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Gastrointestinale Operationen und technische Varianten: Operationstechniken der Experten
Gastrointestinale Operationen und technische Varianten: Operationstechniken der Experten
Gastrointestinale Operationen und technische Varianten: Operationstechniken der Experten
eBook1.396 Seiten11 Stunden

Gastrointestinale Operationen und technische Varianten: Operationstechniken der Experten

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Über dieses E-Book

Chirurgische Eingriffe an gastrointestinalen Organen unterliegen trotz Standardisierung und weitreichender Technisierung nach wie vor zum Teil erheblichen Unterschieden. Für alle Chirurgen ist es von großem Interesse, die individuellen technischen Varianten einzelner auf diesem Gebiet ausgewiesener Chirurgen kennen zu lernen und so ihr eigenes operatives Repertoire zu erweitern. In diesem Buch werden die chirurgischen Eingriffe für eine Auswahl wichtiger Operationen von Experten in ihrer spezifischen Vorgehensweise Schritt für Schritt und reich bebildert dargestellt. Zahlreiche renommierte Chirurgen aus dem deutschsprachigen Raum ebenso wie internationale Autoren beschreiben ihr Procedere. Außergewöhnliche und schwierige Situationen, wie unerwartete Befunde, anatomische Varianten oder Blutungszwischenfälle, finden besondere Berücksichtigung.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum23. Juli 2013
ISBN9783642322594
Gastrointestinale Operationen und technische Varianten: Operationstechniken der Experten

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    Buchvorschau

    Gastrointestinale Operationen und technische Varianten - Michael Korenkov

    Michael Korenkov, Christoph-Thomas Germer und Hauke Lang (Hrsg.)Gastrointestinale Operationen und technische Varianten2013Operationstechniken der Experten10.1007/978-3-642-32259-4_1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    1. Grundlagen

    Michael Korenkov¹  , Christoph-Thomas Germer², Hauke Lang³  , Igor Linkov⁴  , Hermann Fenger⁵  , Arnulf H. Thiede⁶, Hans-Joachim Zimmermann⁷   und Hans Troidl⁸  

    (1)

    Krankenhaus Eschwege, Klinikum Werra Meissner GmbH, Elsa Brandströmstr. 1, 37269 Eschwege, Deutschland

    (2)

    Klinik und Poliklinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Kinderchirurgie, Universitätsklinikum Würzburg, Oberdörrbacherstr. 6, 97080 Würzburg, Deutschland

    (3)

    Klinik für Allgemein- und Abdominalchirurgie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Langenbeckstr. 1, 55131 Mainz, Deutschland

    (4)

    US Army Engineer Research and Development Center, 83 Winchester str, Apt 1, 02446 Brookline, MA, USA

    (5)

    Rechtsanwalt u. Notar, Alter Fischmarkt 21, 48143 Münster, Deutschland

    (6)

    Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Kinderchirurgie, Universitätsklinikum Würzburg, Oberdörrbacher Str. 6, 97080 Würzburg, Deutschland

    (7)

    Rechtsanwälte Dr. Zimmermann , Mergentheimer Straße 40, 97082 Würzburg, Deutschland

    (8)

    Haus Bucherhang, Buch 5, 83707 Bad Wiessee, Deutschland

    Michael Korenkov (Korrespondenzautor)

    Email: Michael.Korenkov@klinikum-wm.de

    Hauke Lang

    Email: lang@ach.klinik.uni-mainz.de

    Igor Linkov

    Email: Igor.Linkov@usace.army.mil

    Hermann Fenger

    Email: info@hermann-fenger.de

    Hans-Joachim Zimmermann

    Email: hajozim@rechtsanwaelte-wue.de

    Hans Troidl

    Email: hans@troidl.de

    1.1 Einleitung

    1.2 Risikobeurteilung und Entscheidungsanalyse bei chirurgischen Eingriffen

    1.2.1 Einleitung

    1.2.2 Was versteht man unter Risikoanalyse und Entscheidungstheorie?

    1.2.3 Eine kurze Geschichte der Risikoanalyse

    1.2.4 Die Risikoanalyse in der Medizin – Gegenwärtige Methoden und Praxis

    1.2.5 Risikobasierte Entscheidungsanalyse zur Anwendung in der Chirurgie

    1.2.6 Zusammenfassung

    1.3 Das Abweichen von chirurgischen Standards aus Sicht des Juristen

    1.3.1 Einführung

    1.3.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

    1.3.3 Bedeutung von Richtlinien und Leitlinien

    1.3.4 Ärztliche Therapiefreiheit

    1.3.5 Neue Behandlungs- oder Außenseitermethoden

    1.3.6 Aufklärung

    1.3.7 Dokumentation

    1.3.8 Fazit

    1.4 Klagen und Gutachten

    1.4.1 Ärztlicher Sorgfaltsmaßstab und ärztlicher Standard

    1.4.2 Diagnostik

    1.4.3 Prophylaxe /Prävention

    1.4.4 Aufklärung

    1.4.5 Rechtliche Anforderung an die ärztliche Dokumentation

    1.4.6 Gerichtliche bestellte Gutachten, Privatgutachten, Gutachterauswahl

    1.4.7 Verfahrenswahl

    1.5 Der Chirurg in schwieriger Situation

    1.5.1 Einteilungen und Klassifikationen

    1.5.2 Die schwierige Situation

    1.5.3 Das Risiko in der Chirurgie

    1.5.4 Definition der „schwierigen Situation"

    1.6 Individualität statt Uniformität – meine Überzeugung für eine erfolgreichere und bessere Chirurgie

    1.6.1 Einleitung

    1.6.2 Sicherheit und Individualität

    1.6.3 Individualität versus Uniformität

    Literatur

    Zusammenfassung

    Seit der Gründung der Abdominalchirurgie als Fach wird jede Operation nach bestimmten technischen Standards durchgeführt. Diese Standards werden den neuen Kenntnissen und technischen Entwicklungen entsprechend angepasst. Jedoch wird jeder praktische Chirurg täglich mit Situationen konfrontiert, in denen ursprünglich gleichartige Operationen sehr unterschiedliche Verläufe nehmen. Viele prädisponierende Faktoren spielen dabei eine Rolle, wozu u.a. folgende gehören: unterschiedliche Anatomie und Morphologie des Operationsgebietes, unterschiedliche Wirkung der gleichen Operationsschritte (Nachblutung nach Gewebedurchtrennung, Organverletzung bei Abdomeneröffnung usw.), chirurgische Expertise, manuelle Geschicklichkeit, Ausfälle von Instrumenten und Geräten, strategische Probleme, mentale Verfassungen einzelner Teammitglieder sowie die Qualität der Assistenz. Diese Faktoren können die Durchführung jeder Operation erheblich erschweren, insbesondere wenn der Operateur auf das Erreichen eines bestimmten technischen Standards „programmiert" ist.

    1.1 Einleitung

    M. Korenkov¹ , C.-T. Germer²  und H. Lang³ 

    Seit der Gründung der Abdominalchirurgie als Fach wird jede Operation nach bestimmten technischen Standards durchgeführt. Diese Standards werden den neuen Kenntnissen und technischen Entwicklungen entsprechend angepasst. Jedoch wird jeder praktische Chirurg täglich mit Situationen konfrontiert, in denen ursprünglich gleichartige Operationen sehr unterschiedliche Verläufe nehmen. Viele prädisponierende Faktoren spielen dabei eine Rolle, wozu u. a. folgende gehören: unterschiedliche Anatomie und Morphologie des Operationsgebietes, unterschiedliche Wirkung der gleichen Operationsschritte (Nachblutung nach Gewebedurchtrennung, Organverletzung bei Abdomeneröffnung usw.), chirurgische Expertise, manuelle Geschicklichkeit, Ausfälle von Instrumenten und Geräten, strategische Probleme, mentale Verfassungen einzelner Teammitglieder sowie die Qualität der Assistenz. Diese Faktoren können die Durchführung jeder Operation erheblich erschweren, insbesondere wenn der Operateur auf das Erreichen eines bestimmten technischen Standards „programmiert" ist.

    Der Begriff der „schwierigen intraoperativen Situation" scheint jedem praktischen Chirurg bekannt zu sein, jedoch fehlt bisher eine etablierte Definition. Um eine systematische Entscheidungsfindung auch in diesen Therapieabschnitten zu erleichtern, wurde folgende Definition vorschlagen: Jedes intraoperative Problem, das zu einem erhöhten Risiko für intra- oder postoperative Komplikationen führen kann, wird als schwierige intraoperative Situation bezeichnet (Korenkov et al. 2011). In einer schwierigen intraoperativen Situation (SIS) steht der Chirurg vor dem Dilemma, die geplante Operation entweder trotz der entstehenden Schwierigkeiten „um jeden Preis" fortzusetzen oder von dem geplanten Konzept abzuweichen.

    Das kompromisslose Festhalten an der ursprünglich geplanten Strategie ist nicht selten die Ursache von schwerwiegenden chirurgischen Komplikationen. Die komplette Entfernung der Gallenblase um jeden Preis bei starken fibrotischen Veränderungen im Calot-Dreieck kann zur Choledochusverletzung führen. Das Erzwingen einer Hemithyreoidektomie bei benignen Strumen kann bei komplizierten anatomischen Verhältnissen zur Verletzung des N. laryngeus recurrens oder zum Hypoparathyreoidismus führen. Es gibt viele weitere Beispiele.

    Ein Abweichen von festgelegten Standards kann das Komplikationsrisiko minimieren, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit, das Ziel der Operation nicht zu erreichen (z. B. R1‑Resektion, Rezidiv, Funktionsstörungen usw.).

    Falls die Abweichung dokumentiert, aber nicht begründet ist, besteht auch das Risiko eines „negativen" Gutachtens im Falle einer Klage. Allerdings sind auch für häufige Eingriffe vielfältige technische Variationen beschrieben, während auch höher entwickelte Leitlinien nur wenige spezifisch technische Empfehlungen beinhalten, sodass dieser sehr vielschichtigen Problematik bisher nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Einfach gesagt: Je komplexer ein Problem ist, desto höher ist das Risiko für eine falsche Lösung. In Bezug auf die Chirurgie bedeutet eine Steigerung der Komplexität eine Erhöhung der Komplikationsrisiken.

    In Analogie zur anästhesiologischen Risikoklassifikation (ASA-Klassifikation) wurde eine Klassifikation zur Beurteilung der intraoperativen Schwierigkeiten vorgeschlagen (Korenkov et al. 2011). Nach dieser Klassifikation wird jeder Patient vor einem geplanten Eingriff nach dem Grad der zu erwartenden intraoperativen Schwierigkeiten eingestuft (◘ Tab. 1.1). Schwergrad I° bedeutet keine technischen Schwierigkeiten, bei dem Schwergrad IV ist jede operationstechnische Handlung sehr schwierig.

    Tab. 1.1

    Grad der intraoperativen Schwierigkeiten

    Der praktische Nutzen dieser Einteilung liegt in der Einschätzung der Gefährdung durch die operative Handlung im Hinblick auf chirurgische Komplikationen. Diese Einteilung sollte bereits präoperativ erfolgen und dann mit der intraoperativen Situation abgeglichen werden. So wird z. B. ein stark adipöser Mann mit einem tiefsitzenden Rektumkarzinom präoperativ als Schwergrad III klassifiziert. Kommt es intraoperativ jedoch – entgegen der Erwartung – zu keinen wesentlichen Schwierigkeiten, wird die Situation entsprechend als Schwergrad II klassifiziert. Aufgrund einer intraoperativen, von der ursprünglichen Einschätzung abweichenden Erkenntnis des technischen Schwierigkeitsgrades können Abweichungen vom ursprünglichen Plan der Operation in Erwägung gezogen werden.

    Die Variabilität der chirurgischen Techniken ist sehr eng mit der Problematik der chirurgisch technischen Standards verbunden. Der Begriff „Standard" stammt aus dem Bereich der Technik bzw. Methodik und wird sinnvollerweise auch in der Chirurgie verwendet. Standard bedeutet Norm oder Richtmaß bzw. Vereinheitlichung nach einem bestimmten exakt definierten Muster.

    Solche Standards sind jedoch längst noch nicht für alle häufigen viszeralchirurgischen Eingriffe festgelegt. Vielmehr gibt es häufig mehrere kompetent beschriebene und weitreichende Standards, die nebeneinander bestehen und akzeptiert werden. Die Komplexität und Vielfältigkeit von Standards wird sehr treffend in einem Satz von Grace Hopper charakterisiert:

    „The wonderful thing about standards is, that there are so many of them to choose from."

    Die aktuellen operativen Standards sind in zahlreichen Operationslehrbüchern und Manuals dargestellt. Variationen und Abweichungen von geplanten Operationsschritten bei technisch schwierigen intraoperativen Situationen wurden bisher nicht ausreichend ausgearbeitet. Hier sehen wir weiteren Entwicklungsbedarf. Die Analyse von Gutachtenfällen zeigt, dass auch in dieser Hinsicht eine systematische Bearbeitung dieses Komplexes wünschenswert ist.

    1.2 Risikobeurteilung und Entscheidungsanalyse bei chirurgischen Eingriffen

    I. Linkov⁴ 

    1.2.1 Einleitung

    Das Risiko ist fester Bestandteil jeder chirurgischen Intervention. Sogar kleine Eingriffe mit hoher Erfolgsquote bei ansonsten gesunden Patienten können mitunter mit schweren intra- und postoperativen Komplikationen verbunden sein. Umgekehrt können auch große Eingriffe mit geringer Erfolgsquote bei chronisch kranken Patienten manchmal zur umgehenden und komplikationslosen Genesung führen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass zwei identische Verfahren bei zwei ähnlichen Patienten zu zwei unterschiedlichen Resultaten führen.

    Solche Operationsergebnisse lassen sich von der Risikoseite her erklären, welche eine immanente Eigenschaft auf dem Gebiet der Operationen ist, das Ärzte und Patienten gleichermaßen verstehen müssen, um ihre Entscheidungen treffen zu können. Potenzielle Komplikationen können letztlich das Operationsergebnis verändern und sind mit verschiedenen Risiken behaftet. Somit ist es für einen Chirurg wichtig, die Risiken des Eingriffs zu verstehen und evaluieren zu können, um den Operationsverlauf anzustreben, der die Wahrscheinlichkeiten und die möglichen Folgen der möglichen Komplikationen minimiert.

    Es existieren Instrumente zur systematischen Risikobestimmung, die auch in vielen Bereichen von Entscheidungsträgern eingesetzt werden. In diesem Kapitel werden wir eines dieser Instrumente, das eine Risikobewertung mit multikriterieller Entscheidungstheorie (Multi-Criteria Decision Analysis , MCDA ) beinhaltet, vorstellen und seine Anwendungsmöglichkeiten in der Chirurgie beleuchten.

    1.2.2 Was versteht man unter Risikoanalyse und Entscheidungstheorie?

    Das Risiko, das praktisch jeden Aspekt des menschlichen Lebens durchdringt, kann als potenziell negatives Ergebnis einer bestimmten Aktivität oder Aktion definiert werden. Das Risiko, das mit einem potenziell negativen Ergebnis verbunden ist, besteht aus der Wahrscheinlichkeit seines Auftretens und der damit verbundenen Konsequenz oder dem Bereich der möglichen Konsequenzen. Weil jede Aktivität zu Dutzenden oder Hunderten negativen Folgen führen kann, ist ein vollständiger Überblick über alle mit der Aktivität verbundenen Risiko aus dem Stegreif nahezu unmöglich. Unter solchen Umständen benötigt man größere Strukturen, um eine Risiko abzuschätzen und ein besseres Verständnis für die potenziellen Gefahren und Folgen eines bestimmten Ablaufes zu gewinnen.

    Eine gut designte und sorgfältige Risikoanalyse deckt ein ganzes Spektrum potenziell negativer Ergebnisse ab, das von den fast sicheren aber eher nebensächlichen Ereignissen (z. B. Müdigkeit des Patienten nach der Narkose) bis zu den seltenen aber katastrophal endenden reicht (Todesfall). Kurz: Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit × der damit verbundenen Folgen (Schadensausmaß).

    Formal nutzt die Risikoanalyse oft quantitative und visuelle Tools, wie z. B. die Risikomatrix, welche Struktur in die Evaluation eines Aktivitätsergebnisses bringt. Wenn ausreichend Daten vorliegen, ermöglicht dieses Instrument seinem Nutzer ein besseres Verständnis für die Wahrscheinlichkeiten der im Verlauf auftretenden Folgen mitsamt der verbundenen Risiken. Letztlich ist die Risikoanalyse ein nützlicher Ansatz bei der Identifizierung und Beurteilung der verschiedenen Risiken eines bestimmten Aktionsablaufes (◘ Abb. 1.1).

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    Abb. 1.1

    Standard-Risikomatrix : Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß

    Allerdings kann die einfache Risikoanalyse zum Vergleich der Risiken alternativer Abläufe in ungewissen Situationen mit fehlenden objektiven Daten unzureichend sein, wenn sich z. B. eine Gefahr nicht leicht beurteilen lässt und keine geeigneten Modelle für die Darstellung und die Folgenanalyse zur Verfügung stehen. Bei einem ungewissen Kontext erfordert die Evaluation alternativer Abläufe zur Erkennung der geeignetsten Option die Berücksichtigung subjektiver Informationen neben den zur Verfügung stehenden Daten. Hier kann dann die Entscheidungstheorie zur Integration der Vorlieben und Meinungen der Ärzte und Patienten mit objektiven Daten und statistischen Methoden genutzt werden. Die Entscheidungstheorie vermittelt Strukturen innerhalb des Entscheidungsfindungsprozesses und bietet Methoden zur Bestimmung und Interpretation einer möglichen Veränderung von Entscheidungskriterien aufgrund der Unbestimmtheit einer Situation. Bei der Unterstützung einer Risikoanalyse kann die Entscheidungstheorie Indikationen für relative Risikoniveaus für alternative Aktionsabläufe erzeugen, auch wenn es sich um unsichere Situationen handelt. Schließlich kann die Entscheidungstheorie zur Identifizierung des vielversprechendsten Ablaufes in Anbetracht der vorhandenen Daten und der Stakeholderanalyse genutzt werden.

    Es existieren verschiedene Ansätze der Entscheidungstheorie für verschiedene Situationen. Ein solcher Ansatz ist die multikriterielle Entscheidungstheorie (Multi-Criteria Decision Analysis, MCDA), die einige Methoden und Tools zur Integration quantitativer Messungen und von Modellen mit eher qualitativen Attributen beinhaltet, welche im Allgemeinen als formale Beurteilung eines Experten oder Stakeholders Ausdruck finden. Bei der MCDA geht es um eine Gruppe strukturierter Analyserahmen, die zur Evaluation von Alternativen eingesetzt werden, welche anhand verschiedener Kriterien beurteilt werden müssen. Die meisten MCDA-Methoden beinhalten auch ein Entscheidungsmodell, das alle Alternativen und Kriterien in einem Entscheidungsgitter oder einem Entscheidungsbaum aufführt, doch können andere MCDA-Ansätze unterschiedliche Algorithmen zur Gewichtung und Evaluation verwenden (Kiker et al. 2009). Jeder Alternative werden Punktwerte (Scores) im Hinblick auf ihre Auswirkung auf die individuell gewichteten Kriterien zugeordnet und für jede Alternative aufsummiert (Keeney u. Raiffa 1976). Ungeachtet des MCDA-Typs bieten alle Methoden dem Entscheidungsträger die Möglichkeit zur logischen und formalen Strukturierung von Entscheidungsprozessen.

    Da es sich bei der chirurgischen Risikoanalyse um ein Gebiet mit zahllosen Evaluationskriterien und signifikanter Unsicherheit handelt, könnte sie im höchsten Maße von einer formalisierten Hilfe zur Beurteilung der mit einem alternativen chirurgischen Ansatz verbundenen Risiken beim einzelnen Patienten profitieren (Khuri et al. 1997). Wie weiter unten noch gezeigt werden wird, könnte es die MCDA den Chirurgen ermöglichen, qualitative oder subjektive Informationen, Meinungen und Präferenzen zusammen mit objektiveren Daten zur Risikoabwägung und damit zur Unterstützung des chirurgischen Entscheidungsfindungsprozesses zu nutzen.

    1.2.3 Eine kurze Geschichte der Risikoanalyse

    Risikomanagement gibt es seit Jahrhunderten. Viele Menschen im alten Ägypten, bei den Griechen oder Römern legten ein eher simples Risikoverständnis an den Tag, um die Flussgeschwindigkeit des Nils, die Chancen bei einem Spiel oder die Möglichkeit des Warenverlustes auf See abzuschätzen (Bernstein 1996). Das frühe Risikoverständnis wurde vor allem durch einen Mangel an elektronischer Rechenleistung geprägt, die uns heute zur Verfügung steht. Die Entscheider der Antike beruhte die Risikoabwägung vor allem auf Erfahrungen und anekdotenhaften Informationen über vergleichbare Situationen und weniger auf quantitativen Projektionen aufgrund aktueller oder zukünftiger Daten. Trotz allem waren Personen mit einem größeren Risikoverständnis in der Lage, ihre Verluste zu minimieren und die potenziellen Gewinnen zu maximieren, wobei einige wenige zu mehr kamen, als sie vorher hatten.

    In jüngerer Zeit hat der Bedarf nach einer größeren Genauigkeit bei den Vorhersagen zukünftiger Ereignisse die quantitative Analyse vorangetrieben. Ein historisches Beispiel für diese Veränderung liefert ein Briefwechsel zwischen Blaise Pascal und Pierre de Fermat von 1654 (Ore 1960). Heute ist es unter dem Namen „De‑Méré-Paradoxon " bekannt, und wir können anhand der grundlegenden Theoreme der Wahrscheinlichkeitsrechnung mathematisch darlegen, warum Chevalier de Méré immer wieder ein Spiel mit zwei Würfeln verlor (Apostol 1969).

    Im Wesentlichen verwendete de Méré eine Würfelregel, bei der er fortwährend verlor, während Pascal und de Fermat zeigten, wie er, basierend auf der Wahrscheinlichkeit für bestimmte Würfelwerte, auf diese setzen konnte. Auch wenn dies verglichen mit den heutigen Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung simpel erscheint, zeigt die Lösung des De‑Méré-Paradoxons, wie ein kluger Analytiker mithilfe von Wahrscheinlichkeiten und quantitativen Analysen zu Aussagen über die Zukunft kommen kann. Die quantitative Wahrscheinlichkeitsbestimmung ist der Knackpunkt der modernen Risiko- und Entscheidungsanalyse, da ein Risiko im Allgemeinen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeiten für ein positives oder negatives Ergebnis bestimmt wird.

    Seit damals hat die Vorstellung, mithilfe von Zahlen die Unsicherheit von Ergebnissen zu bestimmen, beinahe jeden Bereich unserer modernen Welt durchdrungen. Vom Verständnis für die Abläufe an der Börse bis zur Wahrscheinlichkeit eines GAU bietet die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten bestimmter Risiken bei Unsicherheiten die Möglichkeit zur Verbesserung des Managements begrenzter Ressourcen.

    1.2.4 Die Risikoanalyse in der Medizin – Gegenwärtige Methoden und Praxis

    Der angehende Arzt lernt, Entscheidungen aufgrund der Integration von Evidentien, Schlussfolgerungen und Erfahrung zu treffen. Die medizinische Entscheidungsfindung erfolgt sowohl durch induktive Analyse der Patientensymptome als auch durch deduktives, probalistisches Reasoning, das auf der Erfahrung und den zur Verfügung stehenden Daten für jedes Symptom basiert. Seit Kurzem gelten auch die Präferenzen des Patienten als signifikanter qualitativer Aspekt der medizinischen Entscheidungsfindung. In gewisser Weise hat sich die moderne Medizin individualisiert. Die Aufklärung über die Risiken bei der Abwägung verschiedener Behandlungsoptionen wird häufig an die individuelle Situation des Patienten angepasst.

    Angesichts der Begrenzungen an Zeit und Information muss der Arzt jedoch für jeden konkreten Patienten eine individuelle Entscheidung treffen, die sich häufig auf die allgemeinen Klassifikationen der häufigen Symptome stützt (McKinlay et al. 1996).

    Auf dem Gebiet der Chirurgie existieren die gleichen Beschränkungen für Zeit und Informationen. Wenn das Risiko für ein bestimmtes Verfahren berechnet werden muss, kommt eine Unzahl von Variablen ins Spiel, von denen viele auch sehr schwer zu quantifizieren sind. Qualitäten wie etwa die Spezialisierung eines Chirurgen können die Auswahl des Verfahrens eher regelwidrig beeinflussen. Wenn solche Aspekte in eine Entscheidung mit einfließen, ist das Ergebnis häufig ungünstig, weil der Prozess womöglich nicht transparent oder quantitativ fundiert war. Auch eine Ad‑hoc-Entscheidungsfindung wird problematisch, wenn man subjektive Variablen, wie etwa die Lebensqualität heranzieht.

    Belastbare Methoden zum Risikomanagement für Patienten, die sich mit verschiedenen chirurgischen Optionen für ein bestimmtes Problem konfrontiert sehen, sind schwierig zu finden. Dieser Analysetyp sollte transparent sein, damit der Patient und der Operateur, verstehen, wie das Risiko kalkuliert wurde und wie dieses Ergebnis in die Entscheidungsfindung mit einfließen kann. Früher setzte man diese Form für kardiovaskuläre Risikoanalysen ein, um die Zuverlässigkeit zu bestimmen. Diese Berechnungsformen werden jetzt bei spezielleren chirurgischen Verfahren angewandt, wenngleich nur in sehr begrenztem Umfang. Wenn der Hintergrund der Risikoberechnung standardisiert ist, können auch Weiterentwicklungen wie die Entscheidungstheorie erfolgreich angewandt werden. Die Besprechung der mit einem bestimmten chirurgischen Eingriff einhergehenden Risiken ist sowohl für den Patienten als auch für die beteiligten Mediziner von großer Bedeutung. Die Einverständniserklärung ist erforderlich, um einen chirurgischen Eingriff mit seinen zwangsläufigen Gefahren ausführen zu können. Landro beschrieb den typischen Verlauf einer Besprechung über die mit einem bestimmten Verfahren verbundenen Risiken (Landro 2010). Darin geht es um eine Frau, der eine Operation aufgrund eines Kolon- und Uteruskarzinoms bevorsteht (◘ Tab. 1.2).

    Tab. 1.2

    Risikoanalyse und Risikowahrscheinlichkeiten: Frau mit Kolonkarzinom

    Solche Statistiken sind wertvoll, weil sie recht leicht verständlich und dem Patienten vermittelbar sind. Allerdings bietet diese Aufklärung zu den Risiken keine Transparenz im Hinblick auf das Verfahren. Zudem spiegelt die Komplikationsstatistik nicht die Schwere einer bestimmten Komplikation für einen bestimmten Patienten wider. Die gegenwärtigen Methoden der chirurgischen Entscheidungsfindung bemühen oft die Datenbankanalysen von Millionen Patienten und chirurgischen Prozeduren. Die Auswertung größerer Datenmengen dauert nicht selten Jahre und erfordert große Stichprobengrößen, die eventuell gar nicht verfügbar sind. Die verschiedenen Bias-Formen beeinflussen bei der klinischen Entscheidungsfindung den Versuch, die gigantischen Datenmengen zusammenzufassen und zur Anwendung am einzelnen Patienten zu bringen. Dies führt oft, bewusst oder unbewusst, zur Einordnung der Patienten in Gruppen bei dem Versuch, den Diagnoseprozess zu beschleunigen. Diese stereotype Reaktion entspringt dem natürlichen Wunsch, die Entscheidung zu vereinfachen, wenn man sich solchen enormen Datenmengen ausgesetzt sieht. Die Grenzen der konventionellen Ad‑hoc-Methode in medizinischen Entscheidungsprozessen haben den Ruf nach formaleren, quantitativen Methoden der Risikoanalyse laut werden lassen.

    In manchen speziellen Fällen sind bereits formale Modelle der Entscheidungstheorie zur Anwendung gekommen. Diese Modelle sind im Allgemeinen linear und konzentrieren sich auf die formale Evaluation einer medizinischen Entscheidung. In den letzten Jahren wurden zahlreiche quantitative Ansätze zum medizinischen Risikomanagement entwickelt. Weiss et al. schufen eine frühes Entscheidungsmodell, das eine solide statistische Datenlage mit ärztlichen Meinungen verbindet, um zu einer fundierteren ärztlichen Entscheidung zu kommen. Dabei wird versucht, durch computergestützte Entscheidungsfindung einen expliziten Ansatz durch künstliche Intelligenz der medizinischen Entscheidungsfindung über die konventionelle implizite Methode zu schaffen, die statistische Daten aus akkumulierten Stichprobendaten nutzt (Weiss et al. 1978). Diese Methode trägt, wie man in der Medizin sieht, zu einer rasch wachsenden dynamischen Wissensdatenbank bei.

    Ein weiterer Ansatz der quantitativen Risikoanalyse ist die Simulation. Medizinische Simulationsmodelle können die Behandlungsergebnisse auf der Grundlage von Ereigniswahrscheinlichkeiten, die Auswirkungen auf Dosis-Wirkungs-Modell e (Dose-Response-Model ) haben. Diese Modelle bieten einige Vorteile, da sie sich wiederholende zeitlich bedingte Ereignisse oder Bedingungen genauer beschreiben können. Eines dieser Modelle beinhaltet auch die Monte-Carlo-Simulation, bei dem die Wahrscheinlichkeiten für den besten Fall, den schlechtesten Fall und die beste Schätzung für ein Ergebnis beurteilt und tausende Male simuliert werden. Viele Methoden der Monte-Carlo-Simulation und ‑Darstellung lassen sich zur Betrachtung des Patientenrisikos für ein negatives operatives Ergebnis verwenden und können durch Quantifizierung und Aufklärung über die zahlreichen Risiken im Zusammenhang mit einem chirurgischen Eingriff, die zu einem negativen Ergebnis führen könnten, die Unsicherheiten bei diesem Verfahren vermindern.

    Um zu zeigen, wie eine Monte-Carlo-Simulation funktioniert, kann das folgende Beispiel eines chirurgischen Dilemmas dienen. Ein 28-jähriger Mann wird mit einem perforierten Appendix in die Klinik eingewiesen. Dabei weist er einen perityphlitischen Abszess sowie eine akute entzündliche Infiltration des Zäkums auf. Obwohl eine Appendektomie ein vergleichsweise kleiner Eingriff ist, stellt die Entzündungsreaktion ein erhöhtes Operationsrisiko für eine Leckbildung am Appendixstumpf dar. Bei solch einer Unsicherheit kann ein Instrument wie die Monte-Carlo-Simulation bei der Bestimmung der Wahrscheinlichkeit eines chirurgischen Erfolges und im Hinblick auf ein größeres Verständnis für die Ursprünge der Risiken, wenn es mit einem Entscheidungshilfensystem wie etwa dem MCDA verbunden wird. In ◘ Abb. 1.2 sehen Sie eine normalisierte Simulation, bei der ein negativer Score ein negatives Operationsergebnis voraussagt und ein positiver Score ein positives Resultat bedeutet. Bei den Risikoparametern des Patienten wie z. B. Alter, Vorgeschichte und chirurgische Komplikationen konnte ein negatives Ergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit von 43 % erwartet werden.

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    Abb. 1.2

    Monte-Carlo-Simulation des Appendektomie-Dilemmas

    Die Experten- und Stakeholder-Meinungen zum Entscheidungsprozess wurden ebenfalls in einigen Fällen mit aufgenommen. Cairo et al. (2007) stellten einen Ansatz vor, in den Expertenäußerungen einflossen, die für jedes Verfahren einen Risikoscore erzeugten. Bei diesem speziellen Verfahren kam die „RAND-Appropriateness-Method" (RAM) zum Einsatz, um zu ermitteln, ob ein Verfahren oder eine Behandlungsoption bei einem spezifischen Patienten anwendbar ist. Das Ergebnis liest man in einem Koordinatensystem ab (1–3 ungeeignet, 4–6 fraglich, 7–9 geeignet). Diese Methode bestimmt, welche Alternativen die geeignetsten sein könnten, aber zeigt nicht auf, welches Verfahren das optimale ist.

    In zahlreichen Publikationen wurden zuletzt formale Entscheidungsmethodologien eingesetzt. Als Zeitschrift mit dem Fokus auf den Problemen mit Risiken und Entscheidungsprozessen auf medizinischem Gebiet präsentiert „Medical Decision Making" verschiedene Entscheidungsmodelle, die fortgeschrittenere quantitative Methoden beinhalten, welche in formaler Weise subjektive Patientenmerkmale aufzugreifen versuchen. So stellen etwa Pignone und Ransohoff (2011) eine Cross-Model-Validation für das kolorektale Karzinomscreening vor und stellten fest, dass das Modeling eine wirksame Methode zur Evaluation des Kosten-Nutzen-Verhältnisses und zur Integration subtiler Unterschiede bei den Zeitintervallen und bei der Intervention von mehreren Verfahren ist.

    1.2.5 Risikobasierte Entscheidungsanalyse zur Anwendung in der Chirurgie

    Bei jedem chirurgischen Verfahren tragen verschiedene Faktoren zu dem Risiko potenzieller intra- und postoperativer Komplikationen bei (◘ Abb. 1.3). Diese Faktoren können mit den individuellen Merkmalen des Patienten verknüpft werden. Verschiedene Patientenmerkmale können mit der Neigung des Patienten zu unterschiedlichen Komplikationen interferieren, wie etwa das Alter, der BMI und die medizinische Vorgeschichte. Alternative Verfahren sind auch mit unterschiedlichen Neigungen zu bestimmten Problemen verbunden. Obwohl oft noch weitere Risikofaktoren zu berücksichtigen sind, wie etwa jene, die mit der technischen Erfahrung des Operateurs verbunden sind, konzentrieren wir uns nur auf den Patienten und auf prozedurale Faktoren im Hinblick auf die Frage, wie das operative Risiko zu bestimmen ist.

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    Abb. 1.3

    Faktoren chirurgischer Risiken

    In präoperativen Situationen muss ein Chirurg die möglichen chirurgischen Ansätze evaluieren und die vielversprechendste Option im Hinblick auf die Bedürfnisse des Patienten auswählen. Intraoperativ kann der Operateur sich mit einem Problem konfrontiert sehen, das die Entscheidung erfordert, ob an der ursprünglichen Planung festgehalten werden kann oder ob eine Abänderung des chirurgischen Vorgehens auf alternative Techniken oder auf eine andere Methode erforderlich ist (Korenkov u. Weiner 2010). Auf jeden Fall muss eine verantwortungsvolle Entscheidung alle sowohl mit dem Patienten als auch mit den verschiedenen alternativen Ansätzen verbundenen Risikofaktoren in die Rechnung mit einbeziehen, um sich für einen Weg zu entscheiden, der die Gefahr potenzieller Komplikationen auf ein Minimum reduziert.

    Die Entscheidungstheorie bietet einen strukturellen Rahmen zur Evaluation der patientenabhängigen und der prozeduralen Risikofaktoren, um das Risiko der möglichen Komplikationen bestimmen zu können. In einer problematischen chirurgischen Situation kann die MCDA-Anwendung bei der effektiven Entscheidungsfindung hilfreich sein, indem das qualitative Reasoning, wie etwa Urteilsvermögen und Erfahrung des Chirurgen, mit quantitativen Daten, z. B. den empirischen Ergebnissen aus klinischen Untersuchungen, verbunden wird, um das relative Risikoniveau alternativer Verläufe bestimmen zu können.

    MCDA-Entscheidungsmodelle wie in ◘ Abb. 1.4 stellen für Chirurgen ein wichtiges Instrument zur Quantifizierung und Analyse der operativen Risiken dar.

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    Abb. 1.4

    Beispielhaftes MCDA-Entscheidungsmodell zur Risikoabwägung bei alternativen adipositaschirurgischen Eingriffen

    Das vierstufige Entscheidungsmodell in ◘ Abb. 1.4 macht deutlich, wie die MCDA zur Evaluation potenzieller Komplikationsrisiken bei verschiedenen adipositaschirurgischen Eingriffen genutzt werden kann. Während dieses allgemeine Modell nicht den Anspruch hat, die gesamte Komplexität einer echten chirurgischen Situation widerzuspiegeln, zeigt es doch, wie Patientenfaktoren (Level 2) und Verfahrensfaktoren (Level 4) zum potenziellen Komplikationsrisiko (Level 3) und somit zum Niveau des allgemeinen chirurgischen Risikos (Level 1) für eine bestimmte Operation beitragen.

    Bei jeder MCDA-Anwendung bieten die Entscheidungsmodelle einen Rahmen, mit dem alle für die Entscheidung relevanten Kriterien organisiert und analysiert werden. Diese konzeptionellen Tools bieten die Struktur für eine Reihe einfacher Algorithmen, die mathematisch beschreiben, wie verschiedene Kriterien untereinander in Beziehung stehen und in den Entscheidungsfindungsprozess mit einfließen. Bei gemeinsamer Nutzung entsteht durch MCDA und Algorithmen ein transparenter, systematischer und umfassender Ansatz für einen Entscheidungsprozess. Um diesen Ansatz darzustellen schauen wir uns eine weitere hypothetische chirurgische Fallgeschichte an, die das Entscheidungsmodell in ◘ Abb. 1.4 ergänzt.

    Fallbeispiel: MCDA-Einsatz zur Risikoabwägung in der Adipositaschirurgie

    Denken Sie an einen Patienten, der sich einem adipositaschirurgischen Eingriff unterziehen möchte und zwischen verschiedenen chirurgischen Optionen zu wählen hat. Für dieses Beispiel beschränken wir die Zahl der möglichen alternativen Verfahren auf drei: Magenbypass (Roux‑Y), Magenband (Lap‑Band) und Schlauchmagen (vertikale Sleeve-Gastrektomie; siehe auch ◘ Abb. 1.5 u. ◘ Abb. 1.4, Level 4). Um hier eine wohlüberlegte Entscheidung treffen zu können, muss der Patient die gesamten chirurgischen Risikolevels der jeweiligen alternativen Operationen miteinander vergleichen.

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    Abb. 1.5a–c

    Übersicht der alternativen adipositaschirurgischen Eingriffe. a Magenbypass (Roux‑Y), b Magenband, c Sleeve-Gastrektomie (aus Korenkov M. Adipositaschirurgie. Bern: Verlag Hans Huber; 2010; mit freundlicher Genehmigung)

    Der Chirurg, der in der Lage sein sollte, dem Patienten die Risiken für jede alternativen Eingriff zusammenfassend darzustellen, muss alle potenziellen Komplikationen jedes Verfahrens in die Rechnung miteinbeziehen und die relevanten Faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens beeinflussen, evaluieren. Für das vorliegende Beispiel nehmen wir eine begrenzte Anzahl von möglichen Komplikationen an: Infektion (der Inzisionsstelle), Blutung (innerlich), Gallensteine, Blutkoagel, gastrointestinale Obstruktion und gastrointestinale Leckbildung. Diese Komplikationen finden sich auf Level 3 des Entscheidungsmodells in ◘ Abb. 1.4. Wenngleich eine realistische chirurgische Entscheidung wahrscheinlich ein wesentlich breiteres Feld chirurgischer Komplikationen berücksichtigen muss, gehen wir in diesem Fall davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit für weitere Komplikationen gleich Null ist.

    Nachdem der Chirurg eine Liste aller möglichen Komplikationen zusammengestellt hat, muss er nun das Risiko für jede einzelne bei jedem der drei Verfahren ermitteln. Dazu muss er die verschiedenen Faktoren kennen, die sich auf das Komplikationsrisiko auswirken. Diese sowohl mit dem Patienten als auch mit dem speziellen Verfahren verbundenen Risikofaktoren müssen evaluiert werden.

    Wenn der Chirurg zuerst die Risikofaktoren des Patienten evaluieren will, muss er bestimmen, welche Merkmale des Patienten für die Entscheidung relevant sind. Er muss mit anderen Worten die Eigenheiten des Patienten erkennen, welche die Anfälligkeit für eine der potenziellen Komplikationen beeinflussen. Im vorliegenden Fall wollen wir nur von vier relevanten Patientenmerkmalen ausgehen, die in Level 2 der ◘ Abb. 1.4 aufgeführt sind: Alter, BMI, Rauchgewohnheiten, kürzliche Erkrankungen. Der Chirurg weiß, dass jedes dieser allgemeinen Patientenmerkmale erwiesenermaßen die Wahrscheinlichkeit für eine oder mehrere der möglichen Komplikationen erhöht. Somit muss er also den Patientenscore im Hinblick auf jedes dieser vier Merkmale ermitteln. Die Ergebnisse für unseren hypothetischen Patienten sind in ◘ Tab. 1.3 wiedergegeben.

    Tab. 1.3

    Score der Patientenmerkmale

    Um zu evaluieren, wie die Patientenmerkmale das gesamte Risikoniveau der alternativen Verfahren beeinflussen, muss der Chirurg nicht nur die Scores der Patientenmerkmale kennen, sondern auch verstehen, wie genau sich diese Merkmale auf die Anfälligkeit des Patienten für die verschiedenen Komplikationen auswirken. So hilft es dem Chirurgen etwa nicht so sehr zu wissen, dass der BMI 32 beträgt, wenn er nicht auch die Folgen des hohen BMI für die Wahrscheinlichkeit einer Infektion kennt. Der Chirurg muss also für jede potenzielle Komplikation die relevanten Merkmale bestimmen und den Score für die Patientenmerkmale mit den Auswirkungen dieser Merkmale für die Entstehung der Komplikation integrieren.

    Bei der wirklichen Anwendung kann es verschiedene Wege geben, um den Patientenscore mit der Neigung der Merkmale zur Einflussnahme auf das Risiko für eine bestimmte Komplikation zu integrieren. Das kann durch rein mathematische Algorithmen geschehen oder auch durch qualitative Ansätze, die den Patienten in eine Kategorie auf einer Skala von 1–10 oder an einem Spektrum von „geringe Komplikationsneigung bis „hohe Komplikationsneigung usw. einstufen. Der MCDA-Ansatz kann an alle Formen der Integration, seien sie kontextbezogen und/oder mit den verfügbaren medizinischen Daten verknüpft, angepasst werden.

    Da es sich hier um einen hypothetischen Fall handelte, welcher der Illustration eines breiteren MCDA-Ansatzes diente, werden wir hier keine typischen Neigungen definieren oder integrieren, sondern statt dessen jedem Patientenmerkmal einen „Einflussscore (influence score) zwischen 1 und 5 im Hinblick auf jede potenzielle Komplikation zuschreiben. Darin spiegelt sich dann das Ausmaß wider, in dem die Merkmale des Patienten dessen Empfänglichkeit für eine bestimmte Komplikation erhöht. Der Chirurg kann hier diese Scores kombinieren, um daraus den „Neigungsscore (susceptibility score) für jede potenzielle Komplikation zu errechnen. Die Ergebnisse dieser Evaluation sind in ◘ Tab. 1.4 wiedergegeben.

    Tab. 1.4

    Einflussscore (influence score) der Patientenmerkmale und Neigungsscore (susceptibility score) für jede potenzielle Komplikation

    Der Chirurg hat nun eine umfassende Analyse der patientenbezogenen Risikofaktoren, die für die chirurgische Entscheidung relevant sind, durchgeführt. Wurden so alle relevanten Patientenmerkmale berücksichtigt und auch die Neigung des Patienten zu der jeweiligen möglichen Komplikation bestimmt, müssen nun noch die Risikofaktoren betrachtet werden, die mit dem chirurgischen Verfahren verbunden sind. Die verschiedenen Schritte bei jedem der drei adipositaschirurgischen Verfahren sind mit variierenden potenziellen Risikolevels für unterschiedliche Komplikationen verbunden. Somit muss der Chirurg für jede Methode die Neigung zur Induzierung jeder der möglichen Komplikationen bestimmen.

    Man kann verschiedene Informationsquellen nutzen, um die Neigung zu einer spezifischen Komplikation zu bestimmen. Die Intuition des Chirurgen, die in seiner Erfahrung begründet liegt, kann ein zuverlässiger Indikator sein. Auch dokumentierte medizinische Daten und Studienergebnisse können nützliche Quellen sein. Obwohl die Datenlage in den verschiedenen chirurgischen Zusammenhängen variieren kann, ist es wichtig, dass der Neigungsscore für verschiedene Prozeduren und Komplikationen möglichst genau abgeleitet wird.

    Für unser Fallbeispiel schreiben wir den drei alternativen Prozeduren potenzielle Komplikationen mit einer zufälligen Punktzahl von 1–5 zu. Dieser Neigungsscore ist in ◘ Tab. 1.5 dargestellt. Er steht für die Tendenz des Verfahren s zu einer bestimmten Komplikation.

    Tab. 1.5

    Alternative Operationen und ihre Neigungsscores (susceptibility score) für jede potenzielle Komplikation

    Der Chirurg hat jetzt sowohl die patientengebundenen als auch die prozeduralen Risikofaktoren, welche zu der Möglichkeit der Entstehung einer potenziellen Komplikation während eines adipositaschirurgischen Eingriffes beitragen, umfassend bestimmt. Jetzt müssen die Neigungsscores des Patienten mit jedem prozeduralen Neigungsscore verbunden werden, um kumulative Werte zum chirurgischen Risiko zu bekommen, die der Patient heranziehen kann, um die Alternativen gegeneinander abzuwägen.

    Bevor jedoch diese abschließenden Risikolevels abgeleitet werden können, muss der Chirurg eine letzte Analyse durchführen, die genau die Schwere jeder potenziellen Komplikation aufnimmt. Um dem Patienten ein wohldurchdachte Entscheidung im Hinblick auf die chirurgischen Alternativen zu ermöglichen, muss er nicht nur seine eigene Disposition zu bestimmten Komplikationen und die verschiedenen Neigungen der unterschiedlichen Verfahren diese auszulösen verstehen, sondern er muss auch die mögliche Schwere der potenziellen Komplikation mit in die Rechnung einbeziehen. Angenommen, der Patient entscheidet sich für ein Verfahren mit einem hohen Risiko dafür, dass eine kleinere Komplikation (z. B. Gallensteine) eintritt, und gegen ein geringes Risiko dafür, dass eine größere Komplikation eintritt, dann muss diese Präferenz in die Überlegungen des Chirurgen mit einfließen.

    Auf dem Gebiet der Risikoanalyse werden Risiken in „Wahrscheinlichkeiten und „Folgen oder „Konsequenzen ausgedrückt. Im vorliegenden Beispiel beschreiben der kombinierte Patienten- und der prozedurale Neigungsscore die „Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer potenziellen Komplikation und der Schwerescore die „Folgen oder „Konsequenzen. Somit muss der Chirurg zunächst die Neigungsscores für jede Komplikation kombinieren und dann diese kombinierten Wahrscheinlichkeitsscores mit den entsprechenden Schwere- oder Folgenscores integrieren. Nur so lassen sich kumulative Risikolevels für die alternativen Operationstechniken ermitteln.

    Obwohl diese Scores auf verschiedene Weisen integriert werden können, nehmen wir für unseren hypothetischen Fall einfach das Produkt aus dem Wahrscheinlichkeitsscore jeder Komplikation und dem zufällig zugewiesenen Folgenscore (1–5), um den Risikoscore für die Komplikation zu bestimmen. Dann summieren wir die Risikoscores aller Komplikationen, um den finalen kumulativen Risikolevel für das Operationsverfahren zu berechnen. Die Ergebnisse dieser Evaluationen sind in ◘ Tab. 1.6 dargestellt.

    Tab. 1.6

    Schwerescore der potenziellen Komplikationen und kumulative Risikoscores der Operationsalternativen

    1.2.6 Zusammenfassung

    Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungsmodelle und hypothetischen Szenarien, die wir in diesem Kapitel vorgestellt haben, vereinfachte Beispiel sind, die nur einen Eindruck davon vermitteln sollten, wie die MCDA in schwierigen chirurgischen Situationen angewandt werden kann.

    Unsere Modellliste der Komplikationen, Verfahren und Patientenmerkmale ist unvollständig und zielten speziell auf das begrenzte Gebiet der Adipositaschirurgie. Tatsächlich werden die relevanten Faktoren und die Alternativen, die es bei der Risikobestimmung und Entscheidungsfindung zu berücksichtigen gilt, vom Operationsziel bestimmt. Daneben müssen die Patientenmerkmale, die möglichen Komplikationen und dive alternativen Verfahren evaluiert werden, um die mit dem Eingriff verbundenen Risiken erkennen und eine wohldurchdachte Entscheidung treffen zu können. Außerdem müssen sowohl die Präferenzen des Patienten als auch die chirurgische Philosophie der Klinik in die Überlegungen mit einfließen.

    Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass unser Modell und das Fallbeispiel speziell auf die präoperative Situation zugeschnitten sind, wo die Risiken evaluiert werden können, bevor die Operation stattfindet und der Patient im Allgemeinen noch bei der Entscheidungsfindung mitwirken kann. Die MCDA kann auch intraoperativ angewandt werden, wenn unerwartete Schwierigkeiten während der Prozedur auftreten. Dabei können sich dann neue Risiken entwickeln, die häufig eine Neubewertung der ursprünglichen chirurgischen Strategie erfordern.

    Schließlich müssen Chirurgen und auch andere Mediziner die Risiken verstehen und evaluieren können, um den Anforderungen ihrer Patienten gerecht zu werden. Es gibt viele Methoden zur Risikobestimmung. Die Risikoanalyse und Entscheidungstheorie ist nur ein Weg zu einem umfassenden und effizienten Risikomanagement. Die medizinische MCDA kann dabei helfen, die potenziellen Risiken einer Operation für Patient und Operateur deutlicher zu machen und durch eine verantwortungsbewusste Verringerung der Komplikationen die operativen Erfolgsquoten zu verbessern. Obwohl entscheidungstheoretische Methoden wie die MCDA kein Ersatz für die chirurgische Erfahrung und die ärztlich-diagnostischen Möglichkeiten sind, können sie ein probates Hilfsmittel sein, um durch kumulative Bestimmung des relativen Operationsrisikos für den einzelnen Patienten bestimmten Operationsverfahren den Vorrang zu geben.

    In der Chirurgie können Entscheidungsmodelle wie das hier vorgestellte die Expertise und Intuition eines Chirurgen nicht ersetzen, doch können sie diese unterstützen. Angesichts so vieler wechselwirkender Risikofaktoren, die es in einer schwierigen operativen Situation zu berücksichtigen gilt, kann ein strukturierter Ansatz zur Organisation, Integration und Interpretation dieser Faktoren den Chirurgen dem Weg zu einer durchdachten und risikominimierten Entscheidung unterstützen.

    1.3 Das Abweichen von chirurgischen Standards aus Sicht des Juristen

    H. Fenger⁵ 

    1.3.1 Einführung

    „Der Behandler hat nur eine Aufgabe – zu heilen, und wenn das gelingt, ist es gleichgültig, auf welchem Wege es ihm gelingt." (Hippokrates von Kos)

    Dieser berühmte und gleichzeitig nachvollziehbare Satz des griechischen Arztes und Philosophen hat heute keine uneingeschränkte Geltung mehr. Die Medizin untersteht mittlerweile dem Einfluss des Rechts, sodass selbst erfolgreiche ärztliche Behandlungen auf den Prüfstand gestellt werden.

    Anlass hierzu gibt das gesteigerte Anspruchsdenken der Patienten. Diese Entwicklung wird durch meist einseitige Berichterstattungen in den Medien unterstützt. Dies hat wiederum zur Folge, dass sich das früher durch Vertrauen geprägte Verhältnis zwischen Arzt und Patient stark verändert hat. Zu beobachten ist eine gesteigerte Anforderung der Judikatur insbesondere gegenüber der ärztlichen Aufklärungspflicht.

    Die immer knapper werden finanziellen Ressourcen bedingen, dass ärztliche Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben. Dieses Wirtschaftlichkeitsgebot führt jedoch nicht dazu, dass etwa die Anforderungen an das ärztliche Handeln angepasst wären. Vielmehr schuldet der Arzt dem Patienten eine fachgerechte, dem wissenschaftlichen Stand entsprechende Behandlung (BGH NJW 1975, 305; OLG Frankfurt NJW-RR 2005, 701 f.; OLG Brandenburg OLGR 2005, 489 ff.). Danach ist der Arzt verpflichtet, den Patienten nach dem anerkannten und gesicherten Standard der medizinischen Wissenschaft zu behandeln (BGH VersR 1997, 770 f.; OLG Karlsruhe OLGR 2006, 8; OLG Stuttgart VersR 2003, 253 f.).

    1.3.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

    Nach wie vor wird der zwischen den Patienten und Arzt abgeschlossene Vertrag als Dienstvertrag und nicht als Werkvertrag angesehen (BGHZ 63, 306/309; BGH NJW 1981, 2002; OLG Koblenz NJW-RR 1994, 52). Deshalb schuldet der Arzt dem Patienten nicht das Eintreten eines bestimmten Erfolges oder Ergebnisses. Dies wäre der wesentliche Inhalt eines Werkvertrages. Somit schuldet der Arzt dem Patienten eine Behandlung lege artis.

    Hieran will der Gesetzgeber auch durch das zu erwartende Gesetz zur Verbesserung des Rechts von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz) nichts ändern. Der Behandlungsvertrag soll nunmehr ausdrücklich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) in § 630 a geregelt werden. Danach hat die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung stehenden anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen. Der Entwurf sieht in § 630 b vor, dass auf dieses Behandlungsverhältnis zwischen Arzt und Patient die Vorschriften über das Dienstverhältnis anzuwenden sind.

    Daher hat der Arzt den Patienten nach dem aktuellen Standard der medizinischen Wissenschaft zu untersuchen und zu behandeln. Vom Arzt wird deshalb die nach den Umständen erforderliche Sorgfalt erwartet. Er hat die Behandlung in der gebotenen Form wahrzunehmen. Der Maßstab der gebotenen Sorgfalt richtet sich danach, wie sich ein gewissenhafter Arzt in der jeweiligen Situation verhalten hätte. Verstößt der Arzt hiergegen, handelt er zumindest fahrlässig (BGH NJW 2000, 2737). Geschuldet wird daher der medizinische Facharztstandard. Dabei wird die ärztliche Sorgfaltspflicht nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt der Durchführung der Behandlung beurteilt (BGH NJW 2004, 1452; OLG Saarbrücken NJW-RR 1999, 176).

    Zu jeder kritischen Auseinandersetzung mit einem medizinischen Gutachten eines Sachverständigen im Rahmen einer strittigen Auseinandersetzung wegen vermeintlicher Behandlungsfehler gehört die Überprüfung der vom Sachverständigen angegebenen Literatur. Es kommt nicht selten vor, dass ein Sachverständiger seine Sicht mit Literaturstellen unterlegt, die erst nach der streitgegenständlichen Behandlung datieren. In einem solchen Fall verlässt der Sachverständige seine Aufgabenstellung, die von ihm eine Beurteilung der Behandlung aus der Ex‑ante-Sicht verlangt.

    Der Gesetzgeber hat in § 276 BGB festgelegt, was im Schadensfall ein Schuldner zu vertreten hat. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Der in diesem Rahmen früher verwandte Begriff „Stand der Wissenschaft und Technik" als Sorgfalt begründendes Merkmal, stellte etwas Statisches dar. Es wurde auf etwas Gegebenes und Feststehendes zurückgegriffen.

    Heute wird der Begriff „Standard" verwendet. Dieser Begriff deutet auf das, was der Gesetzgeber mit der erforderlichen Sorgfalt gebieten will, nämlich auf ein normativ auferlegtes fortwährendes sich Anpassen an Umstände und Gefahren hin (Lauffs, Kern: Handbuch des Arztrechts, § 97 Rd. 3). Der Standard spielt eine wesentliche Rolle im Arzthaftungsrecht. Er ist der entscheidende Anknüpfungspunkt einer Einstandspflicht wegen Enttäuschung und einer bestimmten Erwartung (Katzenmeier: Arzthaftung, S. 278). Der Standard wird regelmäßig beschrieben als der jeweilige Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (Carstensen DÄBl 1989, b – 1736). Man ist sich darüber einig, dass der Standard guter ärztlicher Behandlung zu gewährleisten ist und nicht unterschritten werden darf (BGH NJW 1999, 1778; BGH NJW 1995, 776 f.; Steffen, Pauge: Arzthaftungsrecht Rd. 133). Es handelt sich also um einen umfassenden objektiven Fehlerbegriff.

    Es geht nicht darum, persönliche Schuld zu ahnden, wie dies im Strafrecht der Fall ist. Vielmehr werden Qualitätsmängel aufgezeigt. Dieser Sorgfaltsmaßstab darf daher keine Rücksicht nehmen auf fehlende Ausbildung oder Erfahrung. Ebenso wenig kommt es auf personelle oder sachliche Engpässe an. Auch die Erschöpfung des Budgets ist ohne Belang. Verlangt wird diejenige Behandlung, die ein durchschnittlich qualifizierter Arzt nach dem jeweiligen Stand von medizinischer Wissenschaft und Praxis an Kenntnissen, Wissen, Können und Aufmerksamkeit zu erbringen in der Lage ist (Katzenmeier a. a. O. S. 279).

    1.3.3 Bedeutung von Richtlinien und Leitlinien

    Der Bestimmung des Facharztstandards dienen Richt- und Leitlinien.

    Richtlinien sind Regelungen des Handelns oder Unterlassens einer rechtlich legitimierten Institution, deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich ziehen. Sie sind also verbindlich.

    Leitlinien sind systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete, praxisorientierte Handlungsempfehlungen über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen. Ein Verstoß gegen eine Leitlinie indiziert jedoch nicht das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, schon gar nicht eines groben Behandlungsfehlers (OLG Hamm NJW 2000, 1801; OLG Stuttgart MedR 2002, 650; OLG Naumburg GesR 2002, 14f.).

    Leitlinien und insbesondere Richtlinien können sich jedoch zum medizinischen Standard entwickeln (BGH NJW 2000, 1784 f.). Wenn dann der Arzt im Einzelfall von einer Leitlinie abweicht, hat er die Gründe hierfür darzulegen (OLG Düsseldorf VersR 2000, 1019 f.). Im Einzelfall können Leitlinien eine Indizwirkung für das Vorliegen eines Sorgfaltsverstoßes entfalten, wie etwa beim Verstoß gegen S‑3‑Leitlinien (OLG Düsseldorf VersR 2000, 1019 f.).

    Insgesamt muss man davon ausgehen, dass eine regelrechte ärztliche Behandlung nicht allein durch Richtlinien bestimmt wird. Vielmehr beurteilt sich die zu beachtende Sorgfalt nach dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt der Behandlung. Die Richtlinien – und für die Leitlinien gilt nichts anderes – können diesen Erkenntnisstand nur deklaratorisch wiedergeben, nicht aber konstitutiv begründen. Der Arzt muss, um den erforderlichen Erkenntnisstand zu erlangen, die einschlägigen Fachzeitschriften seines Fachgebietes, in dem er tätig ist, regelmäßig lesen (OLG Hamm NJW 2000, 1801 f.; BGH NJW 1991, 1535).

    So kann ein ärztlicher Behandlungsfehler auch darin liegen, dass ein verspäteter Einsatz des für die notwendige Indikation nicht zugelassenen Medikamentes fehlerhaft ist (OLG Köln VersR 1991, 186 ff.). In diesem konkreten Fall hat das Gericht sogar einen groben Behandlungsfehler mit all seinen Konsequenzen angenommen. Letztlich hat das OLG Köln hier sogar eine Pflicht zum Off-Label-Use bejaht.

    1.3.4 Ärztliche Therapiefreiheit

    Auf den ersten Blick scheinen die bisherigen Ausführungen der ärztlichen Therapiefreiheit entgegenzustehen. Die Wahl der Methode ist jedoch nach wie vor Sache des Arztes. Sie überlässt ihm einen von ihm zu verantwortenden Risikobereich im Rahmen der Regeln der ärztlichen Kunst (Ulsenheimer in Lauffs, Kern: Handbuch des Arztrecht, § 139 Rd. 33; BGHSt 37, 385 ff.). Dieser Freiraum für den Arzt folgt aus dem Umstand, dass der rasche Fortschritt der medizinischen Technik und die damit einhergehende Gewinnung immer neuer Erfahrungen und Erkenntnisse notwendigerweise zu Unterschieden in der Qualität der einzelnen Behandlungen führen (BGH NJW 1993, 2989 ff.). Deshalb darf die Anforderung an die ärztliche Sorgfalt nicht unbesehen mit den Möglichkeiten verglichen werden, wie sie an Universitätskliniken oder Spezialkrankenhäusern herrschen. Vielmehr müssen die für den jeweiligen Patienten in der konkreten Situation faktisch erreichbaren Gegebenheiten berücksichtigt werden.

    Auf jeden Fall muss ein noch ausreichender medizinischer Standard erreicht werden (BGH NJW 1994, 1597 f.). Deshalb ist auch die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen grundsätzlich erlaubt (BGH NJW 1991, 1536). Allein aus der Tatsache, dass ein Arzt den Bereich der Schulmedizin verlässt, kann nicht von vornherein auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden (BGH NJW 1991, 1536).

    Stehen mehrere medizinisch anerkannte Heilverfahren zur Auswahl, muss der Arzt dasjenige wählen, das einerseits die besten Heilungschancen eröffnet, andererseits die geringste Gefährdung für den Patienten mit sich bringt und ihm die wenigsten Schmerzen bereitet. Entscheidet sich der Arzt für das größere Risiko oder eine mit größeren Schmerzen verbundene Behandlung, obwohl unter Abwägung aller Umstände ein weniger gefährliches Vorgehen den Zweck in gleicher Weise erfüllt, verstößt er gegen seine Verpflichtung zur Anwendung der optimalen Heilmethode (BGH NJW 1987, 2927; BGH NJW 1968, 1181 f.).

    Der Arzt darf nur dann ein höheres Risiko eingehen, wenn besondere Umstände des konkreten Falles dies rechtfertigen (BGH MedR 2008, 87 f.). Bei der Anwendung einer Behandlungsmethode außerhalb des medizinischen Standards hat der Arzt erhöhte Vorsicht walten zu lassen. Er muss den Behandlungsverlauf kontinuierlich überwachen und darf keinesfalls den Fall aus der Ferne betreuen (BGH MedR 2008, 87 ff. mit Anm. Spickhoff).

    Des Weiteren hat der Arzt auch zu berücksichtigen, welche der verschiedenen Methoden er persönlich besser und sicherer beherrscht. Dabei wird nach dem Schweregrad des anstehenden operativen Eingriffs zu unterscheiden sein. Bei technisch einfachen Operationen wird jede Operationsmethode unproblematisch durchführbar sein. Hier reicht eine einfache Information gegenüber dem Patienten aus, in welcher Form der Eingriff durchgeführt werden soll.

    In einer Situation, in der bestimmte Operationsmethoden schwieriger als andere sein können, muss mit dem Patienten hierüber gesprochen werden. Mit dem Patienten ist das Für und Wider der einzelnen Methode zu erörtern. Dies gilt erst recht, wenn einige Operationsmethoden deutlich schwieriger als andere sind. Ist jede operationstechnische Methode als schwierig anzusehen, muss mit dem Patienten dies ebenfalls ausführlich besprochen werden.

    In allen Fällen ist eine Dokumentation des Aufklärungsgespräches unabdingbar.

    1.3.5 Neue Behandlungs- oder Außenseitermethoden

    In einer Berliner Klinik wird seit Anfang des Jahres ein neues Verfahren bei Lungenkranken angewandt. Die sog. VATS-Lobektomie/Lappenresektion wird vorgenommen, um Lungenkrebs zu entfernen. Es werden lediglich zwei kleine Hautschnitte angelegt. Über einen wird die Kamera in den Brustkorb eingeführt, um die aufgenommenen Bilder auf einen hochauflösenden Monitor zu übertragen. Die Operateure schauen nur auf diesen Monitor und operieren mit speziellen Instrumenten über einen zweiten Schnitt von etwa sechs Zentimetern. Über diesen wird am Schluss das Operationspräparat entnommen. Die Lymphknoten werden im gleichen Ausmaß entnommen wie bei einer herkömmlichen offenen Operation. Die bei herkömmlichen Methoden notwendige Öffnung des Brustkorbes mit einem großen Schnitt und Auseinanderspreizen der Rippen entfällt hierdurch. Die Klinik berichtet, dass bereits bei fünf Patienten diese Methode in einem Frühstadium des Lungenkrebses erfolgreich eingesetzt werden konnte.

    Hier kann sicherlich noch nicht von einem Standard gesprochen werden. Gleichwohl ist diese Methode im Interesse der Patienten und der Weiterentwicklung der medizinischen Wissenschaft zulässig. Dies gilt selbst dann, wenn zumindest anfangs gewisse Nebenwirkungen und Risiken vorhanden sind.

    Bei der Anwendung einer Außenseitermethode verlangt die Rechtsprechung den Sorgfaltsmaßstab eines vorsichtigen Arztes. In einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist ausdrücklich ausgeführt, dass die Anwendung einer nicht allgemein anerkannten Heilmethode grundsätzlich erlaubt sei und nicht ohne weitere Umstände zu einer Haftung des Behandlers führt (BGH MedR 2008, 87 ff.). In diesem Fall hatte ein Orthopäde Bandscheibenbeschwerden mit dem sog. Racz-Katheter behandelt. Bei dieser Behandlung wird über einen Epiduralkatheter im Spinalkanal ein Cocktail aus einem Lokalanästhetikum, einem Kortikoid, einem Enzym und Kochsalzlösung in das Gebiet des von einem Bandscheibenvorfall betroffenen Segments gespritzt. Diese minimalinvasive epidurale Wirbelsäulenkathetertechnik wurde nicht beanstandet. In der entsprechenden Therapiewahl wurde kein Behandlungsfehler gesehen.

    Vielmehr entschied der BGH auf der Grundlage der Therapiefreiheit, dass es primär Sache des Arztes sei, sich bei der Wahl der Therapie nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festzulegen. Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden (BGHZ 168, 103/105 f.). In einer solchen Situation müssen alle bekannten und medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen angewandt werden, die eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung gewährleisten. Je einschneidender ein etwaiger Fehler sich für den Patienten auswirkt, umso vorsichtiger muss vorgegangen werden (BGH VersR 1985, 969 f.).

    Die Anwendung einer Außenseitermethode unterscheidet sich von herkömmlichen, bereits zum medizinischen Standard gehörenden Therapien vor allem dadurch, dass im besonderen Maße mit bis dahin unbekannten Risiken und Nebenwirkungen gerechnet werden muss. Deshalb wird eine verantwortungsvolle medizinische Abwägung verlangt, in der ein besonders sorgfältiger Vergleich zwischen den zu erwartenden Vorteilen und ihren abzusehenden, zu vermutenden oder aufgetretenen Nachteilen unter besonderer Berücksichtigung des Patientenwohls entschieden werden muss. Zwar muss nicht stets der sicherste therapeutische Weg gewählt werden. Es muss jedoch bei Anwendung einer derartigen Methode ein höheres Risiko für den Patienten in besonderem Maße eine sachliche Rechtfertigung in den Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose gefunden werden. Die hier geforderte Abwägung stellt keinen einmaligen Vorgang zu Beginn der Behandlung dar. Die Abwägung muss vielmehr jeweils erneut vorgenommen werden, sobald neue Erkenntnisse über mögliche Risiken und Nebenwirkungen vorliegen. Der Arzt muss sich durch unverzügliche Kontrolluntersuchungen fortwährend auf dem Laufenden halten.

    1.3.6 Aufklärung

    Besondere Bedeutung kommt in all diesen Situationen der Aufklärung über das Für und Wider der gewählten Methode zu. So wird eine gesonderte Aufklärung bei der Anwendung einer Außenseiter- oder einer noch nicht allgemein eingeführten Neulandmethode mit möglichen neuen, noch nicht abschließend geklärten Risiken verlangt (BGH NJW 2006, 2477 f.; OLG Frankfurt NJW‑RR 2005, 173/175; OLG Bremen GesR 2004, 238). Die Anwendung des computergestützten Fräsverfahrens („Robodoc") am koxalen Femur bei der Implantation einer Hüftgelenksendoprothese verlangt, dass der Patient über diese Tatsache sowie die Vor- und Nachteile dieser Methode und alternativ über das herkömmliche manuelle Verfahren aufgeklärt wird (BGH VersR 2006, 1073/1075).

    Wird von einer anerkannten Standardmethode abgewichen, um eine relativ neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit neuen noch nicht abschließend geklärten Risiken anzuwenden, muss der Patient auch darauf hingewiesen werden, dass unbekannte Risiken derzeit nicht auszuschließen sind (BGH NJW 2006, 2477 f.).

    Eine solche gesteigerte Aufklärungspflicht besteht auch bei der beabsichtigten Anwendung eines speziellen Prostata-Laser-Verfahrens in zwei Operationsschritten, das sich zum Zeitpunkt des Eingriffs noch nicht etabliert hatte (OLG Bremen GesR 2004, 238). Wenn in der medizinischen Wissenschaft ernsthafte Veröffentlichungen bekannt sind, die man nicht als unbeachtliche Außenseitermeinung abtun kann, die sich gegen neue, noch nicht allgemein eingeführte oder gegen bestimmte, bislang übliche Operations- oder Behandlungsmethoden gewichtige Bedenken äußern, muss der Patient auch hierüber aufgeklärt werden (BGH VersR 2006, 1073; BGH NJW 1996, 776).

    1.3.7 Dokumentation

    Jeder ärztliche Eingriff bedarf zu seiner Rechtfertigung der wirksamen Einwilligung des Patienten. Diese Einwilligung kann ein Patient nur geben, wenn er ausreichend aufgeklärt worden ist. Die Beweislast für das Vorliegen einer wirksamen Einwilligung in den beabsichtigten Eingriff und der zuvor ordnungsgemäß durchgeführten Aufklärung trägt der Arzt (BGH VersR 2006, 838 f.). Um dieser Beweislast zu genügen, kann die Dokumentationspflicht nicht hoch genug bewertet werden.

    Die beste und umfangreichste Aufklärung hilft nichts, wenn sie nicht bewiesen werden kann. Zwar besteht die Möglichkeit, eine Aufklärung auch durch Zeugenaussagen zu beweisen. Hierbei handelt es sich jedoch um das am wenigsten zuverlässige Beweismittel, da Zeugen sich oft verständlicherweise an lang zurückliegende Geschehnisse nicht mehr erinnern können. Dies gilt umso mehr, wenn sie routinemäßig mehrfach am Tag durchgeführt werden. Zwar ist anerkannt, dass in solchen Fällen auch darauf zurückgegriffen werden kann, dass regelmäßig in der geforderten Form Patienten aufgeklärt werden (OLG Celle VersR 2004, 384 f.; OLG Hamm GesR 2005, 401), doch ist es bei einem Abweichen vom Standard überaus riskant, sich auf diese Art der Beweisführung zu beschränken. Die Anforderungen der Rechtsprechung an die Aufklärung in diesen Fällen ist sehr hoch, sodass jeder, der vom Standard abweicht, sowohl seine Beweggründe hierfür als auch das Aufklärungsgespräch umfangreich dokumentieren muss.

    1.3.8 Fazit

    Ein Abweichen vom Standard ist nicht per se als Behandlungsfehler anzusehen. Allerdings muss gewährleistet sein, dass der Standard nicht unterschritten wird. Der Patient hat einen Anspruch auf standardgemäße Behandlung. Verlangt eine konkrete Situation ein Abweichen vom Standard, muss der Patient hierüber umfassend aufgeklärt und über das Für und Wider der Methode informiert werden. Der Patient muss die Risiken und die Gefahren eines Misserfolges des beabsichtigten Eingriffs kennen. Er muss darüber informiert werden, dass der geplante Eingriff nicht medizinischer Standard ist und seine Wirksamkeit noch nicht abgesichert wurde. Der Patient muss abwägen können, ob er die Risiken einer eventuell nur relativ indizierten Behandlung und deren Erfolgsaussichten im Hinblick auf seine Befindlichkeit vor dem Eingriff eingehen will.

    Unabdingbar ist eine ausreichende Dokumentation sowohl der Abwägung des Arztes, die zum Abweichen vom Standard geführt hat, sowie das umfassende Aufklärungsgespräch mit dem Patienten.

    1.4 Klagen und Gutachten

    A. Thiede⁶  und H.J. Zimmermann⁷ 

    Der sog. medizinische Behandlungsfehler steht bei den meisten juristischen Auseinandersetzungen nicht im Vordergrund und ist eher selten der Grund für rechtliche Auseinandersetzungen (10–25 %). Dies beruht zum Teil auch darauf, dass der Patient (Kläger) ein kunstfehlerhaftes Vorgehen bzw. eine Sorgfaltspflichtverletzung nachweisen muss, was vielfach nicht möglich ist. Heberer et al. (2011) haben in dem Artikel „Allgemeine Verhaltensregeln zur Vermeidung von Behandlungsfehlern" eine Systematik von Gründen für Rechtsauseinandersetzungen vorgelegt, die folgende Einzelpunkte beinhalten:

    1.

    ärztlicher Sorgfaltsmaßstab und ärztlicher Standard

    2.

    Diagnostik

    3.

    Prophylaxe/Prävention

    4.

    Aufklärung

    5.

    rechtliche Anforderung an die ärztliche Dokumentation

    6.

    gerichtlich bestellte Gutachten, Privatgutachten, Gutachterauswahl

    7.

    Verfahrenswahl

    a)

    Laparoskopie versus Laparatomie

    b)

    Trokarverletzungen, Beispiele.

    Diese Punkte sind jeweils auch auf die einzelnen Kapitel anzuwenden (2–11), wobei der Schwerpunkt der Beispiele auf operationstechnische Fehler und das Komplikationsmanagement ausgerichtet ist.

    1.4.1 Ärztlicher Sorgfaltsmaßstab und ärztlicher Standard

    Es ist erforderlich, die zum entsprechenden Behandlungszeitpunkt gebotene Sorgfalt aufzuwenden, und die Therapievorschläge und Maßnahmen entsprechend dem Stand der Wissenschaft umzusetzen.

    Richtlinien , Leitlinien oder Empfehlungen ärztlicher Fachgesellschaften sind zwar hilfreich und haben praktische Bedeutung, jedoch ohne den Charakter und die Wertigkeit von Rechtsquellen. Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen, Vereinbarungen unterliegen dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft und sind daher dem entsprechenden Zeitraum angepasst und nur für diesen anwendbar, d. h. eine Leitlinie von 2013 hat nicht unbedingt wegweisenden Charakter für die Bewertung von medizinischen Abläufen z. B. von 2001 und umgekehrt. Das ist vor allem in der Onkochirurgie zu beachten. Die Wahl der Behandlungsmethode ist primär die Sache des behandelnden Arztes. Nur bei Gleichwertigkeit alternativer Behandlungsmethoden ist der Patient unbedingt in die Entscheidung einzubinden.

    1.4.2 Diagnostik

    Man muss zwischen einem Befunderhebungsfehler und einem Diagnoseirrtum unterscheiden.

    Beim Befunderhebungsfehler werden elementare Befunde nicht erhoben (Anamnese, Untersuchung, Befundbewertung). Ärztlich nicht nachvollziehbare Defizite können rechtlich zu einer Beweislastumkehr zu Lasten der Behandlerseite führen.

    Unter einem Diagnosefehler versteht man eine Fehlinterpretation exakt erhobener Befunde. Aufgrund der unterschiedlichen Symptomatologie vieler Erkrankungen kann dies häufig nicht als vorwerfbares Fehlverhalten eines Arztes bezeichnet werden. Nur bei einem fundamentalen Irrtum des Behandlers ist hier ein Behandlungsfehler (einfach oder grob) anzuerkennen (z. B. ein übersehenes ausgetretenes Kontrastmittel im Rahmen einer bildgebenden Untersuchung – MDP mit wasserlöslichem Kontrastmittel oder CT mit oraler Kontrastmittelgabe – bei Magenperforation).

    1.4.3 Prophylaxe /Prävention

    Darunter verstehen wir die Verhinderung von meistens vermeidbaren Komplikationen wie Lagerungsschäden bei unsachgemäßer Operationslagerung, zu langer Operation in einer bestimmten Lagerung ohne Lagerungskontrollen bzw. ‑wechsel, Dekubitus bei unzureichenden Pflegemaßnahmen bei zumeist vollbettlägerigen Patienten, venöse Thromboembolieentstehung bei unzureichenden oder nicht angepassten Thromboseprophylaxemaßnahmen sowie Infektionen bei Hygienefehlern.

    Daher muss im Einzelfall genau geprüft werden, ob tatsächlich vermeidbare Fehler der Ärzte oder des Pflegepersonals vorliegen oder ob patienteneigene disponierende Faktoren die volle Beherrschbarkeit einschränken oder aufheben.

    Dies lässt sich am Beispiel von postoperativen Infektionen kurz erläutern: Nosokomiale oder Krankenhausinfektionen sind wegen der zusätzlich notwendigen Behandlung, Schmerzen und Verlängerung der Krankenhausverweildauer für den Patienten sehr unangenehm und für den Kostenträger kostspielig. Die Ursachenermittlung ist häufig sehr schwierig. Wir unterscheiden zwischen endogenen und exogenen Infektionen. Endogene Infektionen kommen durch Mikroorganismen aus der körpereigenen Flora zustande, die auf Haut und Schleimhäuten normalerweise vorhanden sind. Zu solchen Kontaminationen und nachfolgenden Infektionen kann es bei jeder invasiven Behandlungsmaßnahme kommen. Diese Infektionen werden als sekundär endogene Infektionen bezeichnet und treten bei längerer Krankenhausbehandlung besonders bei multimorbiden bzw. immungeschwächten Patienten auf. Sehr unangenehm ist die Entwicklung bzw. das Auftreten von multiresistenten Erregern (z. B. MRSA), die häufig nach längerer Breitbandantibiotikagabe nachweisbar werden.

    Bei direkter Übertragung der Erreger aus der Umwelt oder von anderen Personen sprechen wir von exogenen nosokomialen Kontaminationen/Infektionen. Diese lassen sich generell vermeiden, die endogenen Infektionen dagegen nicht. Exogene nosokomiale Infektionsketten sind eventuell molekularbiologisch zu ermitteln. In der Viszeralchirurgie lassen sich bei kontaminierten Operationen endogene Wundinfektionen nicht immer vermeiden. Die Rate an Infektionen steigt jedoch durch medizinische Fehler, Fehler bei der Pflege oder nicht voll ausgeschöpfte Maßnahmen zur Infektprävention an.

    Natürlich haben medizinische Fehler, Fehler der Pflege und nicht voll ausgeschöpfte Maßnahmen zur Infektprävention einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung exogen bedingter Wundinfektionen. Zum geringeren Teil haben diese Maßnahmen aber auch Einfluss auf die Rate an endogenen Infektionen. Wichtige Parameter zur Infektprophylaxe sind Hygienestandards, die Beschäftigung von Hygienepersonal, das Vorhandensein einer Hygienekommission und die Überwachung von Prophylaxemaßnahmen sowie perioperativer Antibiotikaprophylaxe, Haarentfernung, präoperativer Hautdesinfektion, chirurgischer Händedesinfektion, Desinfektion und Sterilisation des OP‑Instrumentariums sowie die Funktionskontrolle der raumlufttechnischen Anlagen im OP‑Saal.

    1.4.4 Aufklärung

    Die Aufklärung des Patienten vor invasiven Maßnahmen sollte umso intensiver gestaltet und dokumentiert werden, je weniger dringlich die ins Auge gefasste Maßnahme ist, um dem grundgesetzlich verankerten Selbstbestimmungsrecht des Patienten gerecht zu werden. Bei fehlender und fehlerhafter Aufklärung ist rechtlich von einer Körperverletzung auszugehen.

    Die Aufklärung muss folgende Punkte umfassen und heute möglichst unter Verwendung von spezifischen Formularen dokumentiert werden mitsamt Unterschrift des Arztes und des Patienten sowie der Angabe von Uhrzeit und Datum. Die Beweislast für eine korrekte und zeitgerechte Aufklärung liegt beim behandelnden Arzt. Die Aufklärung muss folgende Punkte abdecken:

    1.

    Diagnose

    2.

    Behandlungsmöglichkeiten und Operationsinformationen im Wesentlichen ohne Überfrachtung und technische Details, aber im Hinblick auf eine eventuell intraoperativ erforderliche Erweiterung

    3.

    Risikodarstellung mit Komplikationsmanagement

    4.

    Nachbehandlung

    5.

    alternative gleichwertige Methoden

    6.

    eventuell Prognosedarstellung bei begründetem Erfordernis.

    Das Aufklärungsgespräch führt ein Arzt des Behandlungsteams und am besten natürlich der Operateur selbst. Der Operateur muss in jedem Fall persönlich die erfolgte Durchführung kontrollieren. Der Aufklärungsumfang ist umso größer, je weniger dringlich die Operation ist. Je schwerwiegender die Folgen einer invasiven Maßnahme sein können, desto eher muss auch über Risiken mit geringerer Wahrscheinlichkeit aufgeklärt werden. Ein Aufklärungsverzicht sollte unbedingt dokumentiert sein.

    Die Aufklärung sollte möglichst so frühzeitig erfolgen, dass der Patient von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen kann, d. h. in der Viszeralchirurgie mindestens einen Tag vor der Operation. Der Arzt ist für eine ausreichende und vom Patienten verstandene Aufklärung beweispflichtig.

    1.4.5 Rechtliche Anforderung an die ärztliche Dokumentation

    Die Anforderungen an die Dokumentation sind in den letzten Jahren eindeutig gestiegen. Viele Gerichte gehen heute davon aus, dass nicht stattgefunden hat, was nicht schriftlich dokumentiert ist. Gravierende Dokumentationsmängel können zu einer Beweislastumkehr führen. Die Dokumentation dient der Information des am Behandlungsprozess beteiligten medizinischen Personals und der medizinischen Nachvollziehbarkeit. Sie dient primär nicht der rechtlichen Auseinandersetzung, ist aber natürlich zur Beweissicherung heranzuziehen. Sie weist die Wertigkeit von Dokumenten auf und wird außerdem zu Abrechnungszwecken verwendet.

    Inhaltlich werden dabei die Anamnese, Beschwerden, Diagnostik, Behandlung und Ergebnis sowie weitere Maßnahmen besonders in der Onkologie ggf. die Empfehlung der interdisziplinären Tumorsprechstunde schriftlich niedergelegt.

    Wie Heberer und Bauch (2011) hervorheben, werden von der Rechtsprechung in der OP-Dokumentation folgende Inhalte gefordert:

    a)

    sämtliche auch routinemäßige Schritte beim selbstständigen Operieren eines sich noch in der Facharztausbildung befindlichen Arztes

    b)

    Angabe der vom Operateur gewählten Operationsmethode

    c)

    Gründe für das Abweichen von einer herkömmlichen Operationsmethode

    d)

    Status beim Wechsel des Operateurs

    e)

    Befunde während des Operationsverlaufes.

    Stichwortartige Dokumentationen sind zulässig, für Nachbehandler muss die Information dabei nachvollziehbar sein. Mit zunehmender Dokumentationssorgfalt steigt der Beweiswert. Die Dokumentation muss zeitnah (!) vorgenommen werden, so z. B. der OP‑Bericht am OP‑Tag selbst oder am Tag danach. Werden OP‑Berichte erst Wochen oder Monate nach der eigentlichen Maßnahme diktiert, so besteht die Gefahr, dass der Dokumentation ein verminderter oder gar kein Beweiswert hinsichtlich der durchgeführten ärztlichen Maßnahme zukommt.

    Änderungen in der Dokumentation müssen kenntlich gemacht werden. Derjenige, der eine Änderung einer Dokumentation vornimmt, muss dies mit lesbarem Namen, Angabe des Grundes und Vermerk des Zeitpunktes kenntlich machen.

    Ein in Klagen und Gerichtsverfahren gelegentlich angeführtes „Übernahmeverschulden " trifft nicht auf die in den Kapiteln dieses Buches angegebenen Operationen zu. Diese Klagen richten sich gegen die Verwaltung und gehören zum Thema Organisationsverschulden , d. h. die Übernahme von Behandlungen ohne ausreichende personelle oder sächliche Ausstattung einer Institution (Praxis oder Klinik). Somit verzichten wir hier auf die weitere Erörterung dieses Themas.

    Grundsätzlich entstehen Klagen und Gerichtsverfahren bei Komplikationen und Unzufriedenheit mit dem Behandlungsergebnis. Diese können kurzfristig nach Stunden bis Tagen, mittelfristig nach Tagen bis Wochen und langfristig nach Wochen bis Monaten/Jahren auftreten. Die Klagen können sich aber auch auf das eventuell unzureichende Komplikationsmanagement beziehen.

    Bei kurzfristig auftretenden Komplikationen sollte immer an OP‑technisch bedingte Komplikationen gedacht werden, welche dann dringend abgeklärt bzw. ausgeschlossen werden müssen. Bei mittelfristigen Komplikationen stehen häufig OP‑strategische Fehler oder schicksalshaft bedingte Komplikationen im Vordergrund. Spät oder langfristig auftretende Komplikationen geben selten Anlass zu Klagen, die Ursachen können vielfältig sein. Operationstechnisch bedingte langfristig auftretende Komplikationen sind die Ausnahme.

    1.4.6 Gerichtliche bestellte Gutachten, Privatgutachten, Gutachterauswahl

    Von Gerichten werden meistens Spezialisten als Gutachter aus dem Spezialgebiet des Beklagten gewählt. Prinzipiell können beide Gutachter von gleicher Gutachterqualität sein, wenn sie sehr erfahren und in der Fachrichtung spezialisiert sind. Die Gerichtsgutachter sind grundsätzlich haftbar für ihre Aussagen und müssen nach bestem Wissen und Gewissen ihre Begutachtung anfertigen und abgeben. Dies gilt sowohl aus der Sicht der Kläger wie auch der Beklagtenseite und des Gerichts.

    Bewusste Fehlgutachten von Gerichtsgutachtern werden bei Nachweis bestraft mit Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahr. Das Privatgutachten kann die gleiche medizinische Wertigkeit aufweisen wie das eines vom Gericht bestellten Gutachters. Der Unterschied liegt in der Haftung. Der Privatgutachter haftet nur gegenüber dem Auftraggeber.

    1.4.7 Verfahrenswahl

    Laparotomie versus Laparoskopie

    Der Patient muss darüber aufgeklärt sein, dass bei jeder sozusagen erwünschten laparoskopischen Operation eine Konversion erforderlich werden kann. Prinzipiell werden die laparoskopischen Operationen im Abdomen in gleicher Weise wie bei offenem Zugangsweg durchgeführt. Die intraoperative Übersicht ist anders, häufig sogar besser. Die postoperative Kosmetik ist als besonderer Vorteil zu werten. Die Präparationsmöglichkeit mit dem Vorteil einer verbesserten Präzision (z. B. präsakrale Nervenplexus, Nn. vagi) und einer subtileren Blutstillung und verfeinerten Identifikation z. B. von Nerven und Gangstrukturen (z. B. Gallenwege und Gefäße).

    Durch die präzisere Operation sinkt das intraoperative Trauma mit beschleunigter postoperativer Rekonvaleszenz, vermindertem Schmerzmittelbedarf, beschleunigter Mobilisierung, verkürzter Krankenhausverweildauer und früherer Integration in den Arbeitsprozess. Der gesteigerte Patientenkomfort geht mit einer Abnahme der sozialen Kosten einher.

    Diesen positiven Faktoren sind jedoch auch einige negativen Faktoren gegenüberzustellen:

    Die generelle Übersicht zu Beginn und am Ende der Operation nach Einsatz bzw. vor Entfernung des Optiktrokars ist gegenüber offenen Operationen vermindert und muss gesondert beachtet werden. Die Schlüssellochmethode ist zwar bei abdominalen Reoperationen (Cave Verwachsungen)

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