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Ausgerechnet Luise!: Ein amüsanter Familienroman mit einigen Überraschungen
Ausgerechnet Luise!: Ein amüsanter Familienroman mit einigen Überraschungen
Ausgerechnet Luise!: Ein amüsanter Familienroman mit einigen Überraschungen
eBook441 Seiten6 Stunden

Ausgerechnet Luise!: Ein amüsanter Familienroman mit einigen Überraschungen

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Über dieses E-Book

Die lesbische Alice ist nicht begeistert über den Brandbrief ihrer betonkatholischen Cousine Luise: Die hat Arbeit und Bleibe als Pfarrershaushälterin verloren und bittet um vorübergehenden Unterschlupf. Als einzige Verwandte fühlt sich Alice moralisch verpflichtet, ihre Cousine trotz über 20 Jahren Sendepause aufzunehmen. Die moralinsaure Luise kommt - und zwar mit einigen Geheimnissen im Gepäck...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum31. Mai 2022
ISBN9783756280315
Ausgerechnet Luise!: Ein amüsanter Familienroman mit einigen Überraschungen
Autor

Rena K. Wendell

Rena K. Wendell Jahrgang 1959, geboren und lebend in München Bei Rena K. Wendell spielen Frauen die Hauptrollen. Schreibt sie also die gerne abschätzig belächelte 'Frauenliteratur'? Was auch immer damit gemeint sein soll. Nein, die Autorin schreibt einfach Geschichten, in denen viel Gefühl, Witz, Ironie und Tiefgründiges stecken. Sie versetzt sich in die Charaktere der AkteurInnen ihrer Romane empathisch hinein und nimmt die LeserInnen mit, dasselbe zu tun. Sprachlich virtuos und fein justiert lädt Rena K. Wendell ihre LeserInnen ein zum Mitfreuen, Mitleiden, Mitärgern, Mitlachen - zum Leben eben.

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    Buchvorschau

    Ausgerechnet Luise! - Rena K. Wendell

    Inhaltsverzeichnis

    PROLOG

    I. Kapitel

    II. Kapitel

    III. Kapitel

    IV. Kapitel

    V. Kapitel

    VI. Kapitel

    VII. Kapitel

    VIII. Kapitel

    IX. Kapitel

    X. Kapitel

    PROLOG

    Heute roch es besonders intensiv, dieses Gemisch aus Weihrauch und der Modrigkeit des alten Pfarrhauses, das Luise seit über siebzehn Jahren umgab. Luise legte ihren schwarzen Hut auf der Garderobe ab, hängte die schwarze Kostümjacke auf einen Bügel, wechselte von ihren schwarzen Halbschuhen in die Filzpantoffel und ging zum Zimmer des Pfarrers, öffnete die Tür. Sie brauchte nicht mehr anzuklopfen: Der Hirte des kleinen niederbayerischen Ortes Banklkofen war vor zwei Stunden zu Grabe getragen worden. Gut über siebzig war er gewesen und nicht mehr gesund; sein Ende war nicht überraschend gekommen.

    Luise zupfte die Tagesdecke des frisch bezogenen Bettes ein letztes Mal zurecht und ging dann in ihre Kammer; ein Koffer stand offen, halbfertig gepackt neben dem Bett. Luises Tage hier waren gezählt; mit achtundfünfzig war sie arbeitslos und bald auch ohne Bleibe. Sie holte Briefpapier aus der Schublade ihres Tisches; ohne Denkpause füllte sich Zeile um Zeile. Luise faltete ihren Brief zusammen, steckte ihn in ein Kuvert, klebte es zu. Schrieb eine Empfängeradresse darauf. Die hübsche Briefmarke mit dem Vogel des Jahres machte ihre wichtige Post versandfertig. Sogleich zog Luise ihre schwarzen Halbschuhe und ihre schwarze Kostümjacke wieder an, um ihr Schreiben in den einzigen Briefkasten Banklkofens zu werfen.

    Die Türklinke in der Hand stutzte die Haushälterin außer Dienst und atmete ein paar Mal tief ein: Ja, es roch auf einmal anders: heller, frischer...

    I.

    »Maurice, das ist das zweite Mal in dieser Woche, dass du zu spät zu einem Casting gekommen bist! Der Kunde ist stinksauer, und da hat er voll Recht! Und frag mich lieber nicht, wie ich gerade drauf bin!«

    Auf Alices Wangen blühten Wutpusteln. Auch mit fünfzig Jahren konnte sie sich noch herrlich aufregen, schließlich hatte sie einen Ruf zu verlieren. Ihre Münchner Male Model-Agentur »Aliban« war in zwanzig Jahren zu einer ersten Adresse geworden. Auch wenn sie Anfängern mit Potential immer eine Chance gab und sie förderte: Wen Alice durch ihre harte Schule geschickt hatte, von dem erwartete sie bedingungslose Disziplin und Professionalität. Auch von ihrem aufkommenden Topmodel Maurice, einem bildschönen Marokkaner mit Starallüren. Jetzt schon, als Anfänger.

    Eine Strähne ihres blondierten Pagenkopfs zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelnd drehte sich Alice auf ihrem Ledersessel zum Fenster. Die jetzt, Mitte April, üppige rosa Blütensymphonie der Kirschbäume in der Schwabinger Görresstraße stimmte sie nicht milder:

    »Du hast morgen, Samstag, einen weiteren Termin in Hamburg. Und ich rate dir dringend, pünktlich zu sein. Ich meine das ernst. Und rufe mich sofort an, wie es gelaufen ist. - Ja, dann ist es ja gut.«

    Das Smartphone landete unsanft auf dem altertümlichen Schreibtisch, der eher in eine altehrwürdige Anwaltskanzlei gepasst hätte. Alice schwang ihre neunzig Kilo aus dem Ledersessel und begutachtete Bewerbungsfotos auf der Magnettafel an der gegenüberliegenden Wand. In ein paar Minuten, ab eins würden im Viertelstundentakt zehn hoffnungsvolle Talente, die zweiwöchentliche Vorauswahl aus ständig eingehenden Bewerbungen, zum »Vorturnen« erscheinen. Die Kandidaten, die über ihren Scout Mischa den Weg zu ihr fanden, liefen gesondert.

    »Tommy!« rief Alice durch die offenstehende Tür. »Ist im Castingraum alles klar?«

    »Jaha, alles paletti!« rief ihre Perle von Assistent aus seinem ebenfalls offenen Büro und drückte im nächsten Moment den Türöffner auf seinem Schreibtisch. Es ging los.

    Gute drei Stunden später stand Alice mit Tommy wieder an der Magnettafel, drückte ihm fünf Fotos junger Männer in die Hand, die zumindest bei ihr doch keine Chance hatten. Über den verbleibenden fünf sinnierte sie:

    »Hm, der hier war echt gut.«

    »Ja, schon. Aber für den Laufsteg ist er definitiv zu klein«, gab Tommy zu bedenken.

    »Editorials also«, meinte Alice. »Brauchen wir da jemand?«

    Bevor Tommy antworten konnte, läutete das Smartphone von Alice. Im nächsten Augenblick wandelte sich die coole Geschäftsfrau in eine Turteltaube und Tommy ließ sie allein:

    »Hi, Topolina. Ah, ist das schön, dich zu hören.«

    Nach über dreizehn Jahren flitterte durch die Beziehung von Alice und Karola immer noch Verliebtheit und Vorfreude auf einander. Die walkürenhafte, laute Alice und die fünf Jahre jüngere, etwas leisere Karola verband keine Liebe auf den ersten Blick. Erst nach dem zweiten und dritten war der Funke übergesprungen, als sie festgestellt hatten, dass sie wie Eiweiß und Dotter zusammenpassten.

    »Wie war das Casting? Hast du dir wieder ein paar fesche Jungs geschnappt?« fragte Karola.

    »Ja, drei werden es wohl werden«, sagte Alice und zündete sich eine Zigarette an. »Und bei dir? Ein paar neue Damen?«

    Karola betrieb seit zehn Jahren einen Escortservice für lesbische Frauen. Ihre Eltern und ihr gesamter Freundeskreis hatten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wie sie ihren gut dotierten Job als Grafikdesignerin in einer Werbeagentur und das kurz bevorstehende Angebot, als Partnerin aufgenommen zu werden, für diese Schnapsidee aufgeben konnte! Und manche »Freunde« waren durch eine Metamorphose gegangen hin zu Bekannten und schließlich zu Verschollenen. Jene, die mit einer »Zuhälterin« nichts zu tun haben wollten, Mama und Papa eingeschlossen. Alice dagegen war angetan gewesen von der Idee; hatte ein gutes Geschäft in einem nur scheinbaren Nischenmarkt gewittert. Und Recht behalten.

    »Hm, jaa«, schwärmte Karola, »eine ganz Besondere: hoch gebildet, niveauvoll, sie hat einfach Stil und Klasse.«

    »Ja, und einen Traumkörper, Pfirsichhaut«, ergänzte Alice ironisch. Sie ließ sich auch dieses Mal nicht eifersüchtig machen. Obwohl es manchmal in einer verschwiegenen Ecke in ihr ein wenig piekste, ihre Freundin in ständigem Kontakt mit vielen attraktiven Frauen zu wissen. Aber sie konnte vertrauen. »Und blutjung.«

    »Sie wird bald sechzig«, beruhigte Karola.

    »Und du hast Kundinnen für sie?«, fragte Alice erstaunt.

    »Klar. Intellektuell anspruchsvolle Frauen zum Beispiel, die ihren Abend nicht mit einer Frau verbringen möchten, die Syphilis nicht von Sisyphos unterscheiden kann.«

    Alices Lachen dröhnte durch die offenen Bürofenster: »Oder die Aids für eine Hilfsorganisation hält.«

    »Oder so. Hihi! - So, was ganz anderes: Ich möchte heute nicht mehr allzu lange im Büro hocken, es ist so ein schöner Tag. Chinesisch essen daheim so um fünf?«

    »Gute Idee. Ich hab heute auch keinen Bock mehr. Ich sagen nur: Maurice«, schnaufte Alice durch und wischte eine kleine Säule Zigarettenasche von ihrem Oberschenkel; eine graue Spur krallte sich in sandfarbener Baumwolle fest. »Essen besorge ich im Bao. Dann bis gleich, Topolina.«

    »Bis gleich, Mümmelchen.«

    Ein paar Abschiedsküsse schnalzten über die Sendemasten. Alice erledigte noch ein paar Telefonate, packte dann das Rauchzeug in ihre Umhängetasche und schaute beim Hinausgehen nur kurz auf die fünf gut aussehenden Männerporträts an der Tafel. Die hatten auch noch Zeit bis Montag. Der Assistent konnte sich dagegen jetzt schon über eine gute Nachricht freuen:

    »Lass uns Feierabend machen.«

    Aber Tommy zögerte: »Äh, danke. Aber ich möchte noch die Abrechnungen für den letzten Monat machen. Und nachdem es heute relativ ruhig ist...«

    Alice lächelte in sich hinein: Sie hatte nicht nur für Models ein zielsicheres Gespür. Ihr 32-jähriger Assistent war in vier Jahren eine verlässliche Stütze im Backoffice geworden, eine Allround-Begabung bis hin zu einer therapeutischen, wenn er manch abgewiesenen Bewerber im Flur seelisch wieder aufrichtete.

    »Wie du meinst. Aber am Montag möchte ich dich vor eins hier nicht sehen. Okay?«

    Eine Viertelstunde später verkürzte sich Alice mit Espresso und Zigarette beim Stamm-Chinesen um die Ecke die Wartezeit für das Menü für zwei. Mehr musste sie nicht sagen: Der Wirt, Bao, kannte die Wünsche seiner Stammgästinnen.

    Mit einer großen, duftenden Tüte marschierte Alice zurück in die Görresstraße: ihr Ladenbüro lag im Parterre, ihre geräumige Altbauwohnung im dritten Stock. Und wenn die Renovierung des ehemaligen Kurzwarengeschäfts zwei Hausnummern daneben keine weitere Katastrophe ereilte, würde ihre Freundin nächste Woche mit ihrem Escortservice vom hintersten Mittersendling in das weit repräsentativere, dafür etwas teurere Schwabing umziehen.

    Kaum hatte Alice die ersten Schritte auf dem knarzenden Parkett im Flur getan, eilte Karola aus der Wohnküche und schmatzte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange, nahm die Essenstüte:

    »Ja, ich bin schon da. Tisch ist fertig gedeckt, Jasmintee ist gleich durchgezogen. Und ich hab noch eine Überraschung.« Wie ein schelmischer Troll tänzelte sie davon.

    Alice erschien kurz danach im bequemen Seidenjogging in der Küche und setzte sich freudig lächelnd an den wuchtigen Fichtenholztisch; es duftete verführend. Auf zwei Rechauds reihten sich weiße Porzellanschalen mit Löffeln darin; die Essensschalen standen auf Tischsets aus Bambus – Gabel und Löffel für Alice, Stäbchen für Karola; Servietten passend in beige. Und natürlich fehlten auch nicht ein paar Teelichter, die heute zwischen ein paar Zweigen Goldregen leuchteten. Karola hatte die Gabe, selbst eine schnelle, gemeinsame Tasse Espresso nicht einfach hinzustellen, sondern zu zelebrieren.

    Auch nach dreizehn Jahren lobte Alice die Ästhetin in ihrer Partnerschaft: »Du hast das wieder so schön gemacht!« Sie klatschte in die Hände. »Mmh, selbst wenn ich keinen Hunger hätte...«

    »Was so gut wie nie vorkommt«, ergänzte die schlanke Karola augenzwinkernd und füllte Reis in die Schale ihrer Freundin, die zwei Löffel von der doppelt gebratenen Ente dazu gab. Jasmintee gluckerte in die stilgerechten Tassen. Sein blumiger Duft verband sich mit dem des Frühlings, der durch die offene Balkontüre hereinlächelte.

    Bei Huhn mit Paprika fragte Alice: »Du hast was von einer Überraschung gesagt.«

    Karola kaute, nickte und grinste gleichzeitig. Sie hob ihren Hintern ein wenig vom Stuhl, zog ein Metallschild hervor und hielt es hoch: »Ta-ta, Ta-ta! Das neue ‚Eve To Eve‘.«

    »Ah ja. - Ganz okay.«

    Das Ausbleiben der erwarteten Begeisterung verunsicherte Karola: »Wie jetzt? Findest du es nicht gut?« Sie betrachtete das Messingschild, eine stilsichere Mischung aus Eleganz und geschäftsmäßiger Nüchternheit. Die ungläubig aufgerissenen Rehaugen ihrer Liebsten ließen Alice keine Chance:

    »Ich wollte dich nur auf den Arm nehmen. Nein, ganz ehrlich: Es ist richtig gut. Perfekt.«

    Karola schnaufte auf: »Wie witzig du wieder bist! Ich hätte jetzt echt Lust, dir ein Essstäbchen zwischen die Rippen zu rammen.«

    Alice verteilte schmunzelnd eine Portion von etwas Rotbraunem mit grünen Kringeln und weißen Streifen auf den Rest Reis in ihrer Schale. »Und ich finde es herrlich, dass ich dich immer noch auf den Arm nehmen kann, und du merkst es nicht.«

    »Ja, die überraschenden Momente sind es, die eine Beziehung interessant und frisch halten«, philosophierte Karola und wartete zurückgelehnt auf den ersten Bissen ihrer Freundin.

    Alice hob zustimmend einen Daumen, die volle Gabel glitt in ihren Mund. Zunge und Gaumen jaulten auf. Alice schnappte nach Luft. Der Feuersturm trieb ihr Tränen in die Augen. Ein großer Schluck Jasmintee ließ den Quell der Qualen die Speiseröhre hinunter rutschen; Alice spürte sie zentimeterweise lodern.

    Karola reichte ihrer leidenden Liebsten die große Reisschale; Alice schaufelte einen gehäuften Esslöffel in sich hinein und stöhnte dankbar:

    »Ah, tut das gut!« Zwei weitere ließen das Feuer allmählich erlöschen. »Oh Gott, was war das denn?«, schniefte Alice.

    Karola tauschte die Essschalen aus und stellte ihrer Freundin zahmes Schwein mit Bambus hin. »Rind mit Zwiebeln. Mein scharfes Lieblingsgericht ist doch immer dabei.« Mit einem zuckersüßen Lächeln: »Ach, Mümmelchen, das tut mir jetzt echt leid. Ich dachte, du wolltest das mal probieren.«

    »Canaille!«, Alice durchschaute die Retourkutsche. »Eins zu eins, unentschieden. Noch«, drohte sie augenzwinkernd.

    Nur eine gute Portion Reis blieb übrig. Während Karola den Tisch abräumte, holte Alice die private Post von der Flurkommode. Das Abendessen war prinzipiell lesefreie Zone und Wichtiges oder Urlaubsgrüße und Einladungen trudelten ohnehin via E-Mail oder auf dem Smartphone ein. Den Stapel Kuverts, Probekataloge und Fachzeitschriften durchblätternd, kam Alice in die Küche zurück. Setzte sich an den Tisch und stutzte: Ein handbeschriebener Umschlag an sich war schon höchst ungewöhnlich, die Absenderadresse eine dicke Überraschung:

    »Das glaube ich jetzt nicht!«

    »Was? Was Schlimmes?« Karola zündete sich die erste ihrer zwei abendlichen Virginias an.

    »Das weiß ich noch nicht«, antwortete Alice. »Der Brief ist von Luise.«

    »Luise, Luise...« versuchte Karola den Namen zuzuordnen.

    Alice half ihr auf die Sprünge: »Meine Cousine mütterlicherseits. Katholischer Mädchenbund, katholischer Frauenverein, irgendwelche zwanzig Jahre in Tansania als Missionarin. Ich glaube, zuletzt war sie Haushälterin bei einem Pfarrer.«

    »Ach ja, genau: die Altarblüte!«, fiel es Karola wie Schuppen von den kleinen grauen Zellen. »Du bist doch mit ihr aufgewachsen, oder?«

    »Sechs verdammt lange Jahre. Nachdem meine Tante gestorben war, auch so eine Fromme, da war Luise sechzehn oder so, ich sieben, haben wir sie aufgenommen.« Alice lehnte sich zurück und kramte Blitzlichter aus ihrer Erinnerung hervor. Auch die aus jüngerer Zeit: Bis vor drei Jahren alle Jahre wieder eine Weihnachtskarte mit allen Varianten der berühmten betenden Hände. Das letzte Mal hatte sie ihre Cousine vor fast 25 Jahren gesehen als diese ein paar Tage aus Tansania zu Besuch bei Alices Eltern kam. Alices Miene verfinsterte sich, ihre Lippen pressten sich kräuselnd zusammen. Sie zwirbelte eine Haarsträhne.

    Karola kannte die Zeichen, holte aus dem Kühlschrank ein Weißbier und stellte es samt passendem Glas vor ihre Freundin. Mit einem leise dankenden Lächeln schenkte sich Alice ein.

    »Das ist schon manchmal ulkig, wie unterschiedlich Geschwister sein können«, sinnierte Karola. »Wenn ich da an deine Mom denke. Und an deinen Dad: So was von locker drauf und Leben und leben lassen. Schwul, lesbisch, schwarz, gelb, Buddha, Mohammed – alles okay. Ich find sie richtig klasse.«

    »Das sind sie, ja«, stimmte Alice zu. Ihre Eltern waren vor fünfzehn Jahren nach Kanada ausgewandert, da war die Mutter fünfundfünfzig gewesen. Lust auf Neues, auf eine Herausforderung, noch mal komplett von vorne anfangen. Mit einem bayerischen Restaurant- mittlerweile zwei - hatten sie den richtigen Riecher gehabt. Erst mit ihren jetzt siebzig war Mom ein bisschen leiser geworden und auch Alices Dad stand nicht mehr jeden Tag in der Küche. Die Läden liefen auch so hervorragend.

    Alice starrte das Kuvert an. Wie konnte man denn vor dem Brief einer Verwandten Angst haben? Mit einem unguten Gefühl riss Alice das Kuvert auf, faltete drei Bögen Papier auseinander und las vor:

    »Meine liebe, einzige Cousine, welche Wege uns dereinst auch getrennt haben mögen, immer bist du mir im Herzen geblieben. Gottes Wege sind ...« Alice verdrehte ihre Augen, überflog die nächsten Sätze in gestochen klarer Handschrift und las weiter: »Mir wurden zwei schwere Prüfungen auferlegt: Mein Dienstherr, Pater Dominian, dem ich über siebzehn Jahre den Haushalt geführt habe, ist vor ein paar Tagen von uns gegangen. Mit seinem Hinscheiden stehe ich nun da ohne Erwerb und bald auch ohne Bleibe. Und Gott hat mir als zweite die schwerste aller Prüfungen angedeihen lassen, denn nur er… «

    Alice murmelte die nächsten salbungsvollen Sätze mit genervten Augenbrauen im Schnelldurchlauf vor sich hin, drehte zur Rückseite. Karola hatte ihr Kinn in die Handflächen gestützt in weit größerer Neugier zu hören als ihre Freundin las.

    »… ein bösartiger Hirntumor entdeckt wurde, der nicht operiert werden kann. Anbei der Arztbericht.«

    Alice und Karola erschraken fast gleichzeitig: »Ach, du Scheiße!«

    Karola zog ihrer Freundin das letzte Blatt aus der Hand: »Das ist der Arztbericht, von einem Neurologen in Passau… Stimmt tatsächlich: inoperabel steht da. Therapiemöglichkeiten werden von der Patienten derzeit noch überdacht.«

    »… werde mich dem Ruf unseres Schöpfers beugen und keine Behandlung...« Alice schüttelte den Kopf: »Spinnt die?«

    »Vielleicht ist das schon eine Auswirkung des Tumors«, mutmaßte Karola. »Je nachdem, wo das Teil sitzt, kann sich die Persönlichkeit verändern.«

    »Oder sie ist zu den Zeugen Jehovas gewechselt. Das spräche allerdings für eine gewaltige Persönlichkeitsveränderung«, stimmte Alice zu und rief aus: »Oh, jetzt kommt es: Und so hoffe ich, dass meine Bitte nicht fehl getan ist und ich das halbe Jahr, das mir höchstens noch bleibt, in Ruhe und Frieden bei meiner großherzigen Verwandten verbringen darf.«

    »Sie will echt nach Toronto zu ihrer Tante, deiner Mom?« fragte Karola lachend.

    Alice lachte nicht: »Nein, sie will zu mir.«

    Zwei Kinnladen klappten herunter. Die beiden Frauen schauten sich ungläubig an.

    »… soll nicht zu deinem Schaden sein. Selbstverständlich komme ich für alle Unkosten auf«, las Alice weiter.

    Alice leerte ihr Bierglas, Karola zündete sich die für den Fernsehabend vorgesehene, zweite Virginia an. Schweigendes vor sich hin Brüten. Der sonst kaum hörbare Motor des Kühlschranks sprang an. Er dröhnte durch die Küche wie ein startender Düsenjet.

    Alice schnaufte durch, schaute noch mal auf den Absender von Luises Brief: »Banklkofen. Habe ich noch nie gehört. Neun-vierer-Postleitzahl: Das klingt nach niederbayerischem Outback.« Sie blätterte Luises Brief durch:

    »Da zu leben, ist wahrscheinlich wie Wachkoma, auch wenn man gesund ist.«

    »Und da hockt sie ganz allein und todkrank«, ergänzte Karola, die ahnte, was ihre Freundin umtrieb. Wenn sie ehrlich war: auch sie selbst. Sie stellte die entscheidende Frage: »Was machen wir?«

    Alice antwortete nicht, starrte auf die Tischplatte.

    »Ich meine, Platz hätten wir. Das Gästezimmer könnten wir noch ein bisschen aufhübschen«, überlegte Karola laut.

    »Zu dritt auf hundertfünfzig Quadratmetern zu leben, ist nicht das Problem. Wenn eine unserer Freundinnen oder Freunde aus welchen Gründen auch immer kurzzeitig ein Dach über dem Kopf braucht, ist das überhaupt kein Thema.« Alice schaute ihrer Freundin eindringlich in die Augen. »Aber es ist für ein halbes Jahr – und es ist Luise.«

    Karola ahnte: »Ein Alien auf der ganzen Linie.«

    Alice nickte. »Gleichzeitig fühle ich mich richtig beschissen, wenn ich sie abweise. Trotz allem, sie ist meine Cousine und todkrank und sie hat wirklich keine Verwandten mehr. Und Freunde bestimmt auch nicht.« Sie stand auf und tigerte in der Küche umher. »Aber wenn wir sie zu uns nehmen sollten...« Alice lachte auf. »So, wie wir leben, das bringt sie wahrscheinlich schon in einem Vierteljahr unter die Erde.«

    »Wieso? Wir leben doch ganz normal.«

    Alice zog die Augenbrauen hoch.

    Karola dämmerte es: »Oh, Luise weiß nicht, dass du lesbisch bist? Und von mir und überhaupt?«

    »Nein. Von mir jedenfalls nicht und von Mamma bestimmt auch nicht. Die war genauso froh wie ich, als Luise nach Afrika abgedüst ist. Die haben sicher keinen Kontakt mehr miteinander.«

    Es wurde kühl in der Küche; die Sonne verabschiedete sich aus dem Hinterhof mit immer längeren Schatten. Karola fröstelte in ihrer dünnen Baumwollbluse. Während sie die Balkontüre schloss, meinte sie lapidar: »Ja mei, da muss sie halt durch. Wenn ich irgendwo Unterschlupf bekomme, muss ich mich an meine Gastgeber anpassen. Und nicht umgekehrt.« Schulterzuckend setzte sie sich wieder zur ihrer Freundin.

    »In dem speziellen Fall wäre ich für einen Kompromiss«, schlug Alice vor.

    »Und wie soll der aussehen? Getrennte Schlafzimmer und Tischgebete, oder wie?«

    Alice konnte ihre Partnerin nur teilweise beruhigen: »Nein, das nicht. Aber halt nicht unbedingt rumknutschen vor ihr und so Sachen.«

    Karola verschränkte ihre Arme vor der Brust. Das konnte ja heiter werden! Durch ihr Hirn purzelten Vokabeln wie Nächstenliebe, Mitgefühl, Blut ist dicker als Wasser, freitags kein Fleisch, Selbstverleugnung, durch die Wohnung schleichender Weihrauchgeruch. Während sie in Gedanken eine Liste der Für und Wider zusammenstellte, gab Alice eine Entscheidungshilfe:

    »Ich sehe zwei Möglichkeiten, wenn wir Luise zu uns nehmen. Entweder wir ziehen unser Leben durch wie immer. Dann haben wir höchst wahrscheinlich ein Sauerampfergesicht und eine mit Bibelzitaten um sich werfende, alte Jungfer um uns. Oder wir machen auf ...«, Alice winkte mit angewidertem Gesicht ab: Sie lebte, wie sie lebte und sie lebte glücklich. Und wenn jemand nicht damit klar kam, war das sein Problem. »Nichts oder.« In Karolas erleichtert lächelndes Gesicht ergänzte sie: »Aber eines ist klar: Ein Alien wird bei uns einziehen. Wenn du einverstanden bist. Du hast das letzte Wort. Aber das müssen wir nicht heute entscheiden.«

    Karola stützte ihr Kinn in die Hände, lehnte sich wieder zurück, suchte nach den passenden Worten: »Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, aber was ist, wenn sie nach einem halben Jahr nicht … also länger… Ich wünsche es ihr wirklich, aber ...«

    Ein ähnlicher Gedanke war auch in Alice schon spazieren gegangen: »Wenn ich Luise zusage, dann nur mit der klaren Ansage, dass wir auskommen müssen miteinander.

    Dass das Zusammenleben klappt. Wenn nicht, muss sie sich eine andere Bleibe suchen.«

    »Was in München weiß Gott nicht einfach ist«, wand Karola ein. »Fettes Krankengeld wird sie bestimmt nicht bekommen.« Die Lösung ihrer Freundin war nicht wirklich eine.

    Aber Alice wusste mehr: »Sie hat von Tante Hedwig so um die sechzigtausend Euro geerbt. Wenn Luise die Kohle nicht zur Bekämpfung des Hungers in der Welt gespendet hat oder für eine goldbestickte Tagesdecke für den Papst, sehe ich da kein Problem.«

    Karolas Augenbrauen hüpften vor Überraschung hoch. »Ja dann – okay. Machen wir es.«

    »Echt?« Alice stand auf und ging zu ihrer Liebsten, knuddelte sie: »Danke.« Als sie die Ohrläppchen ihrer Freundin zu lecken begann, zog Karola in Vergnügen quietschend den Kopf ein:

    »Hihi! - Du willst ein paar Punkte sammeln für oben! Gibs zu! Unsere große Atheistin!«

    »Agnostikerin«, korrigierte Alice und umschlang ihre Freundin. »Und gelernte Versicherungskauffrau: Auf Nummer sicher gehen. Außerdem hoffe ich auf eine Göttin da oben. Obwohl«, Alice zog Karolas Gesicht zu ihrem und hauchte: »ich habe ja schon eine hier bei mir.«

    »Dann schlage ich vor … Mmh … du huldigst mir …«, seufzte Karola zwischen dem Kusskonzert ihrer Freundin, »erst unter der Dusche und dann in unserem frisch bezogenen Seide-Altar der Lüste.« Sie stand auf und lockte im Türrahmen: »Du darfst mir auffällig folgen.«

    Alice folgte ihrer Freundin. Trappste ihr auf dem Flur nach mit angewinkelten Armen und nach unten gekippten Handgelenken wie der Zeichentrickkater Sylvester, wenn er etwas im Schilde führte. Es war so herrlich, ab und zu albern zu sein! Und um den Faktor zwei herrlicher, es mit der Partnerin sein zu können.

    Kichernd, küssend, sich gegenseitig einseifend standen die beiden Frauen unter der sich warm und trotzdem erfrischend auffächernden Wasserkaskade. Mittendrin stand Alice still; mit ihren an den Kopf hingeklatschen Haaren, den tropfenden Wimpern und ihrem Kampfgewicht war sie optisch weit entfernt von ihren male models und von Karolas Escortdamen. Sie schaute ihrer um fast einen Kopf kleineren Freundin tief in die Augen, prustete Wasser von den Lippen, öffnete ihren Mund.

    Karola kam ihr zuvor: »Ich liebe dich auch, Mümmelchen.«

    Nach dem üblichen, ausgiebigen Samstagsfrühstück wanderte Karola am nächsten Vormittag mit einem Meterstab im Gästezimmer herum; maß hier und dort, überlegte. Für einen länger bleibenden Gast musste ein Schreibtisch rein und ein passender Stuhl.

    »Kommst du mal bitte?« rief sie ihre Freundin.

    Eine Zigarette in der einen und das Smartphone in der anderen Hand erschien Alice.

    »Was meinst du?«, fragte Karola und stellte sich vor das Fenster zum Hof: »Da kommt der kleine Schreibtisch mit Stuhl aus deinem Büro hin. Das offene Regal stellen wir an die Wand daneben. Ausziehcouch und Tischchen bleiben...«

    Alice hörte nur halb, dafür amüsiert zu. Ihre Freundin war nicht zu bremsen, wenn es um das Gestalten von Räumen ging. Die geschmackvollen hundertfünfzig Quadratmeter ihrer gemeinsamen Wohnung waren überwiegend das Werk Karolas. Sie liebte es, tagelang maßstabsgetreu ausgeschnittene Pappmöbel auf Millimeterpapier gezeichneten Zimmern herumzuschieben. Immer auf der Suche nach der perfekten Lösung. Und sie hatte ein Händchen für Ästhetik, die ohne Luxusbudget auskam. Meistens.

    »Jetzt sag halt: Passt doch, oder?« weckte Karola die auf ihr Smartphone konzentrierte Freundin auf.

    »Ja, ja, mach nur. Das ist super.«

    Karola verschränkte die Arme vor der Brust und hakte ironisch nach: »Was habe ich gerade gesagt?« Sie wusste, auf welchen Anruf ihre Freundin wartete.

    »Äh, Schreibtisch, Ausziehcouch...«

    Endlich klingelte Alices Smartphone: »Hi, Maurice. Und? Wie ist es gelaufen? - Okay, sehr gut. - Der Kunde war schwierig? Es gibt keine schwierigen Kunden, nur anspruchsvolle. Und du spielst in der ersten Liga, da ist das so. - Fein. Hast du gut gemacht. … Jo, wir hören.«

    Alice balancierte das lang gewachsene Stück Zigarettenasche zum Aschenbecher auf den Couchtisch. »Mein alter Schreibtisch ans Fenster. Okay. Den trage ich mit Tommy am Montag rüber.«

    Sie schaute sich in dem sechzehn Quadratmeter großen Zimmer um. Die Kiefermöbel, die rotbraune Ausziehcouch und der Berberteppich hatten fast zwanzig Jahre auf dem Buckel, was man ihnen nicht ansah. Und mit den von Karola plazierten Accessoires wie einer Bodenvase mit künstlichen Gräsern und einer tiffany-mäßigen Stehlampe war es richtig gemütlich. Eine Studentenbude höheren Niveaus – und Satellitenfernsehen. Mit den damit empfangbaren kirchlich angehauchten Sendern war Luises Freizeitgestaltung gesichert.

    »So pressiert es jetzt doch nicht«, meinte Karola. »Ich wollte hier auch noch sauber machen. Aber dazu habe ich am Wochenende echt keine Lust.«

    Die beiden Frauen gingen in die Küche zurück. Der Rest Kaffee füllte zwei Haferl halb. Alice kippte ihn hinunter mit Blick auf die letzte Seite von Luises Brief mit ihrer Telefonnummer. Die des Finanzamts wäre Alice lieber gewesen. Aber noch weniger Lust hatte sie, sich das Wochenende von einem über ihr schwebenden Damoklesschwert vermiesen zu lassen. Denn Karola hatte im Internet den Passauer Neurologen recherchiert, nur zur Sicherheit: Es gab ihn; Luises Arztbericht war also echt.

    Ganz langsam tippte Alice eine Ziffer nach der anderen in ihr Handy. Sammelte sich. Es läutete an, länger, lang. Schon wollte Alice wieder auflegen:

    »Pfarrei Banklkofen, Luise Fechner.«

    II.

    Den Dienstag darauf stand Alice pünktlich vor der Anzeigetafel des Münchner Hauptbahnhofs und vergewisserte sich noch einmal, auf welchem Gleis der Regionalzug aus Deggendorf kurz vor halb drei ankam. Sie postierte sich ans Bahnsteigende von Gleis dreiundzwanzig, weithin sichtbar in ihrem tomatenroten Sakko, das mit Luise verabredete Erkennungszeichen. Nach der Personenbeschreibung ihrer Cousine am Telefon erwartete Alice eine schlanke Frau mit hochgestecktem Grauhaar in beigem Trenchcoat. Ein echter Hingucker!

    Noch zwei Minuten. Alice sah schon das froschäugige Gesicht der Lokomotive draußen auf dem Wirrwarr der Gleise. Es schien zu grinsen und mit jedem Meter, das es näher kam, flatterte Alices Magen heftiger. Adrenalin macht keinen Unterschied; es kündigt das Rendezvous mit einer neuen Liebe in der gleichen Weise an wie einen Prüfungstermin.

    Als sich die Waggontüren öffneten, spähte Alice nach ihrer Cousine. Hinter einem Grüppchen Reisender entdeckte sie die farblose Luise. Bis auf ihr grau gewordenes Haar hatte sie sich nicht wesentlich verändert. In gewisser Weise war sie immer schon alt gewesen.

    Alice winkte ihr zu und ging ihr entgegen. Noch im Taxi zum Bahnhof hatte sie überlegt, wie sie ihre Cousine begrüßen sollte. Eine Todkranke, arbeitslos, wohnungslos und obendrein eine Gästin, die sie nicht mit Freuden aufnahm, sondern aus Pflichtgefühl. Luise nahm ihr die Entscheidung ab, als sie nur noch einen Meter von ihr entfernt stand:

    »Alice, du gute Seele!« Sie stellte ihren Rollkoffer in die Senkrechte und breitete ihre Arme aus. Alice fügte sich in die Umarmung, die schwere Handtasche ihrer Cousine schlug gegen ihren Rücken: »Grüß dich. Hattest du eine gute Fahrt?« Mehr fiel Alice nicht ein.

    Luise löste sich und betrachtete ihr Gegenüber lächelnd im Schnellblick von oben bis unten: »Ja, danke. Ach, wie du aussiehst! - So, so außergewöhnlich.«

    Alice nahm Luises Koffer und presste heraus: »Das rote Sakko war verabredet. Sonst laufe ich untertags nicht so herum.«

    Luise blieb stehen, legte eine Hand vor den Mund: »Oh nein, so meinte ich das nicht. Das hast du missverstanden.« Im Weitergehen: »Ich meinte nur, du schaust gut aus. So geschminkt mitten am Tag und dieses Blond.«

    »Danke, Luise. Du hast dich aber auch kaum verändert. Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Das ist ja ewig her.«

    »Über zwanzig Jahre«, wusste Luise. »Und nun führt uns das kleine Teufelchen in meinem Kopf wieder zusammen«, meinte sie bedauernd.

    Ohne es zu wissen, brachte Luise ein Thema aufs Tapet, das Alice seit in paar Tagen umtrieb: Wie sollte sie mit ihrer Cousine angesichts deren tödlicher Krankheit umgehen? Sie kam sich schon in den Anfangsminuten des Wiedersehens unbeholfen und hölzern vor. Im Aufzug zur Tiefgarage fragte Alice rundheraus:

    »Sag mal, ist es dir lieber, wenn wir deinen Tumor mehr oder weniger ignorieren und du einfach noch eine schöne Zeit hast. Oder...«

    »Das ist sehr rücksichtsvoll, dass du das fragst, Alice. Und so wertschätzend. Ach, das tut gut. Und ja, so machen wir es.«

    Alice holte ihren Funkschlüssel aus der Sakkotasche und verstaute den Koffer in ihrem dunkelblauen Volvo-Kombi.

    Luise ließ sich in den weichen Beifahrersitz sinken und schnallte sich an: »Das ist aber ein schönes Auto«, stellte bewundernd fest, »und so bequem. Das war sicher teuer.«

    »Ja, schon, aber ich kann auch viel von der Steuer absetzen«, antwortete Alice.

    »Was arbeitest du? Noch Versicherungsagentur? «

    »Nein, ich habe seit zwanzig Jahren eine Agentur für male… für Männermodels.« An der ersten roten Ampel zündete sich Alice eine Zigarette an, drehte die Lüftung auf und ließ das Fenster auf der Fahrerseite ein Stück herunter.

    »Ach, würdest du bitte nicht rauchen? Ich vertrage das nicht so gut. Da wird mir gern schwindelig und übel. Und mit meinem Tumor ist es ja noch schlimmer geworden.«

    Alice beförderte die angerauchte Zigarette durch den Fensterschlitz nach draußen. »Nein, schon klar.«

    »Ich weiß, es ist dein Auto und ich kann dir ja eigentlich gar nicht verbieten...«, säuselte Luise.

    »Ist schon okay«, erwiderte Alice bemüht freundlich und verzog ihr Gesicht nur zum Fahrerfenster hinaus: Dieser demutsvolle, dienernde Ton! Eines hatte sich schon mal nicht geändert: Ihre Cousine war nach wie vor eine wandelnde Entschuldigung, dass es sie gab. In Wort und Bild. Nach außen hin.

    »Männermodels«, knüpfte Luise in der Augustenstraße an. »Was genau machst du da?«

    »Na ja, stell dir einfach vor, du bist Modedesignerin und brauchst Männer, die deine Kleider bei einer Modenschau vorstellen. Dann rufst du eine Agentur wie mich an und die schickt dir welche. Du ziehst ihnen die Klamotten an, lässt sie ein paar Schritte gehen und sagst: Ja, der bringt das gut rüber oder der halt nicht. Und wenn du welche von meinen Models nimmst, machen wir einen Vertrag über das Honorar und so. Und einen Teil von dem Honorar kriege ich dann als Provision.«

    Alice bog in die Görresstraße ein und spähte nach einem Parkplatz.

    »Das ist so gar nicht meine Welt: Tand und Putz und...«

    »Wenn du einen freien Parkplatz siehst, schrei sofort«, würgte Alice den befürchteten Vortrag über die Oberflächlichkeit der Welt und den Verlust wahrer Werte ab.

    Zehn Minuten später sperrte Alice die Wohnungstür auf, Luise betrat den geräumigen Flur mit zwei freudigen Lächeln; eines für sich und eines für ihre Gastgeberin:

    »Oh, ist das schön bei dir!«

    Alice hängte Luises Trenchcoat an den Garderobenständer und führte sie in ihr Zimmer, Luise erhaschte durch die offenen Türen einen Blick in Küche und Wohnzimmer.

    »Das ist dein Reich. Das Bad ist die nächste Tür; in dem Spiegelregal sind zwei Fächer leer geräumt für dich, die Toilette ist nebendran«, erklärte Alice und stellte den Koffer auf die Couch. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr kürzte sie die Willkommenstour ab: »Ich zeig dir schnell noch in der Küche, wo was zu essen und zu trinken ist. Dann muss ich leider nochmal ins Büro zu einem Termin. Ich bin aber bestimmt in einer guten Stunde wieder da.«

    »Ach, jetzt bringe ich dir auch noch deine Arbeit durcheinander!«, bedauerte Luise. »Geh nur. Ich werde in Ruhe auspacken und mich dann ein bisschen hinlegen. Die ganze Aufregung heute...«

    »Fein«, Alice stand im Türrahmen. »Ja, dann bis später und – fühl dich wie zu Hause.«

    Alice eilte zur Wohnung hinaus und die Stufen hinunter. Nie war sie dankbarer für einen Geschäftstermin als jetzt.

    Luise räumte währenddessen ihre Garderobe in den Kleiderschrank, stapelte in die Seitenfächer Pullover akkurat Kante auf Kante, ihr Tagebuch dazwischen. Die gedeckten Kleiderfarben fügten sich harmonisch in das Hellbraun des Kieferschranks. Als auch die baumwollene Unterwäsche ihren Platz gefunden hatte, legte sie eine abgegriffene Bibel auf den Schreibtisch und suchte nach einem passenden Platz, ihr kleines Holzkruzifix aufzuhängen.

    Einstweilen musste es im Regal

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