nicht hinreichend: Denn nicht jeder Amokläufer / jede Amokläuferin sucht zum Schluss der Mordanschläge den eigenen Tod. Die Festschreibung „mindestens in selbstmörderischer Absicht" entspricht einfach nicht der Realität. So zeigen bereits die wenigen Beispiele der folgenden Kurzbiografien, dass Täter sich nach den Amok-Morden auch gezielt den Polizeikräften stellen oder mit großer Umsicht und raffinierter Nachtatplanung die Flucht ergreifen. Zum anderen verweisen Faust und weitere Quellen auf die zentral bedeutsame Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO). Zusammengefasst wird bei Faust dazu ausgeführt:

    „Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) versteht man unter Amok eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd-)zerstörerischen Verhaltens. Danach Amnesie (Erinnerungslosigkeit) und / oder Erschöpfung.

    Häufig auch der Umschlag in selbst-zerstörerisches Verhalten, d. h. Verwundung oder Verstümmelung bis zum Suizid (Selbsttötung).

    Die meisten Amok-Ereignisse treten ohne Vorwarnung auf. In einigen Fällen finden sich ausgeprägte Angstzustände oder feindselige Reaktionen.

    Über die psychologischen Hintergründe besteht keine Einigkeit. Es fällt aber auf, dass Amok-Zustände offensichtlich dort öfter auftreten, wo extreme Aggressionen oderselbstzerstörerische Angriffe (z. B. im Rahmen von Kriegshandlungen) eine traditionell hohe Wertschätzung erfahren.

    Amok-artige Zustände, die wahrscheinlich ähnliche Ursachen haben, nennt man in Neu Guinea Ahade idzi be, in einigen südafrikanischen Gegenden Benzi mazurazura, in Skandinavien einen Berserker-Gang, in Polynesien Cafard, in den Anden, z. B. Bolivien, Kolumbien, Ecuador und in Peru Colerina, in Korea Hwa-byung und bei den Ureinwohnern des Südwestens der USA Ii’aa."

    (URL Faust, „Amok, S. 5, zitiert nach: WHO Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen, 2001, siehe auch: URL Deutsches Forum Kriminalprävention, 2009, S. 2; weiterhin: URL Stangl, 2023, Stichwort: „Amok)

    Deutlich erkennbar ist in dieser Definition die Ausrichtung auf eine Erklärung des Amok als kulturgebundenes Phänomen. Und ebenso klar wird konstatiert, dass die „psychologischen Hintergründe bisher fachwissenschaftlich nicht einheitlich geklärt werden konnten. Eine Begriffsdeutung derselben Richtung findet sich sowohl im amerikanischen „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) als auch in der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD; Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme):

    In der 4. Version des DSM (DSM-IV) und in der 10. Version der ICD (ICD-10) wird Amok ebenfalls als kulturgebundenes Syndrom aufgeführt. (URL Seite „Amok") Während dieses übereinstimmende Deutungsmuster im Fall der ICD nicht erstaunlich ist, weil die ICD-Klassifikationsliste eben auch zur WHO gehört, erhält die Aussage des DSM einen eigenen Wert, da hier die fachlich weitgehend unabhängige Meinung der Amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (APA) bekundet wird. Dort heißt es, Amok sei…:

    „Eine dissoziative Episode, die durch eine Periode des Grübelns charakterisiert ist, auf die ein Ausbruch gewalttätigen, aggressiven oder menschengefährdenden Verhaltens folgt, das sich auf Personen und Objekte richtet. Eine solche Episode scheint durch eine wahrgenommene Herabsetzung oder Beleidigung ausgelöst zu werden und nur bei Männern vorzukommen. Die Episode geht oft einher mit Verfolgungsideen, Automatismen, Amnesie und Erschöpfung sowie einer anschließenden Rückkehr zum prämorbiden Status.

    In einigen Fällen tritt Amok während einer kurzen psychotischen Episode auf oder kann den Beginn oder die Verschlechterung eines chronisch verlaufenden psychotischen Prozesses kennzeichnen"

    (Saß u. a., 1996, S. 897; ebenso: Sell, 2021, S. 9)

    Wie sich aus dem Zitat erschließt, und wie auch Sell (2021, S.10) ausführt, bekommt das Phänomen „Amok hier keinen eigenen DSM-Schlüssel: Die Zurechnung geschah in den Kategorien „Dissoziative Störungen (300.13 Dissoziative Fugue) und „Störungen der Impulskontrolle" (312.34 Intermittierende Explosible Störung). Amok wird dabei gewertet als ein Sonderfall, als Episode, die sich oftmals durch betont dissoziative Merkmale auszeichnet. (Sell, a. a. O.)

    Die Klassifikation nach der ICD-10-Einstufung der WHO rät zur Aufnahme des Amok-Phänomens in das vorhandene System, und dort in die Kategorie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (ICD-10 / Kodierung F68.8). Nach Sell geschah diese Empfehlung, da bisher noch keine zuverlässig-soliden Studien mit epidemiologischer Ausrichtung vorliegen: Weder unter der Kodierung F44 (Dissoziative Störung), noch unter der Kodierung F63 (Störungen der Impulskontrolle). (Sell, 2021, S. 10) Der Wortlaut der Definition entspricht natürlich weitgehend den bereits bei Faust zitierten Sätzen. Der Vollständigkeit halber sei er hier noch einmal wörtlich benannt:

    „Eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich destruktiven Verhaltens, gefolgt von Amnesie oder Erschöpfung. Viele Episoden gipfeln im Suizid. Die meisten Ereignisse treten ohne Vorwarnung auf; einigen geht ein Zeitraum mit intensiver Angst oder Feindseligkeit voraus.

    Einige Studien lassen daran denken, dass diese Fälle im Zusammenhang stehen mit einer traditionell hohen Wertschätzung extremer Aggression und suizidaler Attacken im Rahmen von Kriegshandlungen."

    (Sell, 2021, S. 10; zitiert aus: Dilling, Mombour und Schmidt, 2016, S. 223)

    Als Fazit lässt sich festhalten, dass sowohl das DSM-IV-TR als auch die ICD-10 der WHO von einer psychischen Störung ausgeht, die sich u. a. kulturspezifisch erklären lässt. Es bestehen jedoch wesentliche Unterschiede in den beiden Definitionen: So unterscheidet sich die Klassifikation des Amok im ICD-10 deutlich von der Einstufung im DSM-IV / DSM-IV-TR. Bemerkenswert, weil von grundsätzlicher Bedeutung: In der aktuellen Auflage des DSM (DSM-5) erfasst man das Amok-Phänomen nicht mehr als eigenständige psychische Störung. (Sell, 2021, S. 10; Falkai u. Wittchen, 2015) Dasselbe gilt für das „Glossar kulturell gebundener Leidenskonzepte, in dem das Phänomen „Amok jetzt gänzlich fehlt. (Siehe dazu: Falkai u. Wittchen, 2015, Glossar … S. 1139-1146) Sell geht nachvollziehbar davon aus, dass nun auch in der 11. Auflage der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11 der WHO) entsprechende Korrekturen durchgeführt werden. (Sell, a. a. O.) Generell: Im Mainstream der aktuellen Fachliteratur spricht man dem Phänomen „Amok das Etikett der psychischen Störung ab. Es wird nur noch als „Syndrom, als Krankheitszeichen anderer psychischer Störungen gewertet. (Siehe dazu z. B.: Scheithauer u. Bondü, 2011, S. 51; weiterhin: Adler, 2015, S. 24)

    Wie in den Quellen betont, zeigen sich offensichtlich widerstreitende Konzepte der Erklärung von „Amok". So finden sich mittlerweile Forschungsarbeiten, die auf deutliche Parallelen bei Amokläufer*innen im südostasiatischen Raum und in den USA hinweisen. (Sell, a. a. O.; siehe dazu auch: Hempel, Levine, Meloy, Westermeyer, 2000, S. 582 – 588). Diese Studien blieben nicht ohne Kritik.

    Hinterfragt wurde zum Beispiel die Vergleichbarkeit der analysierten Taten mit dem ursprünglichen Phänomen „Amok": Beanstandung fand eine unzulässige Ausweitung des Begriffes, der nun mit dem ehemals malaiischen Bedeutungsgehalt nicht mehr vereinbar war. (Sell, a. a. O.; siehe dazu auch: Hatta, 1996, S. 505-510)

    Dieser problematisch-inflationäre Gebrauch des Begriffes wurde bereits angesprochen. Er findet sich für eine Vielzahl von Geschehnissen, die nicht in den Kulturregionen Malaysia und Indonesien erfolgten: Diese hatten mit dem ursprünglichen Amok nur eine mehr oder weniger entfernte Ähnlichkeit. (Sell, a. a. O.; mit Verweis auf: Braun, 2018, sowie Peter, 2014) Grundsätzlich erscheint die Deutung des Amok als kulturspezifisches Syndrom sinnvoll, bleibt aber nicht ohne Widerspruch. Das Argument wird hier gewendet: Weltweit – so heißt es aus den Reihen der fachlichen „Opposition – gäbe es ähnliche Phänomene („Trigger, Tatabläufe, Opferkonstellationen und damit die Berechtigung, auch hier von Amok zu sprechen. (Zu diesem Diskurs vgl. Scheithauer u. Bondü, 2011, S. 20; vgl. auch: Adler, 2015, S. 24 f.)

    Eine weitere Definition des Amok legt der Kriminalpsychologe und Leiter des Darmstädter Instituts für Psychologie und Bedrohungsmanagement (IPBm), Jens Hoffmann, vor. Seine ausdrückliche Einbindung innerfamiliärer Gewalttaten, die jedoch im öffentlichen Raum erfolgen, gestattet ebenfalls die Aufnahme von Mehrfachmorden, wie sie von Adrian S. in Rot am See verübt wurden (24. 01. 2020). Hoffmann führt aus:

    „Wohlwissend um die Schwierigkeit einer eindeutigen Abgrenzung von verwandten Formen der Gewalt lautet mein Vorschlag für eine Arbeitsdefinition von Amok wie folgt:

    ‚Die intentionale und nach außen hin überraschende Tötung und / oder Verletzung mehrerer Personen bei einem Tatereignis ohne Abkühlungsperiode, wobei einzelne Tatsequenzen im öffentlichen Raum stattfinden’ (Hoffmann 2002a). Durch das Merkmal des öffentlichen Raumes wird zumindest ein Großteil von rein familieninternen Taten ausgeschlossen. Immer wieder zu beobachtende Verläufe, in denen zunächst Familienmitglieder und dann noch weitere Personen attackiert werden, bleiben jedoch berücksichtigt. Die Zielpersonen besitzen meiner Ansicht nach für den Täter fast immer auch symbolische Qualität.

    Selbst wenn hier zuvor ein Konflikt festzustellen ist, wie zum Beispiel eine Kündigung bei manchen Amokläufen an früheren Arbeitsplätzen, steht doch die Reaktion in ihrer extremen Gewalttätigkeit in keinerlei nachvollziehbarem Verhältnis zur Aktion.

    Außerdem findet oftmals eine Erweiterung des Zieles der Wut statt, so dass etwa nicht mehr nur der Vorgesetzte, mit dem der Täter Ärger hatte, sondern mehrere Mitarbeiter in Führungspositionen angegriffen werden."

    (Hoffmann, 2003, S. 399 f.)

    In der von Hoffmann vorgestellten Definition zeigen sich – abgesehen von der Möglichkeit auch innerfamiliäre Gewalttaten unter dem Begriff Amoklauf zu subsumieren – weitere wichtige Unterscheidungsmerkmale im Vergleich mit „konkurrierenden Deutungen. So wird hier das intentionale, oftmals durchgeplante Handeln der Täter*innen betont. Dies steht zum Beispiel in krassem Widerspruch zu der Meinung Adlers, ein wahrer Amoklauf sei „impulsiv und „raptusartig". Amok ist bei Hoffmann kein plötzlicher Gefühlsausbruch, kein Tobsuchtsanfall, keine Attacke des Jähzorns. Hoffmann trägt damit insbesondere den langfristig eingeübten School Shootings Rechnung, die am Ego-Shooter und im Schießsportverein erworbene Routinen auch für Außenstehende aufzeigen.

    Der Hinweis auf die fehlende Abkühlungsperiode ist zentral bedeutsam, wenn man das Phänomen Amok vom Serienmord unterscheiden möchte. Wie fraglich und willkürlich allerdings dieses Abgrenzungsmerkmal ist, wird später noch zu erörtern sein. Ob sich - wie in einigen Quellen angenommen – im Nachtatverhalten eine Amnesie bzw. ein epileptischer Dämmerzustand der Täter*innen in die Hoffmann’schen Definition hineininterpretieren lässt, ist anzuzweifeln (siehe dazu etwa: URL Stangl, Stichwort: „Amok"; vgl. auch: Peters, 2007, S. 28). Für alle Fälle vom Amok-Taten ließe sich diese Annahme eindeutig nicht halten.

    Gewissermaßen als Kontrastprogramm dazu bietet sich in der Arbeit von Weilbach eine abweichende Definition. Weilbach sieht den Amoklauf…:

    „[…] als planmäßige homizidal-suizidale Aktion eines einzelnen Akteurs auf mehrere Menschen im öffentlichen Raum. Der bewaffnete und mit Tötungsintention durchgeführte plötzliche Angriff richtet sich gegen gezielt wie zufällig ausgewählte extrafamiliäre Opfer, die angesichts der Aktionsmacht des zum Suizid bereiten Akteurs kaum Möglichkeiten zur Gegenwehr haben." (Weilbach, 2008)

    Hier wird mit dem Wort „extrafamiliär" erneut ein Ausschluss von Gewalttaten bestimmter Art versucht: Aus der Klassifizierung als Amoklauf würden nach dieser Definition alle Mord-Anschläge herausfallen, die Familienmitglieder des Täters / der Täterin betreffen. So wäre danach zum Beispiel der bereits erwähnte Anschlag des Adrian S. in Rot am See nicht als Amoklauf einzuordnen, weil er ausschließlich Familienangehörige betraf. Aber auf Grund welcher Logik sollte diese Bluttat ausgeschlossen werden? Wenn hier allein versucht wird, auf zufällige Opfer einzugrenzen, dann verfehlt die Definition ihren Zweck: In Rot am See wurden neben den eigentlichen Zielpersonen auch entfernte Verwandte zu Opfern. Dies geschah zufällig: Sie waren im Weg, der Täter befand sich schießwütig im Rausch der Tötung. Folgt man dieser Interpretation, so ist natürlich auch die ursprüngliche von van Loon dargelegte Erklärung des malaiischen Amoks Makulatur. Denn dort hieß es doch, dass der Amokläufer…:

    „[…] einen jeden ersticht oder niederschlägt oder erschießt, der in seinen Weg kommt, auch wenn es sein Bruder, Vater oder seine Mutter ist. Bis der ‚Amokläufer‘ selber erlegt oder gefangen wird."

    (Sell, 2021, S. 8 f.; zitiert aus: van Loon, 1931, S. 23)

    Das zweite Kriterium, welches sich ebenfalls infrage stellen lässt, stellt ab auf die Suizid-Bereitschaft des Akteurs bzw. der Akteurin. Wie bereits ausgeführt, ist längst nicht jeder dieser Täter / jede dieser Täterinnen bereit und willens, Suizid zu begehen. Vom Versuch. sich den Fluchtweg freizuschießen bis hin zur geplanten Aufgabe nach der Tat und zum Anruf bei der Polizei ist jede Alternative bereits genutzt worden.

    In dem fachlich vielbeachteten Online-Lexikon des JuraForums findet sich ein weiterer Definitionsversuch von Bretschneider, der allerdings gängige Kriterien aus den Fachdisziplinen Psychiatrie und Psychologie erneut aufnimmt. Es heißt dort zum Stichwort „Amok":

    „Amok ist die Bezeichnung für einen aus einem Affekt oder einer Verwirrung heraus begangenen, blindwütigen Tötungsdelikt, einen impulsiven Gewaltausbruch. Er richtet sich immer gegen mehrere Menschen."

    Und dann wird näher erklärt:

    „Amok läuft in mehreren Phasen ab: Einer persönlichen Krise durch Kränkung oder Verlust folgt meist eine Grübel- und Rückzugsphase. Aus dieser heraus kommt es plötzlich zu einem Ausbruch von Gewalt. Danach töten sich die Amokläufer entweder selbst oder sie können sich an nichts mehr erinnern.

    Unter den von L. Adler in den Jahren 1980 bis 1989 analysierten 196 Fällen von Amok befanden sich lediglich 10 Frauen. Amokläufer sind also meistens Männer, bei denen sich unbewältigte Probleme angehäuft haben. Angst, Eifersucht, Scham oder Demütigung sind bei ihnen nicht verarbeitet, sondern so lange aufgestaut, bis die Wut über diesen Zustand für sie nicht mehr beherrschbar ist. Es bedarf dann nur des bekannten ‚Tropfens auf den heißen Stein’, der mit dem Konflikt nicht unbedingt im Zusammenhang stehen muss. Der genaue Auslöser des Wutausbruchs kann oft nicht mehr festgestellt werden, weil sich viele Amokläufer selbst töten oder beim Polizeieinsatz umkommen."

    (URL Bretschneider, 2022, Stichwort „Amok")

    Wie bereits in Kommentaren zu vorstehenden Definitionsversuchen angemerkt, trifft die Unterstellung, alle Amokläufe wären blindwütige, impulsiv erfolgende Tötungsdelikte schlicht nicht zu. Selbst in der ursprünglichen kulturhistorischen Bedeutung des Amok zeigen sich im malaiischen Raum geplante, überlegte Vorgehensweisen – bereits erwähntes Beispiel: Wenn ein malaiischer Schuldner sich entschließt, einen in seiner Gesellschaft als ehrenvoll anerkannten Tod zu suchen. Dieser Mann ist sicher verzweifelt, aber er muss weder psychisch gestört sein, noch in einem unkontrollierten Wutausbruch handeln. Zudem ist es durchaus möglich, dass Amokläufe keine Todesopfer fordern, sondern lediglich Verletzte verursachen. In diesen Fällen darf somit nicht von Tötungsdelikten ausgegangen werden. In der näheren Erläuterung zur Entstehung des Amok wird ausgeführt, die Täter würden entweder Suizid begehen oder sie hätten nach der Tat Amnesie. Auch diese Festellung gilt nicht für alle Amokläufe. Weiterhin: Natürlich ist es richtig, dass Adler einen sehr geringen Frauenanteil in seiner Stichprobe fand – aber Frauen gab es nun einmal ebenfalls darin.

    Und daher darf man nicht vereinfachend nur von männlichen Amokläufern ausgehen, sondern muss von Amokläufer*innen sprechen. Im Fazit finden sich in dieser Definition psychiatrische / psychologische Klischees, die einer Revision bedürfen, bevor sie auf den falschen wissenschaftlichen Weg führen.

    Die aufgezeigte Definition aus dem JuraForum hat aber auch ihre Meriten: So verweist sie als einer der wenigen Deutungsversuche von Amok ausdrücklich auf den Komplex der gesellschaftlichen bzw. sozialen Determinanten, die als Prämissen des Amoklaufes fungieren:

    „Die Ursachen für Amok müssen nicht in der Person des Amokläufers allein liegen, sondern können auch in gesellschaftlichen Bedingungen verankert sein. Allerdings sind schlechte soziale Bedingungen allein keine Ursache für Amok. Sie können jedoch bestimmte Menschen überfordern. Kommen dann noch psychische Erkrankungen hinzu, so entsteht ein Bedingungsgefüge, aus dem mehr Frustrationen und Aggressionen erwachsen. Außerdem gibt es gesellschaftliche Bedingungen, die einen Amoklauf begünstigen und ihn ‚technisch’ ermöglichen.

    So lange in einer Gesellschaft die Verfügbarkeit von Waffen zum Alltag gehört und es keine ausreichenden Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung gibt, ist bei einzelnen Problembetroffenen damit zu rechnen, dass sie durch Amok versuchen, ihren Konflikten und Problemen auszuweichen."

    (URL Bretschneider, 2022, Stichwort „Amok")

    Diese Ausführungen sind sicher zutreffend: Amokläufe geschehen nicht im „luftleeren Raum. Sie sind das fatale Resultat gesellschaftlicher Fehlleistungen und Zwänge – etwa im schulischen Bildungssystem. Niemand wird mit dem „Mörder*innen-Gen geboren. Das sollte mit Blick auf den heutigen Stand der Wissenschaften offensichtlich sein. Abschließend sei eine Definition von Christoph Paulus angesprochen, die speziell auf auf sog. School-Shootings abstellt. Paulus schreibt dazu (Paulus, 2016, S. 10 f.):

    „Häufig werden in der Literatur Amokläufe nur auf schoolshootings reduziert. Dies hat natürlich den Vorteil, dass die Tätergruppe und die Taten selbst sich besser analysieren lassen. So lassen sich die gemeinsamen Faktoren von schoolshootings recht übersichtlich wie folgt beschreiben (vgl. Brumme, 2011, S. 15):

    • Der Täter ist / war Schüler / Student an der Bildungseinrichtung.

    • Die Bildungseinrichtung wurde bewusst für die Tat ausgewählt und der Tötungsversuch wird mit direktem, zielgerichtetem Bezug zur Institution begangen.

    • Es kommt zu einer multiplen (gezielt, aber auch zufälligen), auf einzelne Menschen aufgrund ihrer Funktion bezogenen Opferwahl.

    Nicht explizit genannt, aber im Weiteren bei Brumme ‚impliziert’ wird dabei als Ausschlusskriterium u. a. das Alter des Täters. Dies wird ausdrücklich auf Jugendliche begrenzt. In ähnlicher Weise verwenden zum Beispiel Robertz & Wickenhäuser (2011) oder Robertz (2004) diese Terminologie."

    Wie aus dem Zitat hervorgeht, beschreibt Paulus hier die Kriterienauswahl und Vorgehensweise ausgewählter Forschungsteams, die sich bemühen, das Phänomen der School-Shootings von anderen Formen des Amok abzugrenzen. Auch, wenn Paulus in seiner Bewertung meint, dass dagegen nichts einzuwenden sei (Paulus, 2016, S. 11), so zeigt sich auch hier nur eine willkürliche, logisch angreifbare Auswahl, die der Realität recht bedingt entspricht. Selbst in der hier vorgestellten Stichprobe der zwölf zufällig ausgewählten Amokläufe finden sich allein vier Fälle von Schulattentaten, die eindeutig auf das Konto erwachsener Täter zu zählen sind:

    a)

    Heinz Schmidt, 29 Jahre alt, Attentat auf die katholische St. Marien-Grundschule in der Stadt Bremen am 04. 09. 1913,

    b)

    Walter Seifert, 43 Jahre alt, Flammenwerfer-Attentat auf die katholische Volksschule Volkhofen (Köln) am 11. 06. 1964, c)

    Karel Charva, 35 Jahre alt, Attentat auf die Freiherr-von-Stein-Gesamtschule Eppenheim (nahe Hofheim / Taunus) am 03. 06. 83,

    d)

    Adam Labus, 23 Jahre alt, Attentat auf die Wirtschaftsschule in Freising am 19. 02. 2002.

    Diese Übersicht zeigt vom zornigen, im „Ämter-Kampf" frustrierten Frührentner bis zum privat und beruflich gescheiterten Immigranten bereits die mögliche Vielfalt der Altersgruppen und Motive. Und von diesen vier erwachsenen Schul-Attentätern stark unterschiedlichen Alters war nur einer, Adam Labus, ehemaliger Schüler der im Amok angegriffenen Bildungseinrichtung. Fazit: Es mag kurzfristig analytisch opportun sein (um nicht zu sagen: bequem), die School-Shootings Jugendlicher aus der Amok-Definition herauszunehmen. Langfristig verbaut man sich den Weg zu solider Erkenntnis über das Gesamt der Amok-Phänomene. Dass es mit Blick auf diese Form begrenzter Amok-Forschung dann auch im Bereich der Fach-Lexika zu Fehlinformationen kommt, zeigt sich etwa bei Stangl. Dort heißt es mit Bezug auf Hoffmann und Wondrak:

    „In Abgrenzung von anderweitigen schweren Gewalttaten an Schulen handelt es sich bei School shootings um Tötungen oder Tötungsversuche von Jugendlichen an Schulen, die mit einem direkten und zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen werden. Konkreter formuliert muss bei einer Tat entweder mehreren Opfern an einer Schule gleichzeitig nach dem Leben getrachtet werden, oder es muss versucht werden, einen einzelnen Menschen zu töten, der erkennbar aufgrund seiner Funktion innerhalb der Schule ausgewählt worden ist (vgl. Hoffmann 2007, S. 12)."

    (URL Stangl, Stichwort: „Amok"; mit Verweis auf Hoffmann u. Wondrak, 2007, S. 12)

    Auch hier wird auf Jugendliche eingegrenzt und zudem die direkte bzw. persönliche Bindung des Täters / der Täterin an das Zielobjekt Schule postuliert. Beides liegt realiter nicht in allen Fällen der Schul-Anschläge vor.

    Im Fazit zeigt sich auch für wissenschaftlich fundierte Definitionsversuche ein „Potpourri" verschiedenster, sich häufig widersprechender und oftmals die Gewalt-Realität verkürzt darstellender Erklärungen. Dies ist natürlich bekannt. So führt Jens Hoffmann zum Beispiel zu diesem Dilemma aus (Hoffmann, 2003, S. 397):

    „Amok findet häufig als ein recht unscharfer Begriff Verwendung, wobei in den meisten Beschreibungen die Tötung mehrerer Personen innerhalb eines Tatereignisses als zentraler Punkt genannt ist. Es ist allerdings bei weitem nicht immer gegeben, dass in Forschungsarbeiten überhaupt eine explizite Definition getroffen wird, sondern dass stattdessen stillschweigend davon ausgegangen wird, dass der Begriff selbsterklärend ist. Das hat dazu geführt, dass so unterschiedliche Formen der Gewalt, wie beispielsweise die Tötung der eigenen Familie mit anschließendem Selbstmord oder die wahllose Ermordung unbekannter Personen an einem öffentlichen Platz, in einer Kategorie zusammengefasst werden. Ob eine derartige Spannbreite unter psychologischen Gesichtspunkten wirklich einen einzigen Untersuchungsgegenstand umreißt, ist unklar, die Vermutung liegt nahe, dass definitorisch somit ein Sammelbecken für möglicherweise zwar verwandte, nicht aber gleichartige Phänomene geschaffen wird."

    Angesprochen werden hier zwei grundsätzliche Probleme der Amok-Definitionen: Zum einen darf keine ernst zu nehmende, fundierte Studie die Festlegung der Begriffsinhalte als angeblich „selbsterklärend" übergehen, weil die Präzisierung und Strukturierung des Forschungsgegenstandes integraler Bestandteil wissenschaftlich-logischer Vorgehensweise sein muss, um überhaupt nachprüfbare Ergebnisse liefern zu können. Oder um mit Helmut Kromrey zu sprechen (Kromrey, 1986, S. 70):

    „Intersubjektive Überprüfbarkeit des Forschungsprozesses setzt präzise Definitionen voraus. Diese haben üblicherweise die Form von Nominaldefinitionen: ‚Wir verstehen unter x einen Gegenstand mit den Eigenschaften E1 bis En’."

    Und weiter sollte man beherzigen:

    „Je besser, je verläßlicher die Theorie, nach der wir den Gegenstandsbereich strukturieren, desto präziser werden die Beschreibungen; und umgekehrt: je präziser die Beschreibungen, desto besser werden wir unsere Theorie über den Gegenstandsbereich formulieren können. Deshalb sind wir bei jeder Begriffsbildung nicht nur auf eine vorab vorhandene Theorie angewiesen, sondern formulieren zusätzlich die Forderung: auch die für deskriptive Zwecke verwendeten Begriffe sollen so definiert werden, daß sie theoretisch verwertbar sind; nur dann sind die Ergebnisse der Beobachtungen auf die ‚Vorab-Theorie’ beziehbar," (Kromrey, 1986, S. 62)

    Dies ist eine Binsenweisheit der empirischen Sozialforschung, die jedes wissenschaftlich geschulte Hochschulteam kennen und beachten müsste. Von scheinbar selbsterklärenden Begriffen auszugehen, schafft Probleme der fachlichen Verständigung und könnte als Versuch zur Herstellung von Kritik-Immunität aufgefasst werden.

    Zum anderen spricht Hoffmann in seiner bedenkenswerten Zusammenfassung von der oftmalig vorgefundenen extremen Spannweite der Deliktformen als Folge einer unscharfen und / oder zu weit gefassten Amok-Ausdeutung. Dieser Kritikpunkt wurde bereits in anderen Studien als „inflationärer Gebrauch der Bezeichnung „Amok benannt. Entscheidend ist hier der interdisziplinäre Konsens über zentrale Kriterien, die den Amok zur Gänze ausmachen.

    Beschränkt man sich auf das ursprüngliche gesellschaftliche Phänomen im Kulturraum des malaiischen Archipels (Malaysia, Indonesien, Singapur, usw.), dann folgt man den engen Definitionen von van Loon oder Adler. Aber selbst ihre Erklärungsversuche sind noch recht weit gefasst: Der Begriff des Amok trifft in dieser kulturellen Prägung sowohl auf das Verhalten elitärer Kriegergruppen als auch auf individuelle Gewalttaten zu. Die Eliminierung der Amok-Bedeutung für das geschichtlich gesicherte Verhalten hinduistischer „Amucos" oder der malaiischen Kampfgruppen wäre reine Willkür und würde aus kulturhistorischer Sicht nicht akzeptabel sein. Mit jeder weiteren Einengung der Amok-Definition fallen zentrale Aspekte aus dem Forschungsraster heraus:

    Die Entscheidung für eine bestimmte Mindest-Opferzahl als Schwellenwert der Vergabe des Etiketts „Amoklauf" ist ebenso heikel, wie die definitorische Begrenzung der Täter*innen auf eine spezielle Altersgruppe (z. B. Jugendliche). Nun ist es sicher legitim, das Forschungsziel durch einen Rahmen eigener Nominaldefinitionen abzustecken. Dann aber muss betont werden, dass man nur einen Ausschnitt aus der gesamten Realität und Komplexität des Amok-Phänomens erfassen will. Nicht zu empfehlen ist die eigene, spezielle Darstellung als einzig korrekte Definition des Amok, während alle anderen Aspekte des Phänomens unter diversen Pseudo-Namen ausgegliedert sind. Fazit: Im Umkehrschluss zu der Hoffmann’schen Warnung vor einer zu großzügig Amok-Deutung könnte man also auch vor zu eng ausgelegten Definitionen warnen.

    In fast allen Studien zum Amok-Phänomen wird das Definitions-Dilemma benannt. So heißt es zu Beispiel bei Elstermann und Buchwald (URL Elstermann u. Buchwald, 2009, S. 3:

    „Der Begriff »Amok« gehört heutzutage zum alltäglichen Wortschatz und wird auf vielfältige Weise verwendet. Erst dieses Jahr konnten auf den Titelseiten verschiedener Tageszeitungen erneut Schlagzeilen wie ‚16 Tote bei Amoklauf in Baden-Württemberg" (General-Anzeiger online, 2009, S. 1) gelesen werden. Aber auch in extremen Stresssituationen findet er Anwendung. ‚Die vielfältige Verwendbarkeit des Begriffs »Amok« wird dadurch begünstigt, dass er weder sozialwissenschaftlich noch kriminologisch oder strafrechtlich eindeutig definiert ist’ (Scheithauer & Bondü, 2008, S. 8).

    Es stellt sich also die Frage, was man genau unter dem Phänomen Amok versteht, das keinesfalls neu ist, sondern mindestens bis ins 14. Jahrhundert zurück reicht. So herrscht in der Literatur noch Uneinigkeit darüber, mit welchem Begriff das hier untersuchte jugendliche Gewaltphänomen im Deutschen am besten zu bezeichnen ist."

    Nachfolgend wird dann betont (a. a. O., S. 6 f.):

    „Tatsächlich gibt es immer noch keine einheitliche Definition von Amok. Amok und Amoklauf sind im Sprachgebrauch der westlichen Länder weder psychiatrische oder psychologische noch juristische oder kriminologische Termini (Adler, 2000).

    […] Im deutschen Strafrecht gibt es keinen Strafbestand wie »Amok«. Die Täter einer solchen Tat werden ‚gemeinhin des Mordes für schuldig befunden’ (Scheithauer et al, 2008, S. 8)."

    Deutlich wird: Es gibt bisher keinen Konsens bezüglich der Amok-Definitionen – schon gar nicht auf interdisziplinärer Ebene. Der kleinste gemeinsame Nenner ist schlicht nicht existent. Die Suche nach einem „Idealtypus", der allen Forschungsrichtungen zugleich angemessen erscheint, wird auch zukünftig wenig Erfolg zeitigen. Dies liegt nicht zuletzt an der problematischen Datenlage im Forschungsfeld Amok. So führt Paulus mit Blick auf seine eigene, spezielle Stichprobe aus:

    „An aussagekräftige Informationen über Amokläufer zu gelangen, ist nicht ganz einfach. Alleine die Tatsache, dass die Täter der letzten 20 Jahre alle bei ihrem Amoklauf gestorben sind, macht schon klar, dass man bei den Recherchen auf andere Quellen zurückgreifen muss. Es gilt, die Informationen in Printmedien, im Internet oder auch, insbesondere im amerikanischen Raum, in Veröffentlichungen von offiziellen Stellen (Polizei, psychiatrischen Gutachtern oder Gerichten zu bewerten." (Paulus, 2016, S. 11)

    Bemerkenswert ist hier mit Bezug auf zu analysierende School Shootings das nachfolgende Plädoyer gegen eine Reduktion auf jugendliche Täter. (Paulus, 2016, S. 11 f.) So erhöhe eine möglichst weit gefasste Tätergruppe zwar die Varianz in vielen Variablen, aber es würde sich zugleich auch eine effektivere, stärkere Informationsdichte ergeben. Wenn primär Fragen nach der Motivation für den Amok und die damit verbundene Entstehungsgeschichte das Ziel der Analyse sind, dann sei die möglichst große Zahl der Informationen entscheidend für das Analyse-Resultat. Paulus merkt abschließend an, dass dieses Vorgehen in der kriminologischen Forschung Tradition hat, und er zitiert Würz, der aus Erfahrung berichtet, dass …:

    „[…] investigative Recherchen in Einzelfällen einen punktuell besseren Informationsstand aufweisen als Ermittlungsergebnisse von Sicherheitsbehörden aufgrund deren rechtlicher und tatsächlicher Begrenzungen. ‚Open Source’ ist somit keine unergiebige Informationsquelle für eigene Ermittlungsansätze."

    (Paulus, 2016, S. 11 f.; zitiert aus: Würz, 2015, S. 221) Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Genau dieser Informationsansatz wurde im Wesentlichen auch in der vorliegenden Arbeit verfolgt. In der nächstehenden Tabelle sind die hier erörterten Definitionsversuche abschließend noch einmal in der Zusammenschau aufgelistete. Als Problempunkte der einzelnen Definitionen werden in Stichworten nur die wichtigsten möglichen „Schwachstellen" angesprochen.

    Tabelle 1:

    Amok – Definitionsversuche und ihre Problempunkte

    2. 3. Amok - Kaleidoskop der willkürlichen Abgrenzungen

    In seiner Darlegung der Begriffe und ihrer Abgrenzungen bietet Paulus eine schematische Übersicht zur Einordnung von Amok in Taten mit mehreren Opfern (Paulus, 2016, S. 9). Diese Übersicht, die weitgehend der gängigen kriminologischen Differenzierung entspricht, trennt für die Kategorie „Mehrfachmorde" zwischen den Delikt-Typen in dieser Reihenfolge:

    • Serienmord,

    • Massenmord,

    • Amok,

    • Murder Spree.

    Erörtert wurde hier bereits die Abgrenzung des Deliktes „Serienmord vom Amok-Phänomen. Die oftmals gravierenden theoretischen Schwachpunkte dieser und ähnlicher Unterscheidungen lassen es geraten erscheinen, noch einmal grundsätzlicher auf dieses Problem zu blicken - insbesondere, da mit den oben genannten vier Begriffen wie auch mit dem des „Terroristen allzu häufig ein Verwirrspiel ausgelöst wird. Wie Paulus (2016, S. S. 9) in seiner Übersicht zu den vorstehend aufgelisteten Delikt-Typen ausführt, wird die kriminologische Grenzziehung zwischen ihnen im Wesentlichen von fünf Unterscheidungsmerkmalen bestimmt:

    • Der sog. cooling-off-Phase (zeitlicher Abstand der Taten),

    • der Mindestanzahl der Todesopfer,

    • der je nach Delikt-Typ unterschiedlichen Motivation,

    • der Opfer-Auswahl: zufällig oder gezielt,

    • dem Tatort: lokal begrenzt oder eben nicht.

    Nicht eines dieser Unterscheidungsmerkmale hält der Kritik stand - und damit verwischen sich realiter die Grenzen zwischen diesen „Idealtypen von Mehrfachmord. Die Analyse der Hintergründe wird folglich durch falsches „Schubladen-Denken erschwert.

    2. 3. 1. Die Phase der Abkühlung („cooling off")

    Für den Amok, den Massenmord und den Murder Spree besteht - nicht nur nach Paulus - die Annahme, dass in allen drei Fällen zwischen den Gewalttaten keine Phase der Abkühlung existiert. In der Sprache der Strafjustiz wird hier von Delikten ausgegangen, die in Tateinheit erfolgen: Dies ist immer dann der Fall, wenn mehrere Strafgesetze von ein und derselben Handlung verletzt werden. Im StGB (§ 52) heißt es dazu:

    „(1) Verletzt dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals, so wird nur auf eine Strafe erkannt.

    (2) Sind mehrere Strafgesetze verletzt, so wird die Strafe nach dem Gesetz bestimmt, das die schwerste Strafe androht. Sie darf nicht milder sein, als die anderen anwendbaren Gesetze es zulassen."

    (StGB, § 52, Tateinheit; Fischer, 2021, S.482)

    Im Bereich der Strafjustiz ist damit jeder Richter / jede Richterin gehalten, zwischen Tateinheit und Tatmehrheit (Tatmehrheit, StGB, § 53; Fischer, 2021, S. 484) zu unterscheiden. Sollte Tateinheit ersichtlich sein, so muss genau das Gesetz Anwendung finden, welches die schwerste Strafe vorsieht. (siehe dazu zum Beispiel: URL Decker u. Böse, 2022) Das nicht nur juristische Problem ist hierbei, wie das Gericht die mögliche Tateinheit überhaupt feststellen kann. In den einschlägigen juristischen Quellen wird dazu ausgeführt, dass man im Strafverfahren eruieren muss, ob der Täter / die Täterin im gesamten Tatgeschehen einen einheitlichen Willen gezeigt hat. Diese „natürliche Handlungseinheit liegt vor, „weil ein objektiver Dritter das Handeln des Täters als ein Geschehen betrachten würde (URL Decker u. Böse, 2022). Fazit: Mehrere gleichartige Handlungen müssen auf einem einheitlichen willentlichen Tatentschluss basieren und unmittelbar nacheinander den gleichen Straftatbestand realisieren oder ihn wiederholen. (URL Koerperverletzung, 2022)

    Damit wird deutlich, auf welch’ dünnem Eis die gerichtlichen Entscheidungen zum Thema Tateinheit / Tatmehrheit oftmals getroffen werden müssen.

    Der imaginäre „objektive Dritte, der das Geschehen betrachtet und die Gewalttaten als ein „Gesamtwerk interpretiert, kann sich durchaus gründlich irren – ebenso, wie das Gericht. Das nachstehende Beispiel aus der universitären rechtswissenschaftlichen Ausbildung mag verdeutlichen, wie fehleranfällig die Entscheidung über Tateinheit und Tatmehrheit realiter sein kann:

    „Fall 2: Terrorist T gibt mehrere Schüsse in eine Menschenmenge ab, um möglichst viele Personen zu töten oder zu verletzen. A, B und C werden tödlich getroffen; D und E werden schwer verletzt.

    §§ 212 (3x) , 224 (2x)

    Tateinheit? Keine Handlungseinheit (str.), daher: Tatmehrheit…

    2. Tatmehrheit (Realkonkurrenz), § 53 StGB:

    a) Voraussetzungen: Ob Tatmehrheit vorliegt, ist negativ zu bestimmen, d. h. sie ist immer dann gegeben, wenn nicht Tateinheit zu bejahen ist.

    b) Rechtsfolge: Es ist auf eine Gesamtstrafe zu erkennen (§ 53 Abs. 1 StGB). Gem. dem sog. Asperationsprinzip geschieht dies durch Erhöhung der verwirkten höchsten Einzelstrafe, wobei die Gesamtstrafe die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen darf (§ 54 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 StGB). Die Einzelstrafen dürfen also nicht einfach addiert werden, damit nicht im Einzelfall eine unangemessen hohe Strafe festgesetzt wird. Vielmehr sind bei der Gesamtstrafenbildung die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend zu würdigen; die Einzelstrafe ist sodann unter Berücksichtigung dieser Würdigung angemessen zu erhöhen (BGH NStZ 2001, 365 f.)."

    (URL Kindhäuser, Vorlesung Strafrecht AT)

    Wenn also in Amok-Definitionen (z. B. bei Faust) von der Tateinheit ausgegangen wird, dann sollte man stets bedenken, dass ein juristisches Konstrukt vorliegt, welches in praxi nur mit dem oftmals erheblichen Risiko subjektiver Fehlbewertung umzusetzen ist.

    Mit Blick auf den kriminologischen Begriff des „cooling off" verbindet sich der Gedanke, dass ein signifikant großer Zeitraum zwischen den einzelnen Gewaltdelikten eines Täters / einer Täterin zu beobachten ist. Eine Zeitspanne von wenigen Stunden oder gar Minuten wäre für die theoretisch postulierte Abkühlungsphase schlicht zu kurz - und damit nicht glaubwürdig. Und genau hier liegt die Krux: Nur relativ wenige kriminologische Studien, die den theoretischen Ansatz der Abkühlungsphase benennen, treffen eine Aussage über die Mindestdauer dieses angenommenen Zeitraumes, während man zum Beispiel bei der Mindestopferzahl weniger zurückhaltend ist. Eine Ausnahme von der Regel stellt etwa die Studie von Ronald M. und Stephen T. Holmes dar. Dort heißt es:

    „Serial murder is the killing of three or more people over a period of more than 30 days, with a significant cooling-off period between the murders. The baseline number of three victims appears to be the most common among those who are the academic authorities in the field. The time frame also appears to be agreed-upon component of the definition."

    (Holmes u. Holmes, 1998)

    Und bei Osborne und Salfati, die speziell das Problem der Abkühlungsphase im Fokus ihrer Forschunsgarbeit hatten, findet man folgende Aussage:

    „[…] Given the opportunity to include time in their reasoning, experts agreed most highly on the influence of ’Cognitive State’ factors (emotional cool-off present) and ’Arousal’ factors (emotional cool-off absent) as most the important reason, with time holding third and second places, respectively. Furthermore, previous research has determined at least 30 days must have lapsed between homicides in order for the perpetrator to have experienced a ’significant cooling-off period’ and therefore, for the perpetrator to be considered serial (Holmes & Holmes, 1998; Osborne & Salfati, 2015), although more recently, Yaksic et al. (2021) noted that intervals between the kills can be as short as one day. Present findings challenge this ideology, as multiple scenarios ranged from 24 to 48 h and experts still perceived time to be influential in cool-off having occurred.

    […]" (URL Osborne u. Salfati, 2014)

    Deutlich wird hier: Ein Konsens bezüglich der Zeiträume zwischen den Gewalttaten (cooling-off-Phase) liegt nicht vor. Die mehr oder weniger fundierten Vermutungen reichen von mindestens 30 Tagen bis herunter zu einem einzigen Tag. Und wie Osborne und Salfati betonen, finden sich aktuelle Studien, die in ihren Szenarien Zeitspannen von 24 bis 48 Std. benennen. Es besteht also eine definitorische Lücke - aus gutem Grund: Die konkrete, generell gültige Grenzziehung ist weitgehend Spekulation. Denn es gibt Fälle von derart etikettierten „Serienmörder*innen", die den Begriff Abkühlungsphase

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