Berlin - Meseberg Connection: Kriminalroman
Von Dieter Hombach
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Buchvorschau
Berlin - Meseberg Connection - Dieter Hombach
Zum Buch
Zeit der Rache Auf den Stufen des Mausoleums von Schloss Meseberg wird eine männlich Leiche gefunden. Die bizarre Aufmachung des Toten gibt den Kommissaren Hartenfels und Balint Rätsel auf, denn er ist mit goldener Farbe bemalt. Als Hartenfels herausfindet, dass es im Dorf Ärger gibt, weil man einen Viehzuchtbetrieb schließen will, hofft er, auf eine heiße Spur gestoßen zu sein. Schloss Meseberg als Unterkunft für höchsten Besuch der Bundesregierung und eine Schweinezucht in unmittelbarer Nähe? Das stinkt. Doch gibt es wirklich einen Zusammenhang mit dem Mordfall? Hartenfels’ Ermittlungen führen ihn tief in die Vergangenheit. Dabei deckt er Verbrechen der Nazis auf, die bisher ungesühnt geblieben sind. Hat der Täter bis jetzt mit seiner Rache gewartet? Als wenig später eine zweite Leiche gefunden wird, glaubt der Kommissar, eine Verbindung zu erkennen. Kann er den Mörder stoppen?
Dieter Hombach, geboren 1953 in Köln, lebt seit 40 Jahren in Berlin. Der promovierte Philosoph arbeitete in der Geschäftsführung eines Medienbeobachtungsunternehmens und führte gemeinsam mit seiner Frau 17 Jahre lang eine eigene Buchhandlung. Er liebt Hard-Rock-Konzerte, Hunde und reist immer wieder nach Asien, Australien und Brandenburg. Neben wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte er mehrere Kriminalromane, zuletzt »Kreuzberger Leichen« im Gmeiner-Verlag.
Impressum
Personen und Handlungen sind frei erfunden,
soweit sie nicht historisch verbürgt sind.
Ähnlichkeiten mit sonstigen toten oder lebenden
Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Diese Geschichte ist, wenn sie auch reale Elemente
und Gegebenheiten aufgreift, rein fiktiv und der
Fantasie des Autors entsprungen.
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Tim T. / Photocase.de
ISBN 978-3-8392-7422-4
Kapitel 1
Paul Schrader öffnet die Tür, schnuppert und lächelt. Gülle liegt in der Luft, denkt er, zum Glück läuft sie wieder, die gute alte Tierproduktion. 1.500 Schweine werden dort gehalten, kein Wunder, dass man das riecht. Die Klinke in der Hand, die sich vom morgendlichen Tau feucht anfühlt, blickt er nach rechts, vorbei an der Dorfkirche zum Schloss. Selbst durch den aufsteigenden Nebel präsentiert sich der Bau herrschaftlich, nichts kann die Leuchtkraft der frischen Farbe auf frisch verputzten Wänden trüben. Schloss Meseberg strahlt etwas zutiefst Korrektes, fast schon Überkorrektes auf ihn aus.
Irgendwie überrenoviert, findet Schrader, so als würde das Ding zwei Krawatten statt einer tragen.
Der Wirt des Dorfkrugs macht leise die Tür hinter sich zu. Vor ihm liegt die Dorfstraße, die sich weiter hinten sanft ums Schloss schwingt, eingefasst von breiten Pflasterstreifen. Natürlich ist das kein altes, sondern frisch verlegtes Pflaster. Die Staatskarossen, die zum Schloss fahren, sollen ja nicht wie alte Kutschen rumpeln. Schrader muss an Prinz Heinrichs Geliebten denken, für den dieses Schloss gedacht war. Der ist mit der Kutsche gekommen, drüben im Wald gibt es die alten Wege noch. Kaphengst hieß er, doch zurück zu den Schweinen, denn es geht nichts über Landluft.
Schrader atmet in vollen Zügen ein und aus, seine Brust wölbt sich. Er spannt die Hosenträger, lässt sie wieder los und setzt sich langsam in Bewegung, natürlich mitten auf der Straße, weil sowieso kein Verkehr ist. Meseberg liegt am Arsch der Welt, kein Fürst mehr in Rheinsberg, der sich in Liebe verzehrt. Bloß früher die Merkel und jetzt Olaf Scholz, die hier ihre Gäste empfangen. Macron war da, außerdem George W. Bush.
Der Dorfwirt schlendert an der Kirche und seitlich am Schloss vorbei Richtung See. Zum Schloss selbst kommt man nicht, da erstreckt sich der Hochsicherheitstrakt. Überall sind Kameras und es soll auch ein Abwehrsystem installiert worden sein, was allein angeblich 13 Millionen gekostet hat. Das Gästehaus der BRD, schnauft Schrader, elfeinhalb Monate im Jahr steht es leer. Mittlerweile in echt brandenburgischer Landluft, denkt er und muss schon wieder lächeln.
Was war das für ein Theater, als gleich neben dem Superschloss die Tierproduktion wieder anlief! Seitdem sitzen die Staatsgäste mit den Füßen im Dung, bildlich gesprochen. Der Vorstand der Stiftung hat gesagt, dass er niemals neben einer Schweinemastanlage investiert hätte. Andere gingen noch viel weiter, zum Beispiel Gerhard Baumkötter. Der war richtig sauer. So sauer, dass er mit ihm, dem Dorfwirt, bis heute kein Wort mehr spricht. Es geht um die Plasteschweine, die Schrader aus Protest vor dem Dorfkrug aufgestellt hat. Schweine gehören nun mal zur Landwirtschaft und haben früher niemanden gestört. Baumkötter hat seinen Arbeitern sogar verboten, weiter bei ihm zu verkehren, und die Dorfbewohner undankbar genannt.
Schrader folgt der langgezogenen Mauer, die auf der Seite, von der er kommt, das Schloss umgibt, und die sich bis zum See hinunter zieht. Während er vor sich hin stapft, überlegt er, wie das wohl für die Beamten aussieht, die ihn auf den Monitoren beobachten. 24 Mann sind ständig vor Ort, dazu Gärtner und Hauspersonal. Ein Dorf im Dorf, wobei es egal ist, ob Gäste da sind oder nicht.
Hinter dem Schloss liegt der rekonstruierte Barockgarten, den er von hier aus nur erahnen und von der anderen Seeseite aus mit dem Fernglas bestaunen kann. Er ist tipptopp in Ordnung, aber menschenleer. Nur einmal im Jahr, am »Tag der offenen Tür«, sind die Wälder voll mit Grenzschutz und Polizei. Weil das schon immer so war, sobald es um den Staat ging, hat Schrader nichts dagegen. Bloß das viele Geld, das dafür ausgegeben wird, stört ihn genau wie den Bund der Steuerzahler, der Jahr für Jahr die Höhe der Ausgaben kritisiert. So schlecht war es früher doch auch nicht, denkt er. Und ob es nun einen Barockgarten gibt, den kaum einer sieht, weil er abgeriegelt ist oder wie in der DDR zugewachsen – wo liegt der Unterschied? In der Mauer, an der er nach wie vor entlangläuft, befindet sich ein Guckloch, das allerdings vergittert ist.
Links von ihm taucht das Mausoleum auf, das Frau Lessing für ihren Mann errichten ließ. Endlich etwas, das nicht abgesperrt ist. Schrader marschiert den Weg abwärts zum See, Wasser blitzt durch die Bäume. Die vielen Schwäne, die man anzusiedeln versucht hat, damit es wieder wie zu Zeiten Kaphengsts aussieht, sind weg.
Auch das Mausoleum wirkt auf Schrader überpflegt, wäre es nicht paradox, könnte man sagen, dass es totsaniert ist. Es steht auf sorgfältig gemähtem Rasen und ist von rundherum angepflanztem Spalierobst umgeben, das einen perfekten Kreis bildet. Vom Ufer führt eine Treppe zu ihm hoch, deren Stufen Schrader emporsteigt. Er lässt sich gern vor dem Totenhäuschen nieder und blickt hinaus auf den See.
Heute sitzt da schon jemand.
Schrader bleibt stehen. Den kennt er doch? Dann schüttelt er den Kopf. Das kann niemand aus dem Dorf sein, so läuft doch keiner von ihnen herum. Was zum Teufel ist denn das für eine Farbe? Die kann nur aufgemalt sein, ist er überzeugt. Bronze, würde er sagen, Gold wäre auch möglich.
Kapitel 2
Es ist drückend heiß. Groß und schwer, wie er ist, leidet Hartenfels besonders unter der Hitze. Der Schweiß läuft ihm in Strömen über das Gesicht, steht ihm in Tropfen auf der Glatze. Dabei bewegt er sich nicht. Würde er sich bewegen, müsste er die Kleidung wechseln. Während Hartenfels mit einem großen Taschentuch über Stirn, Kopf und Nacken fährt, mustert er den Himmel. Kein Wölkchen in Sicht, denkt er.
Am Wochenende hat er einen Ausflug zum Schmalen Luzin gemacht – dem See in Mecklenburg, den er wegen seines türkisfarbenen Wassers so liebt. Er war schockiert. Die Wälder, die den See umgaben, sahen aus wie gerupft. Irgendein geheimnisvoller Schädling schien sich in ihnen ausgebreitet zu haben, dabei waren die Bäume bloß vertrocknet. Laub lag auf den Wegen, als sei es bereits Herbst, aber es ist erst August.
Hartenfels nimmt einen Schluck aus dem Glas, das neben ihm steht. Das Selters ist schon wieder warm. Er fragt sich, wo die Eiswürfel geblieben sind, die er eben erst hineingeworfen hat.
Hartenfels hat Rufbereitschaft, doch er will nicht ins Büro, weil er den Durchzug, für den die Kollegen ständig sorgen, nicht verträgt. So wie er schwitzt, erkältet er sich im Handumdrehen. Schlimmer als Durchzug sind nur noch Klimaanlagen. Da sitzt er lieber in seiner kleinen Wohnung am Hohenzollerndamm und tropft vor sich hin. Außerdem sieht hier keiner, dass er nichts als Unterwäsche trägt.
Sein Telefon klingelt und Hartenfels nimmt ab.
Bitte kein Fall, denkt er, er kann bei dem Wetter nicht draußen herumlaufen. Jedenfalls nicht in der Stadt, wo alles so aufgeheizt ist, dass die Temperatur noch steigt, sobald die Sonne untergeht. Wie spät ist es eigentlich?
»Ja?«, meldet er sich, seine Stimme klingt belegt, wogegen er einen Schluck lauwarmes Selters nimmt. Schmeckt furchtbar.
»Leichenfund im Umland«, informiert ihn ein ihm unbekannter Beamter. Wer weiß, wer heute in der Zentrale sitzt, jeder drückt sich doch, so gut er kann.
»Im Umland?«, fragt Hartenfels und will hinzufügen, dass ihn das bestimmt nichts angeht, aber er fühlt sich zu matt. Diskussionen um Zuständigkeiten sind das Letzte, was er jetzt möchte.
»Sie fragen sich bestimmt, warum ich Sie anrufe?«, hört er den Mann. Er klingt enttäuscht.
Hartenfels zuckt nur die Achseln.
»Sind Sie noch dran?«
»Ja.«
»Ich kann es Ihnen erklären.«
»Das wäre schön«, sagt Hartenfels, weil er merkt, dass er eigentlich gar nichts gegen einen Ausflug ins Umland hat. Überall ist es erträglicher als in Berlin.
Zwei Minuten später, die er verbracht hat, ohne ein einziges Wort zu sagen, während die Stimme am anderen Ende der Leitung zunehmend hysterisch, fast panisch wurde, weiß Hartenfels, dass ein Mann namens Baumkötter in der Nähe eines Schlosses, das Meseberg heißt, ermordet aufgefunden worden ist. Dass es sich bei dem Schloss um das Gästehaus der Bundesregierung handelt, ist ein pikantes Detail, worauf ihn sein Kollege beinahe atemlos hingewiesen hat.
»Was regen Sie sich denn so auf?«, fragt Hartenfels.
»Es wäre leichter, wenn Sie mir nicht das Gefühl geben würden, ich sei ein Idiot.«
O Gott, denkt Hartenfels, richtet sich im Sessel auf und spürt, dass das Unterhemd an seiner Haut klebt.
»Ist es bei dir auch so heiß?«, macht er ein Friedensangebot.
»Und außerdem ist der Mann, der ermordet worden ist, ganz in der Nähe von dort, wo Sie wohnen, schon vor Tagen als vermisst gemeldet worden.«
Das hättest du mir auch gleich sagen können, findet Hartenfels, entscheidet sich aber, nicht darauf herumzureiten, bedankt sich stattdessen artig und beschließt, Krämer anzurufen, damit er ihn nach Meseberg fährt. Die Wohnung, aus der das Opfer verschwunden ist, haben die Kollegen vom LKA 12, die für vermisste Personen zuständig sind, bestimmt längst auseinandergenommen. Und da sie sich bei ihm in der Nähe befindet, ahnt Hartenfels auch, wie heiß es dort war und todsicher noch ist.
Kapitel 3
Krämer bekommt die Hitze noch weniger als Hartenfels. Hartenfels schwitzt zwar wie er, aber ihm selbst ist außerdem noch schwindlig. Im Spiegel mag er sich gar nicht mehr ansehen, so rot ist sein Gesicht. Dabei hat er ganz schön abgenommen. Corona hat viele seiner Lieblingslokale dahingerafft, weshalb ihm gar nichts anderes übrig geblieben ist, als seine Ansprüche radikal herunterzuschrauben. Was von der Gastroszene, die überlebt hat, angeboten wird, schmeckt ihm in der Regel nicht. Es hat sich sowieso viel verändert bei ihm.
Krämer ist neuerdings mit Mandy zusammen. Mandy ist aus Kambodscha und hat sich als Trojanisches Pferd entpuppt. Dazu gehört, dass sie gar nicht Mandy heißt und ihren wahren Namen bis heute verschweigt.
»Viel zu kompliziert«, hat sie gleich am ersten Tag gesagt, damals in Reinickendorf, wohin ihn ein Fall verschlagen hatte.
Wenn Krämer heute gefragt wird, woher er Mandy kennt, sagt er deshalb immer: »Direkt aus der Einflugschneise.«
Der Flughafen Tegel ist zwar inzwischen stillgelegt, aber sie haben sich tatsächlich noch im ohrenbetäubenden Lärm landender Flugzeuge getroffen.
Von ihrem Namen abgesehen hat Mandy viele weitere Geheimnisse. Krämer hofft, dass er die meisten mittlerweile kennt, sicher ist er sich nicht. Da wäre zum Beispiel Kevin, ihr Sohn. Krämer und Mandy waren gerade in ein kleines Haus eingezogen, das sie für ihn und sich mitten in Wilmersdorf aufgetan hat, als sie damit herausrückte, dass sie ein Kind hat, quasi als Einzugsgeschenk. Kevin ist der Sohn des Mannes, der Mandy von Kambodscha nach Berlin geholt hat. Krämer hat in Phnom Penh aufgenommene Fotos gesehen, die die kleine, zierliche Mandy an einen dickbäuchigen Kerl geschmiegt zeigen, der mindestens 20 Jahre älter war als sie.
Genau wie ich selbst, hat Krämer gleich gedacht, unangenehm berührt von der Ähnlichkeit zwischen ihm und Mandys Exlover. Krämer hat sich damit beruhigt, dass sie beide ihrem Beuteschema entsprechen, weiß aber eigentlich gar nicht, was er damit meint. Dass Mandy auf fette, alte Typen steht? Wahrscheinlicher ist, dass fette, alte Typen Geld und eine Aufenthaltsgenehmigung versprechen. Doch daran will Krämer nicht denken. Er forscht nicht nach, obwohl er das natürlich könnte, weil er sich den Traum, den er träumt, seit er sie kennt, nicht kaputtmachen will. Krämer hat auch keinem einzigen Kollegen etwas davon erzählt.
Er hat Mandy nicht nur aus der Einflugschneise geholt, sondern buchstäblich von der Straße. Eigentlich ist sie sein Corona-Geschenk, wenn man das so sagen kann. Wenigstens etwas Gutes. Ohne Corona wäre Krämer nie im Leben auf die Idee gekommen, Mandy an seinen Tisch zu bitten, nachdem sie versucht hat, ihm irgendwelchen Plunder zu verkaufen, einschließlich einer Straßenzeitung namens Motz. Aber was blieb ihm anderes übrig? Außer Fine Dining hat das Virus auch Escortservices befallen, weshalb er allein in einer Pommesbude gehockt hat, ebenerdig und zur Straße offen, also wie auf dem Präsentierteller. Alles, was ein kleines bisschen Niveau hatte, war dicht.
Mandy war aus ihrem Zuhause rausgeflogen. So ganz verstanden hat Krämer bis heute nicht, warum. Bill, wie sie ihren Ex nennt, der bestimmt ebenfalls anders heißt, war sie angeblich leid geworden und betrog sie. Mandy erzählte gleich beim ersten Treffen, dass sie ihn deshalb zur Rede gestellt hatte und abserviert worden war. Krämer hatte sie gemustert und sich gefragt, wie ein Kerl, der 20 Jahre älter und viel zu fett war, ein Geschöpf wie Mandy leid werden konnte.
Als er sie kennenlernte, war Mandy so zierlich und zerbrechlich, dass er sich kaum traute, sie anzufassen. Das war auch der Grund, warum sie schließlich ihre Hand auf seinen Oberarm legte, das Universalzeichen dafür, dass man etwas will. Inzwischen hat sie ein bisschen zugelegt, sieht aber immer noch sehr zart aus, besonders neben Krämer.
Das Häuschen, das sie für sich und ihn gefunden hat, liegt inmitten eines geräumigen Innenhofs und ist genau wie sie ein kleines Wunder. Es hat drei Etagen, das Erdgeschoss eingeschlossen, die sich auf höchstens 80 Quadratmeter summieren, unten die Küche, in der Mitte das Bad und oben ein Schlafzimmer mit Balkon. Außerdem gibt es noch eine Terrasse mit kleinem Garten, was bei der Aussicht auf die Altbaufassaden, die ihn von allen Seiten einschließen und überragen, vollkommen skurril wirkt. Dazu kommt, dass man zwei Hinterhöfe durchqueren muss, bevor man Mandys Häuschen erreicht. Ein kleines Spukschloss, denkt Krämer manchmal. Mandy hat Angst, wenn sie die Nacht dort allein verbringt.
All das, sie selbst und ihr Schlösschen, hat auf Krämer lange Zeit so unwiderstehlich gewirkt, dass er geglaubt hat, im Lotto gewonnen zu haben. Bis das Trojanische Pferd seinen Bauch aufgemacht hat und Kevin zum Vorschein kam.
Kevin ist 14 und die Pest, Krämer weiß nicht, wie er mit ihm umgehen soll. Zumal er das Gefühl hat, dass Kevin ihn heimlich beobachtet und ihm Noten gibt. Wer weiß, wie viele fette, alte Kerle er in seinem Leben schon gesehen hat. Trotzdem hält Krämer den Mund. Obwohl er natürlich daran knabbert, dass Mandy kaum noch will, seit ihr Sohn das Schlafzimmer im dritten Stock bezogen hat und Krämer und sie auf einem Ausklappsofa in der Küche kampieren. Mandy sagt, es sei wegen der Aussicht.
»Welche Aussicht?«, hat Krämer gefragt.
»Jeder kann uns zuschauen«, hat sie geantwortet, und da ist was dran.
Wenn man davon absieht, dass Mandy und Krämer, wenn sie auf ihrem Sofa herummachen, das einem übergroßen Mund nachgebildet ist, dabei nicht wie Angelina Jolie und Brad Pitt aussehen.
»Wenn man auf fette, alte Kerle steht, die es mit kleinen Frauen treiben«, hat er gesagt, um Mandy in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Und da hat Mandy zum ersten Mal in seiner Gegenwart geweint.
Krämer wusste nicht, wie ihm geschah. Ihr Schluchzen, das gar nicht mehr aufhören wollte und ihren winzigen Körper wie ein Erdbeben geschüttelt hat, hat ihn getroffen. Seitdem weiß er nicht mehr, ob er ihr vielleicht unrecht tut und sie tatsächlich etwas für ihn empfindet. Was er leider nach wie vor völlig unvorstellbar findet. Er ist ja nicht blöd. Aber wer weiß?
Krämer wirft einen Blick zur Seite und merkt erst jetzt, dass Hartenfels die Klimaanlage ausgemacht hat. Stattdessen fahren sie mit heruntergelassenen Fenstern, und die Luft, die zu ihnen ins Fahrzeug strömt, fühlt sich an, als käme sie direkt aus einem Föhn. Zu allem Überfluss hat Hartenfels das Schiebedach geöffnet, und die Sonne heizt den Innenraum des Autos zusätzlich auf. Immerhin tragen sowohl er als auch sein Chef Basecaps. Krämer hat seinen Zopf am Hinterkopf clever hindurch gefädelt, und Hartenfels hat sowieso keine Haare.
»Geht es um Amtshilfe?«, fragt Krämer, um irgendetwas zu sagen.
Er wird nicht einmal mit Hartenfels über Mandy reden, und das Radio laufen zu lassen, ergibt keinen Sinn, weil die Fahrgeräusche bei offenen Fenstern viel zu laut sind. Er muss schreien, damit sein Chef ihn überhaupt hört.
»Der Ermordete hat in Berlin gewohnt«, sagt Hartenfels, und Krämer muss zweimal nachfragen, bis er ihn versteht.
Er runzelt die Stirn. Das rechtfertigt noch lange keinen Ausflug ins Umland, überlegt Krämer. Sinnvoller und angemessener wäre es gewesen, sich in der Stadt umzusehen. Zum Beispiel in der Wohnung des Toten. Bei seiner Familie. Bei seinen Freunden. Das ist Amtshilfe, soweit er weiß.
»Sind wir angekündigt?«, startet er einen neuen Versuch, seinen Chef in ein Gespräch zu verwickeln, aber der antwortet nicht, lässt sich stattdessen warme Luft um die Ohren wehen.
Krämer gibt auf, reden sie eben nicht. Und überhaupt kann es ihm auch egal sein, wie Hartenfels Amtshilfe definiert. Vielleicht wollte er bloß mal raus aus Berlin, was er ihm nicht verdenken kann.
Krämer fährt inzwischen auf der Stadtautobahn und nähert sich der Stadtgrenze. Gleich werden sie ein Stück Straße ohne jede Geschwindigkeitsbegrenzung erreichen, dann will er doch mal sehen, ob sein Chef weiter die Nase in den Wind hält. Für die Basecaps wird es jetzt auf jeden Fall gefährlich.
»Ras nicht so«, knurrt Hartenfels, noch bevor Krämer richtig Gas geben kann, und er flucht innerlich.
Andererseits ist es auch ganz gut, nicht zu schnell zu fahren, denkt Krämer. So schwindlig, wie ihm ist, könnte ihm jederzeit schwarz vor Augen werden.
Also bremst er ab, was zu einem Hupkonzert hinter ihm führt und sogar die LKWs zwingt, ihn zu überholen. Hartenfels scheint es recht zu sein. Irgendwann hat sich der Fahrtwind so weit reduziert, dass sie sich unterhalten können, ohne zu schreien.
»Kennst du Meseberg?«, will Hartenfels wissen, während sie Oranienburg weiträumig umfahren, was Krämer für einen Segen hält.
»Da steht ein Schloss«, antwortet er, »und zwar ein echtes.«
»Gibt es auch unechte Schlösser?«
»Na gleich hier«, sagt Krämer und zeigt an Hartenfels vorbei aus dessen Fenster.
Das Oranienburger Schloss sieht zwar von außen aus wie ein Schloss, ist in seinen Augen allerdings bloß eine Attrappe. Er hat es einmal besichtigt und wurde von einer jungen Frau durch ausgewählte Räume geleitet. Im Rest sind Büros und Verwaltung untergebracht, glaubt er sich zu erinnern, gesehen hat er es nicht. Ganz nett ist der Park hinter dem Schloss.
»Meseberg ist zwar echt, aber das bringt einem auch nichts«, stellt Hartenfels fest.
»Stimmt«, meint Krämer, der ahnt, worauf sein Chef hinauswill.
Schloss Meseberg ist zwar nach allen Regeln der Kunst wiederhergestellt, jedoch für die meisten Menschen nicht zugänglich – abgesehen von ein, zwei Tagen pro Jahr. Der Betrieb als Gästehaus der Bundesregierung erfordert den Ausschluss der Öffentlichkeit.
»Also so wie ganz früher«, meint sein Chef, den er jetzt noch viel besser versteht, weil die Autobahn zu Ende ist und sie über Landstraßen zuckeln.
»Wie ganz früher?«, fragt er trotzdem.
»Ganz früher durfte doch auch niemand in ein Schloss. Außer ein paar Adlige natürlich.«
So gesehen hat Hartenfels recht. Die DDR war nicht nur in dieser Hinsicht bloß ein Intermezzo.
»Ich glaube, es gab vor der Wende ein Konsum im Schloss. Oder war es an das Schloss angebaut?«, hört er Hartenfels.
Es klingt, als würde sein Chef mit sich selber reden, das kennt Krämer von ihm. Als Hartenfels dann jedoch darüber sinniert, dass gegen diese bürgernahe Nutzung von früherem Großgrundbesitz nichts einzuwenden gewesen wäre, hätte man alles nur ein bisschen besser in Schuss gehalten, geht er Krämer langsam auf die Nerven. Will er etwa die DDR zurück? Das Volk hatte im Sozialismus doch allein deshalb Zugang zum Schloss, weil es eine Ruine war.
»Ich glaube, Schloss Meseberg ist komplett eingezäunt«, sagt Krämer.
»Wir werden ja sehen«, brummt Hartenfels, kramt sein Handy aus der Hosentasche und prüft den Empfang.
Anscheinend hat er nie