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Leid und Leidverwandlung: Plädoyer für ein integratives Leidverständnis
Leid und Leidverwandlung: Plädoyer für ein integratives Leidverständnis
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eBook442 Seiten5 Stunden

Leid und Leidverwandlung: Plädoyer für ein integratives Leidverständnis

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Über dieses E-Book

Was ist eigentlich Leid? Wie entsteht es? Durch welche Vorgänge erzeugen wir es? Welche Arten existieren? Und: Wie kann Leid transformiert werden, damit es uns nicht mehr bzw. uns nur noch soweit belastet, um wieder sinnerfüllt leben zu können? Auf diese Fragen versucht das Buch Antworten zu geben.

Leid ist eine fundamentale, existenzielle Fragestellung, welche jeden Menschen in seinem Leben trifft. Dieser Ratgeber versucht im ersten Teil Leid zu deuten; im zweiten werden konkrete Strategien erklärt, wie Leid verstärkt oder verwandelt wird; der letzte Abschnitt legt mögliche positive Aspekte von Leid dar, die es für das Leben von Betroffenen haben könnte. Um diese Aufgabenstellung bewerkstelligen zu können, wurden zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Bereich der Psychologie, Medizin, Philosophie und Biologie eingearbeitet.

Der Autor, ein Rollstuhlfahrer, der unter Muskelschwund leidet, beschreibt Leid, seinen Umgang damit, wie er mit ihm leben lernte und was es ihn lehrte. Er möchte durch dieses Buch Hilfe, Kraft und Mut allen schenken, die Leid erleben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Nov. 2018
ISBN9783746982090
Leid und Leidverwandlung: Plädoyer für ein integratives Leidverständnis

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    Buchvorschau

    Leid und Leidverwandlung - Johannes Höggerl

    VORWORT: LEID – MEIN LEID – WIESO?

    Dieses Buch ist die Zusammenfassung meiner Beschäftigung mit dem Thema Leid; und es könnte ganz berechtigt gefragt werden: „Wie komme ich darauf? Die Antwort ist ganz einfach, weil ich sehr viel in meinem Leben litt: Ich leide unter einer progressiven Muskelschwundkrankheit namens Calpainopathie (LGMD2a). Diese Erbkrankheit führt zu einer völligen Zerstörung meiner Muskulatur: Mit etwa neun Jahren nahm ich sie das erste Mal wahr und bis heute ist sie mein ständiger Begleiter. Ich versuchte trotz oder wegen dieser mein Leben so gut es geht zu meistern: Studierte Jus sowie Philosophie, heiratete eine tolle Frau, arbeitete jahrelang in Behörden und wurde mit einer bezaubernden Tochter beschenkt. Meine Krankheit entwickelte sich auch in dieser Zeit fort; bis vor fünf Jahren konnte ich noch Gehen und Stehen. Leider ist das heute nicht mehr möglich, ich bin von einem Rollstuhl abhängig und kann krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten, weswegen ich Ende 2015 in Pension ging. Diese chronische Krankheit, für die es leider noch keine Therapie gibt, zwingt mich mein Leben eingeschränkter zu führen als ich möchte, sie war Ursache und Auslöser für die Beschäftigung mit Leid. Ich erlebte über die Jahre sehr viele erzwungene Veränderungen: Mit etwa 25, ich beendete gerade mein Jus-Studium, konnte ich noch alleine von einem Bürostuhl aufstehen und auf der Straße gehen. Mit 30, ich fing gerade in meiner dritten Arbeitsstelle – abermals einer Verwaltungsbehörde – an, benötigte ich zum Aufstehen bereits technischer Hilfsmittel (hochfahrbaren Sessel) und konnte nur noch langsam mit einem Rollator gehen. Als ich 35 Jahre alt wurde, war meine Geh- und Stehfähigkeit so schlecht, dass ich mich nur sehr schwer aufrichten und in meiner Wohnung ein paar Schritte machen konnte. Der große Einbruch erfolgte rund um meinen 40 Geburtstag: Aufrichten, Stehen und Gehen war fortan unmöglich; seither nehme ich die Welt nur noch sitzend wahr. Augenblicklich bin ich im 45. Lebensjahr und entwickle mich in Richtung eines schweren Pflegefalls, der ständige Betreuung in alltäglichen Dingen, dazu später mehr, benötigt. Langsame Progressionen, wie bei mir, besitzen viele Vorteile, aber einen großen Nachteil: Wir – die Kranken und Leidenden – müssen uns bisweilen verändern, weil keine Stabilität durch die Krankheit existiert. Ich musste immer wieder – gezwungenermaßen – mein Leben ändern, es an meine Krankheit neu anpassen, was Leid erzeugte, da ich etwas aufgeben musste, auf was ich eigentlich nicht verzichten wollte und erlebte depressive Phasen, in denen ich mich fragte: „Warum gerade ich? Selbstverständlich entstanden zudem negative Gefühle und ständige Fragen kreisten in mir: „Wie geht es weiter?, „Wie werde ich in ein paar Jahren beisammen sein? Erst durch die nähere Beschäftigung mit dem Leidthema entwickelte ich – für mich – Strategien, wie ich damit umgehen und später wie ich es verwandeln konnte. Ich wurde durch die Krankheit sicher sehr reflexiv, wollte immer alles genau verstehen, weshalb ich irgendwann begann, mich damit näher zu beschäftigen: Ich schuf Distanz zu meinem Leid, anderseits lernte ich, welche Strategien für seinen Umgang entwickelt wurden. Über viele Jahre, eigentlich waren es sicher mehr als fünfundzwanzig, entstanden in mir verschiedene Gedanken zum Thema Leid, ich überlegte mir oft, wie ich mein persönliches „Wissen" weitergeben könnte, und kam schließlich auf die Idee, ein Sachbuch darüber zu schreiben. Ich will damit Mut machen, denn wir können trotz einer schweren chronischen Krankheit ein erfülltes und glückliches Leben führen. Mein Dasein empfinde ich als sinnvoll, schön und lebenswert, trotz und wegen meiner Krankheit. Alles, was mir half, diese positive Lebenseinstellung zurückzugewinnen, packte ich in das Buch.

    Das Thema Leid ist eine Querschnittsmaterie, die alle Wissenschaften beschäftigt, deswegen versuchte ich, möglichst viele verschiedene Bereiche zu Wort kommen zu lassen: Neben Medizin, Biologie und Psychologie sollen insbesondere immer wieder auf philosophische Aspekte eingegangen werden. Da ich selbst ein Leidender bin, nehme ich mir das Recht heraus, auch auf meine persönlichen Erfahrungen einzugehen. Ich will anderen meinen eigenen Zugang erschließen und Hoffnung sowie Kraft schenken. Mir ist durchaus bewusst, alles, was ich für mich als richtig erkannt habe, muss für andere nicht gelten.

    Dieses Buch gliedert sich in drei Teile, die jeweils eigenständig voneinander gelesen werden können, da sie abgeschlossen sind: Der Erste probiert dem Phänomen des Leidens philosophisch näher zu kommen. Er versucht Entstehung, Inhalt und Ursachen von Leid offen zu legen, auch werden verschiedene Arten davon dargestellt. Zwar ist Leid widersinnig, aber durch das begreifen, was es ist und wie es entsteht, können wir doch viel für uns gewinnen. Wer keine Lust auf die etwas sperrige, philosophische Erörterung des ersten Abschnitts besitzt, empfehle ich gleich, sich mit dem zweiten zu beschäftigen, da dieser konkrette Strategien darlegen versucht, wie Leid verwandelt werden kann. Es geht nicht um das Erklären einer einzigen, richtigen Praktik, weil es diese nicht gibt, vielmehr sollen verschiedene, sich teilweise widersprechende, vorgestellt werden, da Leid unterschiedlich sein kann, anderseits die Leidenden divergent sind. Darum werden möglichst viele Strategien nähergebracht, um jedes Leid transformieren zu können.

    Der Schlussteil ist eigentlich ein Bruchstück und beschäftigt sich mit den Aspekten oder Früchten des Leidens. Er stellt die Frage: „Was aus dem Leid gewonnen werden kann? oder: „Welche positiven Aspekte es aufweisen könnte?. Leid ist an sich sinnlos, aber im Umgang damit kann für unser eigenes Leben sehr wohl Erkenntnisse und Einstellungen gewonnen werden. Der letzte Teil fragt nach dem „Wozu können wir Leid gebrauchen? respektive „Was kann ich ihm abgewinnen?. Er versucht somit aus und in unserem Umgang damit Sinn zu finden.

    Das Buch fasst Wissen zusammen, welches nicht nur von mir stammt. Ich bemühte mich möglichst genau anzugeben, von wem die betreffende Idee stammt und welche Quellen ich verwendete. Ich zitierte ganz bewusst andere häufig; dies geschah, weil jedes kreative Produkt irgendwie ein Gemeinschaftswerk ist und wir das ruhig sagen dürfen. Kaum ein Werk in der Ideengeschichte der Menschheit stammte von einer Person alleine. Die meisten waren Kompendien von unterschiedlichen Gedanken verschiedener, die sich mit einer Anregung beschäftigten, deswegen finde ich es nur redlich, wenn ich die „Vor"-Denkenden¹ nicht nur benenne, sondern auch selbst zu Wort kommen lasse. Ich hoffe, dieses Buch hilft vielen, die über Leid mehr wissen wollen, als Informationsquelle; aber vor allem möge es allen Leidenden als Kraftquelle, damit sie mit ihm besser umgehen können, dienen.

    A. ERSTER TEIL:

    THEORIE VON LEID UND

    LEIDVERWANDLUNG

    I. WAS IST LEID

    Unter dem Leidbegriff wird sehr viel Unterschiedliches verstanden; der Brockhaus definierte es folgendermaßen:²

    Leid ist eine Grunderfahrung und bezeichnet als Sammelbegriff all

    dasjenige, was einen Menschen körperlich und seelisch belastet.

    Genau diese Definition soll zunächst näher besprochen werden, da sie sehr viel Wesentliches enthält:

    1. Leid als Grunderfahrung:

    Dies bedeutet, Leid begleitet uns lebenslänglich und bleibt uns nicht erspart. Alle betrifft es in irgendeiner Form, es ist somit nichts Außergewöhnliches. Ganz im Gegenteil: Leid ist für uns alle unausweichlich. Dies liegt in einer naturgemäßen Ursache begründet, nämlich den biologischen Abbau bzw. Alterungsprozess. Ein leidfreies Leben wäre kein menschliches. Zum Menschsein gehört Leid – leider – dazu, weil es unentrinnbar ist und deswegen eines unserer großen Lebensthemen ist, an dem sich schon Unzählige abarbeiteten.

    2. Sammelbegriff:

    Darunter werden viele Inhalte verstanden, die nicht immer übereinstimmen, es umfasst körperliche wie auch seelische Schmerzen. Leid wird ferner als Oberbegriff für verschiedene Probleme begriffen: Auch unglücklich sein, fällt darunter. Sagen wir zum Beispiel: „Ich leide" intendiert dies immer, wir sind niedergeschlagen. Leidende erscheinen uns immer als Unglückliche, die nicht ganz, nicht heil sind, wobei wir erst ab einem gewissen Grad oder Schwere von einem echten Leiden sprechen. Erreicht die körperliche oder seelische Belastung ein gewisses Niveau, wird es zum Leid. Dies kann in der Stärke als auch an der Dauer der Belastung liegen. Ein Aspekt, auf welchen weiter unten noch eingegangen werden soll, ist der Zeitpunkt, ab dem ein Problem zum Leid wird, dies kann nämlich völlig unterschiedlich erlebt werden. Leid kann nicht nur eine Person erfahren, sondern auch Gruppen oder Systeme.

    3. Körperliche oder seelische Belastung:

    Leid kann eine körperliche wie auch eine seelische Belastung bedeuten. Neben körperlichen Schmerzen und Krankheiten können Leiden auch durch seelische Erfahrungen entstehen. Leib, Psyche und der Intellekt werden durch Leid beeinträchtigt. Dass in der Brockhaus Definition kognitives Denken nicht genannt wird, erscheint mir doch sehr nachlässig: Denn Bewusstsein besitzt bei der Realisierung von Leid überragende Bedeutung. Es zeigt uns, wir leiden bzw. wir realisieren erst durch dieses, dass wir leidend sind. Leid entsteht durch negative Veränderungen unseres Lebens oder durch negativ erlebte Zustände: So trivial diese Aussage sein mag, so wichtig ist es, sich klar zu machen, Leid ist Folge einer negativen Entwicklung oder einer ungewollten aktuellen Situation. Negativer Wandel und / oder Lebenslagen führen zur mentalen, körperlichen oder seelischen Belastung; Leid ist somit unsere Reaktion auf beides.

    4. Leid ist immer subjektiv:

    Was wir tatsächlich als Leid empfinden, hängt vom Individuum ab, also von den eigenen Erfahrungen und Einstellungen. Hier liegt bereits ein Schlüssel zur Leidverwandlung vergraben. Leid ist immer individuell, das bedeutet, was für die eine bereits eine seelische Belastung darstellt, ist für den anderen gar nicht so schlimm. Der eine empfindet so; die andere eben anderes. Genau diese individuelle Faktizität von Leid bewirkt, wir können sinnvoll nicht dagegen argumentieren, wie Rainer Piepmeier schrieb:³

    Wer leidet, hat in diesem Sinne immer ´recht´. Man kann nicht angemessen sagen: „Du leidest nicht oder, „Du darfst nicht, „Du sollst nicht". Allerdings kann man mit dem Leidenden darüber sprechen, ob das, was der Faktizität seines Leidens zugrunde liegt, in einem angemessenen Verhältnis zur Reaktion des Leidens steht.

    Die eine leidet bereits, falls sie Kranke und Behinderte sieht, die andere empfindet dies hingegen als nicht so tragisch. Das gilt nicht nur für die Tatsache, dass wir leiden, sondern auch für die Stärke und die Dauer des Leidens. Für den einen ist ein gewisser Sachverhalt nur ein Problem, eine Herausforderung oder eine Einschränkung, was für den anderen bereits ein echtes Leid darstellt. Dieses ist damit eine seelische und oft körperliche Reaktion auf ein Geschehen oder eine Information. In meiner beruflichen Tätigkeit bekam ich es auch mit Suizide zu tun: Polizeiberichte darüber beinhalteten immer wieder Abschiedsbriefe, aus einem möchte ich zitieren, ein 35-jähriger Mann schrieb:

    Ich will nicht mehr allein sein! Macht euch keine Sorgen jetzt geht's mir

    besser! Seid nicht traurig. Ich habe euch lieb

    und im nächsten Leben habe ich wirklich viel Spaß.

    Als Gegenbeispiel dient mir ein ehemaliger Arbeitskollege: Dieser lebte, solange ich ihn kannte – also mehr als zwölf Jahren – ohne Freundin. Er suchte nicht nach einer, war mit sich selbst zufrieden. Obwohl er Ende vierzig war, teilte er nicht das Bedürfnis sich zu verlieben. Deswegen fuhr er alleine auf Urlaub, ging seinen Hobbys nach, wirkte sehr positiv sowie in Einklang mit sich und besaß auch keine Ansprüche auf eine Beziehung oder Familie. Er schien glücklich zu sein und mit seinem Leben zufrieden. Wurde er gefragt, ob es ihm nach einer Liebesbeziehung verlange, ob er sich danach sehne zu lieben und geliebt zu werden, sagte er: Ja und Nein. Ja, wenn die Richtige käme, möchte er lieben und geliebt werden, aber solange er diese nicht kenne, sei er trotzdem glücklich, er verschließe sich keiner Beziehung, aber suche danach nicht. Beide Männer lebten ohne echte Bindung: Der eine erfuhr sein Leben – auch deswegen – als freud- und sinnlos, der andere nicht. Der eine suchte und fand kein Gegenüber, der andere strebt nicht danach, wäre aber offen dafür. Der eine empfand zu wenig Glück und Spaß, der andere nimmt es als gelungen und glücklich wahr. Was wir anhand der beiden erkennen können: Leid ist subjektiv, weil vergleichbare Situationen unterschiedlich bewertet werden. Der eine will und kann nicht ohne Beziehung leben, der andere ist trotzdem glücklich. Sicher spielen andere Faktoren ebenfalls eine Rolle, aber es wird doch sehr deutlich, wie unterschiedlich Menschen mit ähnlichem Sachverhalt umgehen. Die eine trauert jahrelang über den Tod ihrer Mutter, während die andere darüber Erleichterung empfindet. Je sensibler wir sind, desto leichter kann Leid entstehen und umso länger kann es uns binden. Je gefühlsärmer wir sind, desto besser können wir damit umgehen, sollten uns jedoch den Vorwurf mangelnden Gefühlsleben und Empfindsamkeit gefallen lassen. Menschen bewerten Ähnliches unterschiedlich und jede Reaktion besitzt ihr Für und Wider. Keine ist ganz richtig, keine falsch. Sicher besitzen folgende Faktoren einen Einfluss: Veranlagung; die Ausprägung des eigenen Gefühlslebens; die Fähigkeit zur Empathie; die Erziehung; die eigene Biographie bzw. Erfahrungen; externe Umwelteinflüsse und die Fähigkeit zur Reflexion und Selbstkritik. Begreifen wir, Leid ist nicht schicksalhaft gegeben, sondern von einem selbst abhängig, können wir anders damit umgehen, hoffentlich leidbefreiter.

    5.Beispiele:

    Es existieren unendlich viele Beispiele für Leid, wir können jedoch gewisse Gruppen zusammenfassen:⁴

    Nichterfüllung von Bedürfnissen, Hoffnungen, Erwartungen;

    Äußere Zwänge und Begrenztheit;

    Behinderung;

    Alter;

    Krankheit;

    Sterben und Tod;

    Schmerzen;

    Verlust von Individuen (Trauer);

    Trennung von Menschen oder Gruppen (Heimweh);

    Anhand einer Krankheit können wir sehr deutlich die Wirkweise von Leid erkennen, wie Farideh Akashe-Böhme und Gernot Böhme erklärten:⁵

    Gemessen an den Plänen und Zielen, aber auch gemessen an der

    Normalität des Alltages, etwa des Berufslebens, ist Krankheit der

    Einbruch von Diskontinuität, von Irrationalität und Chaos. Krankheit

    erscheint aus der Perspektive des normalen Lebens als das

    Unordentliche, das Unvorhergesehene, das in das Leben Entwicklung

    hineinbringt, deren Ausgang offen ist.

    Präziser können wir nicht die Wirkung – nicht nur von Krankheiten – sondern von jeder Form von Leid zusammenfassen. Neben dieser allgemeinen Definition sollten wir versuchen Leid in einem engeren Sinne zu definieren: Alfried Längle bezeichnete Leid als die empfundene Zerstörung von Wertvollem, welches als lebenstragend oder sogar lebenserhaltend empfunden wird.⁶ Es entsteht, sobald ein an sich Wertvolles wesentlich eingeschränkt, behindert oder sogar zerstört wird, gerade Verluste schmerzen und führen dazu. Es ist somit das Gegenteil von Wert und an sich sinnlos.

    Karl Jaspers verstand Leiden als Grenzsituation, in der der Mensch die Erfahrung mache, seine Existenz sei bedroht. Diese entziehe ihm den Boden unter den Füßen, weshalb er die Welt nicht mehr in der gewohnten Festigkeit begreifen könne.⁷ Leid ist Grenzsituation, in welcher dem Leidenden jede Stabilität geraubt wird. Wir verlieren den Halt, werden in unseren Grundfesten erschüttert, wodurch wir einen schockartigen Verlust unserer Sicherheit erleben. Philosophisch gesehen wird uns durch Leid die ontologische Sicherheit geraubt.⁸ Dieser Verlust entreißt uns die persönliche Basis und ist ein Ein-Bruch am eigenen, existenziellen Vermögen. Wir bemerken, es ist da etwas vorhanden, welches wir nicht kontrollieren können und sich unserer Gestaltung entzieht. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang auch vom Gehäuse, das abrupt auseinanderbricht oder zumindest für längere Zeit erschüttert wird.⁹ Mit seinem Bruch, welcher Weltbild, Tradition, Werte und Haltungen sein können, zerbricht die Kontinuität des bisherigen Lebensentwurfes, weswegen die Festigkeit des Daseins bröckelt.¹⁰ Wir verlieren durch diesen Zusammenbruch das Vertrauen in unser Sein, die Welt und in jedem Sinn. Leid im engeren Sinne hat somit eine existenzbedrohende oder zumindest existenzerschütternde Wirkung inne. Es bedroht uns, zeigt Grenzen des Lebens auf, die wir nicht überschreiten können. Leid schmerzt und kann vernichten, wobei es immer eine subjektive Größe ist, die nie ein anderer vollständig nachempfinden kann. Einen sehr interessanten Ansatz liefert Petra Meibert: Sie beschrieb, Leid beginne an jener Stelle, wo wir die Dinge anders haben wollen, als sie seien.¹¹ Leid ereignet sich also dort, wo unser Wille auf Widerstand trifft, wobei dieser nicht unbedingt ein dinglicher sein muss. Dies ist deswegen so interessant, weil damit der Wille zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der gesamten Leiddebatte wird.

    Wir können den Begriff Leid einer logisch-systematischen Analyse unterziehen, wie dies Clemens Sedmak vorschlug:¹² Demnach können wir zwischen einem Leidenssubjekt X (Wer leidet – ein Mensch, eine Gruppe oder ein Tier), einem Leidensgegenstand Y (Woran leidet X – Einsamkeit, Trauer, Armut, Krankheit), sowie einem Leidensgrund oder Leidensquelle Z (Naturkatastrophe, böse Handlung anderer, wirtschaftliche Situation oder eigenem Verschulden) unterscheiden. Zusätzlich ist noch zu differenzieren zwischen der Leidensweise (Dauer, Intensität und Art des Leidens) und der konkreten Leidenssituation (in welchem Kontext steht Leid, leidet das Leidenssubjekt alleine oder wird ihm geholfen, ist es ein chronisches oder einmaliges Leiden?). Zusammenfassend können wir fragen: „Wer leidet woran, warum und wie?".¹³ Eine Annäherung an fremdes und eigenes Leiden ist dadurch möglich, wobei es nur eine solche sein kann, weil Leid immer subjektiv ist und sich deswegen nie ganz objektivieren lässt.

    Um das Phänomen Leid vertiefend betrachten zu können, haben wir zwei völlig verschiedene Elemente auseinanderzuhalten. Auf der kognitiven Ebene bedarf es zur Entstehung von Leid immer Entfremdung. Sie ist ein mentaler Prozess, in dem das Leidsubjekt sich im Klaren wird, etwas stimmt nicht (mehr). Zu dieser Erkenntnis muss jedoch auf der leiblich-psychischen Seite noch Schmerzen hinzutreten: Es existiert kein Leid, welches ohne Schmerzen auskommt, diese können körperlich und / oder seelischer Natur sein.

    Entfremdung

    Sehr interessant ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Leid. Die Gebrüder Grimm leiten es vom althochdeutschen Wort „lidan ab, was einerseits so viel bedeutet wie: „Eine Reise machen, „in die Ferne ziehen oder „in die Fremde ziehen müssen, wobei dies nicht in einem positiven Sinne zu verstehen ist. Gemeint ist ein: „Ins Exil oder „fliehen müssen.¹⁴ Somit bedeutete Leiden so viel wie durch ein Übel hindurchzugehen, es erfahren und durchzumachen.¹⁵ Anderseits wurde dieser Begriff auch für gelandete Seeräuber und sonstige eintreffende Feinde gebraucht.¹⁶ Insofern wurde ursprünglich unter ihm Menschen verstanden, die entweder aus ihrer gewohnten Umgebung zwangsweise fort mussten (Exil, Flucht, Vertreibung), die etwas Unangenehmes erlebten oder von etwas Fremden bedroht wurden.

    Eine ganz besondere Bedeutung besitzt die Form des >Erleidens<. Darunter wird – im Gegensatz von Aktivität – eine Passivität verstanden, wie dies Aristoteles in seiner Kategorienlehre tat.¹⁷ Erleiden steht aber auch für Negativität, Anderssein, Entgegenstehen und Widersinniges. Etwas >widerfährt< uns, bedeutet, wir müssen etwas Erleiden und dies erdrückt uns, überwältigt sowie macht uns ohnmächtig. Wir werden im Erleiden gelähmt und stoßen an die Grenzen des Handel-Könnens. Im Erleiden durchstoßen wir auch die Grenze unserer Vernunft, es ist deswegen wider-sinnig, weil wir es nicht rational Einordnen und Verstehen können. Erleiden ist letztlich absurd und wir können dieses in unser rationales System nicht kategorisieren oder integrieren, weil es völlig >anders<, unverständlich und fremd ist. Leid beinhaltet immer eine Unkontrollierbarkeitserfahrung, die wir als unlogisch, unvernünftig und sinnlos erleben. Es wird durch die sogenannten Ausschließungsprozeduren der Vernunft aus ihrem Reiche verbannt. Sie schließt gewisse menschliche Phänomene, wie Michel Foucault feststellte, aus bzw. können diese in ihr nicht integriert werden.¹⁸ Dazu gehören: Das Tabu, das Verdrängte, der Wahnsinn, das Sexuelle und auch das Leid, wie Odo Marquard betonte.¹⁹ Sie alle stehen der Vernunft diametral entgegen und entziehen sich damit der Ordnung eines rationalen Diskurses. Wir können zwar Ursachen für Leiden sehr genau und rational beschreiben, aber das Phänomen zu leiden, bleibt davon unberührt. Eine Mutter, die ihr Kind sterben sah, ein Ehemann, der seine Gattin verlor, eine Frau, die vergewaltigt wurde, können zwar die Leidursachen erklären, aber ihr extremes Leid, ihre Schmerzen, ihre Empfindungen entziehen sich jeder Rationalität. Sie können zunächst weder ausdrücken, was in ihnen geschah, noch begreifen und verstehen. Tabu, Wahnsinn, Schmerz, das Sexuelle und Verdrängte sind alle für die Vernunft: >widersinnig<, >fremd<, >nichtig<, >absurd<, >anders< und >irrational<, weshalb diese Phänomene für sie ein >Ausgegrenztes<, >Nichtsein-sollendes< und zu >vernichtendes< sind. Aufgrund dieser Irrationalität empfinden wir Leid als bedrohlich sowie fremd und es macht uns Angst. Die Leidfeindlichkeit, die heute in unserer Gesellschaft vorherrscht, wurzelt – neben der Schmerzhaftigkeit – in seiner irrationalen Eigenschaft, weshalb ein gelassener und integrierender Umgang uns so wahnsinnig schwerfällt. Leid entfremdet uns von der Vernunft, weil dieses großartige Werkzeug für sie nicht anwendbar ist. Wir sehen dies auch an der Sprache sehr deutlich: Sie ist ein rationales Instrument, das nur sehr eingeschränkt irrationalen Inhalt, wie dies der Schmerz ist, transportieren kann. Wir können alle irrationale Phänomene, so auch Schmerz nur sehr schlecht sprachlich ausdrücken und beschreiben. Wollen wir es so mitteilen, stoßen wir recht schnell an eine Barriere, die wir nicht überschreiten können. Ein Bild, ein Foto oder ein Film können Leid viel besser wiedergeben als Sprache.

    Der Leidbegriff in seiner emphatischen Bedeutung zeigt eine Verbindung zu einer schmerzlichen Veränderung auf, die entweder aus unserem Inneren (Krankheit) stammt oder durch ein äußeres Geschehen verursacht wird. Erleiden wir etwas, bedeutet dies immer auch einen Verlust des Vertrauten. Leidende sind somit dem feindlichen Fremden ausgesetzt und empfinden es als Bedrohung, als Bruch, als Beschädigung der Identität, einer Beziehung, der Heimat oder sogar als Zerstörung des Bisherigen. Das Wort Leid weist somit von Beginn an eine enge Verbindung zur Entfremdung auf; diese Bedeutung ist heute immer noch zentral im Verständnis von Leid. Jede dieser Aspekte entreißt etwas und lässt Erhofftes unwirklich werden. Irgendwas oder irgendwer wird uns fremd oder verfremdet; wir werden aus einer Stabilität und Sicherheit vertrieben oder gerissen; unsere Identität wird beschädigt, wir werden verletzt, gekränkt und beschränkt; unser Lebensvollzug wird behindert oder ein kostbarer Wert wird uns geraubt. Durch all diese Formen erleben wir Fremdes zunächst als Bedrohung und Feind.

    Der philosophische Begriff der Entfremdung besitzt eine lange und sehr bedeutsame Tradition. Von Rousseau über Hegel und Marx²⁰ bis hin zur Frankfurter Schule wurde dieser oft sowie in vielerlei Bedeutung verwendet.²¹ Es ist das große Verdienst von Rahel Jaeggi eine moderne Rekonstruktion der Entfremdung vorgenommen zu haben.²² Sie versteht darunter eine Beziehung der Beziehungslosigkeit und definierte:²³

    Dabei ist es für den Entfremdungsbegriff kennzeichnend, dass mit ihm beides gefasst wird: Unfreiheit und Machtlosigkeit, aber auch eine charakteristische >Verarmung< der Beziehung zu sich und der Welt.

    Hartmut Rosa stellte dieser Definition – als Gegenbegriff zur Entfremdung – die Resonanz gegenüber:²⁴

    Entfremdung bezeichnet eine spezifische Form der Weltbeziehung, in der Subjekt und Welt einander indifferent oder feindlich und mithin innerlich unverbunden gegenüberstehen. (…) Entfremdung definiert damit einen Zustand, in dem die >Weltanverwandlung< misslingt, sodass die Welt stets kalt, starr, abweisend und nicht nichtresponsiv erscheint. Resonanz bildet daher >das Andere< der Entfremdung - ihren Gegenbegriff.

    Übertragen wir diese sozialphilosophischen Theorien von Jaeggi und Rosa auf unser Thema – Leid – bedeutet dies: Vier Elemente sind Voraussetzung, damit eine leidvolle Entfremdung entstehen kann. Diese vier können gemeinsam auftreten, aber es ist auch möglich, dass ein Element nicht so stark ausgeprägt ist:

    1. Das Leidenssubjekt muss mit einem Fremden (einer negativen Veränderung und / oder einem negativen Zustand) in Berührung kommen: Dieses negativ erlebte Fremde ist der Leidensgegenstand. Wir erleben dadurch eine fundamentale Unkontrollierbarkeitserfahrung, die unser Bedürfnis nach einer beherrschbaren, logischen, vernünftigen und sinnvollen Welt massiv erschüttert.²⁵ Fremd kann uns werden: das Fremde (Welt, Kultur, Werte), der oder die Fremde (ein Mensch, eine Gruppe) oder drittens ich mir selbst (Krankheit).²⁶ Inhaltliche-qualitative Aspekte des Fremden sind: Das Nahe sein eines Fernen; auswärtige Herkunft; Verschiedenartigkeit; das Nicht-Zuhause-Sein und die Heimatlosigkeit.²⁷ Es existieren viele Beispiele, was uns fremd werden kann wie: Krankheiten; schlechte Nachrichten; Katastrophen; eigene Gedanken und Denkmuster; eine nicht erfüllte Hoffnung; verletzende Handlungen bzw. verbale oder körperliche Schädigungen.

    Das als negativ erlebte, unbeherrschbare Fremde nehmen wir als etwas Unheimliches, Willkürliches, Indifferentes, Ungewohntes und Unvertrautes wahr, welches uns massiv bedroht, wobei wir am Anfang gar nicht abschätzen können, wie weit das Gefährliche geht und wir reagieren mit Angst darauf. Angst ist das Wissen der unmittelbaren Bedrohtheit der eigenen Existenz, des eigenen Selbst, der eigenen Freiheit.²⁸ Xenophobie ist psychologisch gesehen die Urangst des Menschen vor dem Fremden, welche in unseren Genen eingeprägt ist.²⁹ Diese durch unsere Erbanlage vorprogrammierte Angst entsteht in sehr alten und damit auch sehr primitiven Zentren unseres Gehirns.³⁰ Sein Widerpart ist das Belohnungssystem:³¹

    Ein Bereich im Gehirn ist das Belohnungssystem, da werden Glücksgefühle erzeugt. Dieses System ist zuständig für alle positiven Dinge des Lebens wie Essen und Sex. Das ist ein ganz primitives System, ein Gegenspieler des Angstsystems. Diese beiden sind entwicklungsgeschichtlich sehr alt, sie haben aber keinen Hochschulabschluss. Sie sind auf dem Stand eines Huhnes - auch das hat ein Angst- und ein Belohnungssystem zuständig für „ernähren und vermehren" – (…)

    Ein Sinnesreiz wird über den Thalamus zur Amygdala geleitet, die beim Erkennen von etwas Fremden Alarm schlägt und so z. B. das zentrale Grau (Locus caeruleus) aktivieren kann, was dazu führt, dass der Blutdruck steigt und die Atmung sich beschleunigt.³² Fremdenangst entsteht durch eine Mischung aus Urängsten und rationalen Überlegungen.³³ So verbinden sich irrationale, vorprogrammierte Angstelemente mit berechtigter Sorge, wodurch Fremdenangst kultiviert wird. Der Angstforscher Borwin Bandelow bezifferte das Verhältnis von Vererbung und Umweltfaktoren, die zur Entstehung einer Angst führt, mit fünfzig zu fünfzig.³⁴ Das große Problem in diesem Zusammenhang ist, Fremdenangst lässt sich nur sehr schwer von den rationalen Teilen des Gehirns steuern, denn diese sind entwicklungsgeschichtlich viel später entstanden und deswegen wesentlich schwächer ausgeprägt.³⁵ Grund für die Überlegenheit des Angst- und Belohnungssystems ist ihre tiefe Verwurzelung in uns, die stammesgeschichtliche Ursachen besitzt.³⁶ Deswegen können rationale Fakten kaum diese Urangst aufheben und beseitigen.³⁷ Irgendetwas Heiles zerbricht durch das Fremde, wird Unheil; in uns steigt die Erkenntnis empor, wir werden aus unserer tatsächlichen, kognitiven und psychischen Heimat vertrieben. Heimatlos geworden, empfinden wir Entzweiung und befinden uns in einer unkontrollierbaren Fremde. Diese wird immer als eine negativ erlebte, neue Wirklichkeit empfunden.³⁸ Wesentliche Voraussetzung dafür ist eine Art vorheriger oder ursprünglicher Vertrautheit im Rahmen einer Beziehung.³⁹ Wir beschrieben diese Erfahrungsbeziehung bisher als kognitive und psychische Heimat, diese lernen wir erst schätzen, falls wir aus ihr gezwungenermaßen scheiden müssen. Leben wir in ihr, ist sie selbstverständlich; sobald wir den Blick von außen auf sie werfen müssen, erkennen wir unsere Innigkeit.⁴⁰ Wir können uns nur von etwas entfremden, womit wir eine Beziehung hatten oder haben sollten. Deswegen beschreibt Entfremdung nur die Qualität einer Beziehung, nicht jedoch ob eine solche vorliegt, da dies vorausgesetzt wird.⁴¹ Auf eine wichtige Eigenschaft des Vertrauten weist Christoph Türcke hin: Wir bewerten es oft rückblickend als schön:⁴²

    Psychologisch läuft es so: Wir werden mit etwas vertraut, wachsen an etwas an - im Nachhinein finden wir es schön, weil es so vertraut ist. Anders ausgedrückt: Unsere ästhetischen Begriffe von Schönheit docken an unser Empfinden von Vertrautheit an. Wir können also auch nichtideale Dinge vermissen, einfach, weil sie uns so vertraut sind.

    Die Entfremdungseigenschaft sollte immer in Bezug auf die Destruktivität des Leidens gedacht werden. Leid erleben wir als Beschädigung, Widerfahrnis, Bruch, Lücke, Spaltung, Behinderung, Benachteiligung, Grenze, Nicht-Können, Nicht-Dürfen, Nicht-Erfüllung, Verfremdung und Zerstörung. Es wird irgendetwas, welches ganz oder heil war, beschädigt, auseinandergerissen, krank, gebrochen, behindert, begrenzt, unmöglich gemacht, verfremdet, geteilt, unheil oder eine resonante Beziehung gar zerstört. Eine Verbindung, die wir als wertvoll erachteten, wird durch den Leidensgegenstand verletzt, indifferent, beschädigt, kühlt ab, verlöscht, versteinert oder wird vernichtet. Oft können oder dürfen wir einfach etwas nicht mehr, obwohl wir es nach wie vor tun wollen. Wir waren gewöhnt, etwas, welches wir früher auch konnten bzw. durften zu tun, und genau dieses Können oder Dürfen bricht nun weg. Wollen, Können und Dürfen decken sich auf einmal nicht mehr und das autonome Leben wird beschränkt. Wir erleben Grenzen, wo vor kurzem noch keine waren, dies erzeugt ein Defizit im Lebensvollzug. Leid ist das Wissen um Zerstörung von etwas Lebenswichtigen, das Fühlen eines Zerreißens, einer Vernichtung, einer Trennung von der Daseinsgrundlage.⁴³ Es liegt erst vor, sofern die gesamte Existenz erschüttert und verletzt wird. Leid trifft uns komplett, sowohl kognitiv, leiblich wie auch psychisch. Es zerstört; wir verlieren dadurch das Vertrauen und die Selbstwirksamkeiterwartung in uns, in andere, in eine gute Zukunft.

    2. Durch den Leidensgegenstand wird die Freiheit des Subjektes eingeschränkt: Entfremdung ist eine Art von Freiheitsverlust.⁴⁴ Dieser kann durch Zwang und Gewalt erfolgen; auch die Reduktion der persönlichen Entwicklung bzw. die Aufhebung der Freiwilligkeit – im Sinne Isaiah Berlin – kann Freiheit behindern oder beschränken.⁴⁵ Es geht um die Freiheit von etwas (Gewalt und Zwang), als auch um die Freiheit zu etwas (Wahlmöglichkeit, selbstbestimmtes Dasein, Freiwilligkeit), die durch den Leidensgegenstand behindert wird. Die persönliche Autonomie, also das Recht selbstbestimmt sowie ohne äußeren Druck und Zwang das Leben führen zu können, wird durch Leid verletzt, behindert oder sogar zerstört.⁴⁶ Eine Spitzensportlerin, die durch eine Verletzung ihre Sportart nicht mehr ausüben kann und sich deswegen beruflich Umorientieren muss, ist dafür Beispiel. Leid ist Fremdbestimmung, weil nicht mehr ihr Wille entscheidend ist, sondern eine fremde Macht. Autonomie umfasst auch die Nicht-Verletzung der persönlichen Würde. Wer die Würde eines anderen herabsetzt oder zerstört, setzt sich über dessen Bedürfnis nach Autonomie hinweg.⁴⁷ Genau dies geschieht auch durch Leid: Es raubt uns unsere Würde, weil wir beherrscht werden. Auch Probleme der Authentizität können zur Entfremdung führen.⁴⁸ Dies ist der Fall, sofern wir etwas machen, obwohl wir wissen, wir wollen das eigentlich nicht.⁴⁹ Ein Mann liebt beispielsweise einen anderen, kann aber diese Gefühle – aufgrund seiner Erziehung – nicht akzeptieren, weshalb er – unglücklich – mit

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