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"Diakon wurde man, weil man anders war": Die Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs in Berlin-Weißensee (1952–1991)
"Diakon wurde man, weil man anders war": Die Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs in Berlin-Weißensee (1952–1991)
"Diakon wurde man, weil man anders war": Die Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs in Berlin-Weißensee (1952–1991)
eBook651 Seiten6 Stunden

"Diakon wurde man, weil man anders war": Die Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs in Berlin-Weißensee (1952–1991)

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Über dieses E-Book

Nach der deutschen Teilung war die gemeinsame Ausbildung von ost- und westdeutschen Diakonenschülern in Berlin unmöglich geworden. Stattdessen blieben die einen im Johannesstift, die anderen lebten und lernten in Weißensee, wo in der heutigen Stephanus-Stiftung ein neues Brüderhaus als Ausbildungsstätte eingerichtet wurde. Dieser Band zeichnet die spannungs- und konfliktreiche Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs (KDL) nach, der junge Christen – und später auch Christinnen – im Kontext der DDR-Gesellschaft dazu befähigte, gegen viele Widerstände Diakonie als Hinwendung zu den Menschen "am Rande" auszuüben.

["You Became a Deacon Because You Were Different": The History of the Kirchlich-Diakonischer Lehrgang in Berlin-Weißensee (1952–1991]
After the partition of Germany, it had become impossible to train East and West German students of deaconry together. While the latter remained at the Johannesstift, the former lived and studied at a new training facility – known as a "Brüderhaus" – that had been established at the Stephanus Foundation in Weissensee. This book charts the history of a school which, although fraught with tension and conflict, enabled young male (and later female) Christians – despite the numerous obstacles posed by the East German political and social order – to devote themselves to Christian social work and care for those "on the fringes" of society.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Aug. 2017
ISBN9783374051663
"Diakon wurde man, weil man anders war": Die Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs in Berlin-Weißensee (1952–1991)

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    Buchvorschau

    "Diakon wurde man, weil man anders war" - Margit Herfarth

    »DIAKON WURDE MAN, WEIL MAN ANDERS WAR«

    D

    IAKONAT

     –

    K

    IRCHE

     –

    D

    IAKONIE

    Hrsg. im Namen des Verbandes Evangelischer Diakonen-, Diakoninnen und Diakonatsgemeinschaften in Deutschland e. V. von Dieter Hödl und Thomas Zippert

    Band 3

    M

    ARGIT

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    ERFARTH

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    IAKON WURDE MAN

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    EHRGANGS IN

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    W

    EISSENSEE

    (1952–1991)

    Margit Herfarth, Dr. theol., Jahrgang 1970, studierte Evangelische Theologie in Münster, Greifswald, Tübingen und Heidelberg sowie Latein in Heidelberg. Gegenwärtig ist Herfarth als Dozentin für Altes Testament, Kirchengeschichte und Bibelkunde am Wichern-Kolleg im Evangelischen Johannesstift in Berlin tätig.

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    © 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

    Satz: Steffi Glauche, Leipzig

    E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

    ISBN 978-3-374-05166-3

    www.eva-leipzig.de

    V

    ORWORTE 

    Am Anfang stand eine leise Initiative: Eine regionale Gruppe unserer Gemeinschaft spürte die Notwendigkeit, Erlebtes zu bewahren. Vor allem Diakone, die in der Stephanus-Stiftung Verantwortung für die Diakonenausbildung im KDL mitgetragen hatten, wollten, dass diese Zeit, an die in der heutigen Stephanus-Stiftung selbst symbolisch nichts mehr erinnert, gewürdigt und historisch eingeordnet wird. Am Ende liegt ein Buch vor, das dieses Anliegen auf- und ernstgenommen hat. Es beschreibt die Diakonenausbildung, die Zeit des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs (KDL), der nach 1989 aufgelöst und wieder in das Ausbildungssystem des Wichern-Kollegs im Evangelischen Johannesstift eingegliedert wurde.

    Wie hat sich in diesem Zusammenhang die Brüderschaft der Stephanus-Stiftung erlebt, verändert, wiedergefunden? Was ist am Ende für die neue Schwestern- und Brüderschaft des Evangelischen Johannesstifts geblieben? Die Brüderschaft der Stephanus-Stiftung hat im Laufe der

    KDL-Jahre

    verschiedene Positions- und Rollenveränderungen erlebt: Sie war Initiatorin der Ausbildung, Verantwortungsträgerin und lebte die selbstverständliche Einbindung der Absolventen in eine brüderliche Gemeinschaft, ohne die eine Einsegnung zum Diakon nicht möglich war. Sie hat die Ausbildungsinhalte mitbestimmt, forderte das Verhalten der Diakonenschüler immer wieder heraus und war somit Streitpartnerin. Gleichzeitig dachte sie über das neue Ausbildungsmodell einer Spezialausbildung mit nach und unterstützte deren Umsetzung. Am Ende war sie konfrontiert mit neuen Lebensentwürfen der im KDL Ausgebildeten, die den Wertevorstellungen der brüderlichen Gemeinschaft häufig nicht mehr entsprachen. Die konfliktbeladene Situation lief auf eine Konfrontation hinaus. Die Kluft zwischen Brüderschaft und Ausbildung wurde immer tiefer. Mit dem Mauerfall 1989 kam die gesellschaftliche Wende, damit auch die Abwendung dieser Konfrontation.

    Die

    KDL-Ausbildung

    ging hinein in ein Ausbildungssystem im Evangelischen Johannesstift, das diese Konflikte schon schmerzhaft in den 1970er Jahren geführt hatte. Über die Ausbildungsziele, die von der Stiftsleitung, der Brüderschaft, den Ausbildungsverantwortlichen und den Studierenden unterschiedlich gesehen wurden, war diskutiert worden. Die Verhältnisse waren geklärt worden. Die Brüderschaft des Ev. Johannesstifts (seit 1992 umbenannt in Schwestern- und Brüderschaft) war der Diakonenausbildung zwar eng verbunden, war aber nicht Trägerin und Verantwortungstragende wie es die Brüderschaft in der Stephanus-Stiftung gewesen war. Sie musste um die Absolventen der Diakonenausbildung werben, da die Einsegnung nicht mehr an die Mitgliedschaft in einer diakonischen Gemeinschaft gebunden war. Dieser »Zwang« hatte im Osten dazu geführt, dass viele

    KDL-Absolventen

    auf die Einsegnung verzichteten, da sie nicht in die Brüderschaft eintreten wollten.

    Die Schwestern- und Brüderschaft im Johannesstift war Partnerin der Diakonenausbildung, wurde bei Richtungsentscheidungen um ihre Meinung gefragt, letztendlich bestimmte sie aber nicht mit. Hier lag die Entscheidungshoheit beim Wichern-Kolleg und dem Evangelischen Johannesstift. Dem erneuten Zusammengehen beider diakonischer Gemeinschaften 1993 ging auch deshalb ein herausfordernder Prozess voraus. Bedeutete diese Form von Partnerschaft mit der Diakonenausbildung nicht einen Bedeutungsverlust für die diakonische Gemeinschaft? Der direkte Konflikt zwischen den Ansprüchen Studierender und einer scheinbar festgelegten diakonischen Gemeinschaft musste nicht mehr geführt werden, was aber auch damit zu tun hatte, dass viele kritische

    KDL-Absolventen

    nicht den Weg in das Evangelische Johannesstift mitgegangen sind bzw. ihn bewusst nicht genommen haben. Die Atmosphäre im Johannesstift und im Wichern-Kolleg war anders, wenig Reibungsfläche bietend: abgeklärter, wenn es die Anforderungen an die Studierenden betraf und gelassener, wenn es um die persönlich unterschiedlichen Entwicklungen der Auszubildenden ging. Mit dem Zusammengehen entstanden Herausforderungen für beide Seiten: Die Brüderschaft der Stephanus-Stiftung sah sich tatsächlich konfrontiert mit einem Bedeutungsverlust, die Schwestern- und Brüderschaft des Ev. Johannesstifts wurde herausgerissen aus einem eingespielten Gleichmaß.

    Welche Rolle wollte und sollte die zukünftige diakonische Gemeinschaft im Evangelischen Johannesstift und in der Ausbildung spielen? Welche Rituale, welche Umgangsformen, welche Mitbestimmungsräume mussten jeweils neu kennengelernt, überdacht und angepasst werden? Menschen mussten sich neu kennenlernen, Fremdheit überwinden.

    Wir haben es als Schwestern- und Brüderschaft geschafft, wieder geschwisterlich zueinander zu finden. Unsere Rolle im Evangelischen Johannesstift ist nicht mehr vergleichbar mit der der Brüderschaft in der Stephanus-Stiftung. Beratende Stimmen in Gremien können Einfluss nehmen, aber letztendlich nicht mitbestimmen, wie es in der Stephanus-Stiftung zu

    DDR-Zeiten

    selbstverständlich war. Durch die erzwungene unterschiedliche Entwicklung der diakonischen Gemeinschaften haben wir aber gelernt, Dinge immer wieder zu hinterfragen, sie nicht als »gottgegeben« hinzunehmen. Der kritische Geist der

    KDL-Ausbildung

    ist nicht ganz verweht, auch wenn viele aus dieser Zeit in unserer Gemeinschaft leider fehlen. Er hat sich mit dem Widerstandsgeist aus den verschiedenen Phasen der Diakonenausbildung im Johannesstift verbunden. Sich für das Gemeinwesen verantwortlich fühlen – sich für Veränderungen einsetzen – zum eigenen Denken ermutigen: Das sind Ziele, die Dr. Margit Herfarth in ihren Schlussfolgerungen benannt hat und die meiner Meinung nach in der Ausbildung zur Diakonin und zum Diakon, aber besonders in einer diakonischen Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern gelebt werden müssen, denn Gemeinschaft ist für eine diakonische Ausbildung kein leeres Wort, sondern ein entscheidendes Lernfeld!

    Ich danke der Stephanus-Stiftung, dem Evangelischen Johannesstift, der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz und dem VEDD, die der Schwestern- und Brüderschaft durch finanzielle und ideelle Unterstützung dieses Buchprojekt ermöglicht haben.

    Jutta Böhnemann-Hierse,

    Älteste der Schwestern- und Brüderschaft

    des Evangelischen Johannesstifts

    G

    ELEITWORT DES

    H

    ERAUSGEBERS 

    Es liest sich so einfach: »Kirchlich-Diakonischer Lehrgang« im Kontext des alttestamentlichen Bibelwortes »Suchet der Stadt Bestes« (Jer 29,7). Doch hinter diesen Worten und Aussagen stehen Menschen mit ihren je eigenen Erfahrungen, angehende Diakone und später auch Diakoninnen, die ihr Leben in dieses Spannungsfeld gestellt und ihren Glauben in diesem Kontext gelebt haben: »Diakon wurde man, weil man anders war.«

    In Zeiten, die zuerst geprägt waren von den schrecklichen Erfahrungen eines ungeheuerlichen Krieges; die anschließend bestimmt waren vom Spannungsfeld der Deutschen Zweistaatlichkeit; und die dann überraschend den Aufbruch in ein gemeinsames demokratisches Deutschland ermöglicht haben.

    In Zeiten, die ganz unterschiedliche kirchliche Zusammenschlüsse und verschiedene kirchliche Strukturen entstehen ließen, die zeitweise auch zwei Brüderhäuser zur Folge hatten, obwohl alle einmal gemeinsam in einer Gemeinschaft, in einem Brüderhaus gestartet waren und nun wieder vereinigt sind.

    »Man muss die Vergangenheit kennen, wenigstens einigermaßen ahnen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu kennen. Ohne Kenntnis der Geschichte ist dem Menschen alles, was um ihn vorgeht, schlechterdings unbegreiflich, geradezu ein Rätsel.« ¹

    Dieser großen geschichtlichen Herausforderung hat sich Margit Herfarth, Dozentin am Wichern-Kolleg des Johannesstifts, gestellt. Sie hat den fließenden Start, sowie die Entwicklung und Gestaltwerdung des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs (KDL) in Berlin-Weißensee aufgezeigt, beides in die jeweiligen gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexte eingebunden und damit auch die schwierigen Rahmenbedingungen in den unterschiedlichen Phasen beschrieben. Vor allem aber ist es auch ein wichtiger und notwendiger Schritt, die persönliche Geschichte der Brüder und später auch der Schwestern öffentlich zu machen und zu dokumentieren.

    Wesentlich beteiligt hat sich an dieser Herausforderung die Schwestern- und Brüderschaft des Johannesstifts selbst. Diese Beteiligung wurde auch im Rahmen einer »

    KDL-Geschichtswerkstatt

    « vollzogen, an der angehende, inzwischen examinierte Diakoninnen und Diakone beteiligt waren und Interviews mit »ehemaligen

    KDL-Schülern

    « geführt hatten. Damit wurde gleichzeitig ein intensives Gespräch zwischen den Generationen ermöglicht und vielfältige Lernprozesse initiiert. Das geschah auch deshalb, damit diese persönlichen Schicksale in ihrer beeindruckenden Lebensgestaltung als Form gelebten Glaubens für die nachfolgenden Generationen als Erfahrungsschatz zur Verfügung stehen. »Diakon wurde man, weil man anders war […]«. Søren Kierkegaard ² hat dies so formuliert: »Die Zeit und die Geschichte haben diejenigen gerechtfertigt, die gegen den Strom schwammen und mit den Überzeugungen ihrer Zeit aufeinanderprallten.«

    Nach der Darstellung des beruflichen und spirituellen Selbstverständnisses der Diakoninnen und Diakone (Band 1) und dem Brückenbau zwischen kirchlich und staatlich anerkannten Qualifikationsanteilen von Diakoninnen und Diakonen (Band 2) schließt sich jetzt eine besondere Vertiefung mit einer speziellen geschichtlichen Ausrichtung an und reiht sich als Band 3 in die

    VEDD-Buchreihe

    »Diakonat – Kirche – Diakonie« ein. ³

    Ein besonderer Dank für diese Idee, die konzeptionelle Entwicklung und hervorragende Umsetzung gilt Frau Dr. Margit Herfarth und den Verantwortlichen der Schwestern- und Brüderschaft des Johannesstifts.

    I

    NHALT

    Cover

    Schmutztitel

    Titel

    Autor

    Impressum

    Vorworte

    Geleitwort des Herausgebers

    I Einleitung

    II Von Improvisationstalenten und Notlösungen (1952–1961)

    1 Einrichtung eines »Zweitbrüderhauses« in Weißensee

    2 Theologie im Vollzug

    2.1 Unterrichtsinhalte und Lehrende

    2.2 Bewährung in der Praxis: Engagement in der Stiftung, Arbeitseinsätze und Praktika

    3 Gemeinsames Leben

    3.1 Haus- und Lebensgemeinschaft

    3.2 Alltag, Feste und Fahrten

    3.3 Unverlobt und ungebunden?

    4 Wie politisch ist die Diakonie?

    4.1 Konflikte, Ängste und Repressionen: Die frühen 1950er Jahre

    4.2 KDL und

    DDR-Staat

    4.3 Der Arbeiter-Diakon in »Schwarze Pumpe«

    4.4 Wanderer zwischen zwei Welten

    III Vom Provisorium zur profilierten Eigenständigkeit (1961–1975)

    1 Der Mauerbau und seine Folgen

    1.1 Gegen die Entfremdung

    1.2 Das Ende des Provisoriums: Der neue Status des KDL

    1.3 Notwendige Trennungen

    2 Umbrüche und Übergänge

    2.1 Wer wird Diakon?

    2.2 Neue Wege einüben und Demokratie lernen

    2.3 Die Arbeit erfordert viel Nervenkraft und Geduld: Hauseltern und ihre Rolle

    2.4 Stürmische Zeiten: Rebellion im Brüderhaus

    2.4.1 Brüder im Exil

    2.4.2 Konsequenzen und Interpretationen

    Jugendarbeit braucht ein Ziel: Neue Probleme und neue Lösungsversuche

    3.1 Jugend zwischen sozialistischer Erziehung und der »Offenen Arbeit«

    3.2 Die neue Ausbildungskonzeption

    3.2.1 Die Berliner Spezialausbildung

    3.2.2 Richtungsstreitigkeiten und Kontroversen

    3.2.3 Die Kooperation der Brüderhäuser

    IV Position und Revolution (1975–1989)

    Brüder, Sie müssen den Adler der Weltgeschichte kreisen lassen: Lehr-und Lernerfahrungen

    2 Konfliktfelder

    2.1 Liebe und Beziehungen

    2.2 Streit um die Koedukation

    2.3 Ideal und Realität: Gemeinsames Leben

    2.4 Brüderschaft

    Wir waren wie ein kleines freies Land mitten in einem Land, wo gar nichts ging: Diakonsein im Sozialismus

    3.1 KDL und

    DDR-Sozialismus

    3.2 KDL und Staatssicherheit

    3.3 Frieden schaffen ohne Waffen?

    3.4 Westkontakte

    3.5 Die friedliche Revolution

    V Abschied und neuer Anfang (1989–1991)

    1 Von Weißensee nach Spandau

    2 Neue Wege unter neuen Bedingungen

    3 Was bleibt? Anfragen und Impulse

    VI Anhang

    1 Der KDL als Modell für das Seminar für Psychiatriediakonie (Autor: Jürgen Schreiter)

    2 Zeittafel

    3 Quellen- und Literaturverzeichnis

    3.1 Beiträge der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen

    3.2 Quellenverzeichnis (chronologisch)

    3.3 Sekundärliteratur

    4 Abbildungsnachweis

    Anmerkungen

    E

    INLEITUNG 

    Diakon wurde man, weil man anders war – dieser Satz fiel in einem der Interviews mit ehemaligen Lehrenden und Lernenden am KDL. ¹ Er trifft genau das, was den Kirchlich-Diakonischen Lehrgang in seinem Kern ausmacht. Der KDL und seine Lehr- und Lerngemeinschaft waren in vieler Hinsicht anders und im Laufe der Jahre verstärkte sich dieses Anderssein eher als dass es sich abschwächte. Der KDL war anders als das Brüderhaus im Johannesstift, als dessen Zweigstelle er ursprünglich gegründet worden war. Das gemeinsame, zunehmend demokratischer gestaltete Leben im Haus war anders als das »normale« Leben in der

    DDR-Gesellschaft

    . Die angehenden Diakone (und später die wenigen Diakoninnen) waren anders als die Mehrheit der jungen Menschen in der DDR, hatten andere Motive und andere Ziele. Ihre Arbeitsfelder waren anders als die der meisten anderen Menschen in der DDR, denn sie arbeiteten mit Menschen, die anders waren: mit Behinderten, mit Kranken, mit »randständigen« Jugendlichen und mit den Gliedern einer immer stärker an den Rand gedrängten christlichen Kirche. Ein plurales Anderssein zeichnete auch den kirchlich-diakonischen Innenraum des KDL aus, insofern als gerade die jungen Diakone neue Wege erprobten, dabei manchmal mit ihrer Kirchenleitung und häufiger noch mit der Brüderschaft in Konflikt gerieten. Gemeinsam war allen Lehrenden und Lernenden jedoch, dass das Anderssein die Hinwendung zu anderen Menschen beinhaltete. Die große (theologische) Linie des KDL lässt sich gut mit dem Bonhoeffer-Wort von der Kirche, die nur dann wirklich Kirche ist, wenn sie für andere da ist, beschreiben. Die diakonische Ausbildungsstätte in Berlin-Weißensee ist daher ein wichtiger, aber bislang ungeschriebener Teil der Diakoniegeschichte der DDR.

    Diese Darstellung beruht auf zwei Säulen. Zum einen den schriftlichen Quellen, die im Historischen Archiv des Evangelischen Johannesstifts (HAEJS) aufbewahrt sind. Neben Sitzungsprotokollen verschiedener für den KDL zuständiger Gremien, die den Großteil des Materials ausmachen, sind das Auszüge aus Personalakten (den »Brüderakten«), Briefe, Anträge, Abrechnungen, Beschlüsse, Brüdertags-Berichte aus dem Brüderhaus, Schülerzeitungen und von Schülergruppen verfasste Chroniken. ² Zum anderen speist sich die Darstellung aus mündlichen Quellen, nämlich den in Interviews erhobenen Erinnerungen von Menschen, die in unterschiedlicher Funktion und Rolle den KDL selbst erlebt haben. Während die archivierten Quellen Daten und Fakten bereitstellen und insofern eine »objektive« Perspektive ermöglichen, bieten die Interviews die für eine geschichtliche Darstellung ebenso wichtige »subjektive« Perspektive. ³ Wie haben die Beteiligten eine bestimmte Zeit, bestimmte Ereignisse und Entwicklungen erlebt und bewertet – und wie sieht ihre heutige Bewertung aus? Wie lässt sich der Alltag im KDL beschreiben? Welche Bedeutung hat die Ausbildung für die eigene Lebensgeschichte?

    Insgesamt haben 46 Menschen mit ihren Erinnerungen zu diesem Buch beigetragen. Mit drei von ihnen wurde ein leitfragengestütztes schriftliches Interview geführt, zehn ließen sich schriftlich zu bestimmten Einzelthemen befragen und 33 haben in einem mündlichen Interview Auskunft gegeben. Lebenspaare wurden dabei gemeinsam interviewt. Die Gespräche wurden methodisch als offene, narrative Interviews im Gegensatz zu standardisierten konzipiert. Eine offene Frage nach dem »Weg in den KDL« eröffnete jeweils das Gespräch; ein Fragenkatalog strukturierte es, ohne die narrative Subjektivität zu sehr einzuschränken. Oft ergaben sich aus den Antworten neue Fragen, die wiederum unerwartete Einsichten hervorbrachten. ⁴ Zum Abschluss des Gespräches erhielten die Befragten die Gelegenheit, ihr eigenes Fazit zu ziehen. ⁵ Die mitgeschnittenen Gespräche wurden anschließend transkribiert und den Befragten zur Einsicht vorgelegt, um ihnen die Gelegenheit zur möglichen Korrektur oder Ergänzung zu geben.

    Im Rahmen eines Seminars zum Thema »

    KDL-Geschichtswerkstatt

    « haben auch angehende bzw. inzwischen examinierte junge Diakoninnen und Diakone mit ehemaligen

    KDL-Schülern

    Interviews geführt. Die von ihnen aufgezeichneten Gespräche tragen den besonderen Charakter einer Kommunikation verschiedener Generationen. Aus der Perspektive heutiger Diakonenschüler haben sie ihr Erleben mit dem Erleben älterer Generationen verglichen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausgelotet. Ein ganz herzlicher Dank und große Anerkennung ihrer einfühlsamen Gesprächsführung und zeitaufwendigen Transkriptionen soll an dieser Stelle Kai Borgwardt, Melanie Hübner, Linda Müller, Karsten Herper, Bettina König, Friederike Wiese, Lukas Supplieth und Linda Steinert ausgesprochen werden.

    Die Auswahl der Menschen, die sich für das Projekt befragen ließen, war chronologisch-repräsentativ bestimmt: Für jede »Epoche« der Geschichte des KDL wurde eine Anzahl von ehemaligen Schülern, für den letzten Teil auch Schülerinnen befragt, zudem die Hauseltern, einige Dozenten und Dozentinnen, der ehemalige Leiter der Stephanus-Stiftung (Werner Braune), der langjährige Ausbildungsleiter Hans Kretschmann und der letzte Ausbildungsleiter Martin Kusch. Ergänzt wird diese Weißenseer Perspektive durch den ehemaligen Ausbildungsleiter des Brüderhauses in Rothenburg, Christian Petran, sowie durch zwei ehemalige Studierende und den ehemaligen Ausbildungsleiter des Wichern-Kollegs, Jochen Muhs.

    Allen, die sich an dieser »

    KDL-Geschichtswerkstatt

    «, so der Arbeitstitel, beteiligt haben, gebührt großer Dank. Die Offenheit und das Vertrauen, das sie mir und den anderen Fragestellern entgegengebracht haben, sind nicht selbstverständlich. Es ist nicht immer leicht, die eigenen Worte später in Schriftform, ohne die Gesprächssituation, schwarz auf weiß zu lesen und den Mut aufzubringen, diese Erinnerungen »freizugeben«.

    Große Unterstützung, Ermutigung und viel Zuspruch gaben mir während der Arbeit an diesem Buch Jutta Böhnemann-Hierse, Älteste der Schwestern- und Brüderschaft im Evangelischen Johannesstift und die Diakone Jörg Heine, Gottfried Schubert und Jürgen Schreiter. Die Auswertung der archivierten Quellen wäre nicht möglich gewesen ohne die freundliche Geduld des Archivars Helmut Bräutigam und der sorgfältigen Vorarbeit von Jürgen Schreiter. Ihnen allen bin ich sehr dankbar!

    Eingang zur Stoecker-Stiftung mit Ernst-Berendt-Haus.

    II VON

    I

    MPROVISATIONSTALENTEN UND

    N

    OTLÖSUNGEN

    : 1952–1961

    Johann Hinrich Wichern, der Begründer des Rauhen Hauses und des ersten »Brüderhauses«, war ein Mann der Widersprüche: politisch konservativ und sozial innovativ, pragmatisch und zugleich visionär, Theologe und Sozialpolitiker in einer Person. ⁶ Seine Zeit war unruhig und voller fundamentaler Umbrüche. Wichern zeichnete sich dadurch aus, dass er für neue Situationen und Probleme neue Lösungen suchte, anstatt allein auf Hergebrachtem zu beharren. In der Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs in Weißensee ist viel zu spüren von Wicherns visionärer Gestaltungskraft – und schon die Gründungsgeschichte des neuen Brüderhauses in Weißensee steht insofern in guter Wichernscher Tradition, als hier etwas gedacht und gewagt wurde, das zuvor überhaupt nicht vorstellbar gewesen war: nämlich neben dem fest etablierten und angesehenen Spandauer Brüderhaus ein zweites ins Leben zu rufen.

    E

    INRICHTUNG EINES

    »

    Z

    WEITBRÜDERHAUSES

    « IN

    W

    EISSENSEE

    Als der Zweite Weltkrieg beendet war, war zunächst der Wunsch nach einer Wiederaufnahme des gewohnten und vertrauten Brüderhaus-Betriebs vorherrschend. Die ersten beiden Nachkriegsjahre waren – nicht nur im Johannesstift – ganz unmittelbar vom Kriegsende, von Zusammenbruch und Befreiung, von den Flüchtlingsströmen und der Notwendigkeit der wirtschaftlich-sozialen Neuordnung geprägt. ⁷ Dem Johannesstift war es geglückt, den Betrieb nicht nur während der Kriegsjahre, sondern auch in der Nachkriegszeit weitgehend aufrechtzuerhalten, sodass es sich als Zufluchtsort anbot. Für viele Diakone, die aus dem Krieg zurückkehrten, war das Johannesstift die erste Anlaufstelle – gerade auch für Diakone aus anderen Brüderhäusern, die hier Informationen über ihre Häuser einholen und sich in andere Brüderhäuser vermitteln lassen konnten, falls ihr eigenes Brüderhaus den Krieg nicht überstanden hatte. ⁸

    Erst 1947 begann der erste reguläre Anwärterlehrgang mit der Ausbildung im Brüderhaus. Die Brüder renovierten die Unterrichtsräume und füllten alte Traditionen wie das »Familiensystem«, das später auch in Weißensee übernommen wurde, wieder mit Leben. Der bis Frühjahr 1947 durch das Krankenhaus belegte Speisesaal wurde feierlich neu eingeweiht, Praktika und Prüfungen absolviert. 1951 fuhren erstmals seit 1939 Schüler und Lehrer auf eine gemeinsame Sommerfahrt. ⁹ Die Situation begann sich zu normalisieren, eine sicherlich ersehnte Stabilität schien sich einzustellen.

    Der beginnende Kalte Krieg und die seit 1949 manifeste deutsche Zweistaatlichkeit verhinderten jedoch eine solche Stabilität und stellten nicht nur die Deutsche Diakonenschaft insgesamt ¹⁰ , sondern auch das Brüderhaus im Johannesstift vor neue, unvorhergesehene Herausforderungen. Während schon seit 1949 die gemeinsame Arbeit und die persönlichen Begegnungen von Diakonen aus Ost und West deutlich erschwert und an manchen Stellen unmöglich gemacht worden waren ¹¹ , stand seit dem Sommer 1952 sozusagen über Nacht die Zukunft der Ausbildungsstätten der Kirche von Berlin-Brandenburg und damit auch der Diakonenausbildung im Brüderhaus auf dem Spiel. War die sogenannte Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen von Seiten der DDR schon seit einer Verordnung vom 26. 5. 1952 verstärkt abgeriegelt worden, erging nun ein staatlicher Beschluss, dass jeder

    DDR-Bürger

    sein Aufenthaltsrecht verlieren würde, wenn er sich länger als einen Monat außerhalb des Staatsgebietes der DDR aufhielte. Dieser Beschluss betraf fast 80 Prozent ¹² der Diakonenschüler des Johannesstifts, die zwar in Spandau polizeilich gemeldet waren, aber aus dem Gebiet der DDR stammten. ¹³ Die neue Verordnung machte de facto die Ausbildung von

    DDR-Bürgern

    im Westen unmöglich. Was tun?

    Schon Ende Juni 1952 fasste die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg unter Bischof Otto Dibelius den Beschluss, bestimmte Ausbildungsstätten, darunter beispielsweise das bislang in Dahlem situierte Burckhardthaus ¹⁴ , nach Ostberlin zu verlagern, um den dringend benötigten Nachwuchs für Kirche und Diakonie des Ostens zu sichern. Um die Ausbildung junger Diakone für den Einsatz im Staatsgebiet der DDR zu gewährleisten, sollte in Berlin-Weißensee ein Ableger des Brüderhauses eingerichtet werden. Joachim König, der erste Hausvater des Brüderhauses in Weißensee, schreibt dazu:

    Man muss sich einmal vorstellen, was es für die Kirchen und die Diakonie in der jungen DDR bedeutet hätte, wenn die Diakonenausbildung im Johannesstift geblieben wäre. 90 Prozent der jungen Männer, die in das Brüderhaus eingetreten sind, wären im Laufe der Jahre für die Kirche in der DDR verlorengegangen. Sie wären durch die Ausbildung Westberliner bzw. Westdeutsche geworden, und die DDR hätte ihnen die Rückkehr nicht gestattet. 1952 haben wir immerhin 31 Schüler und Diakone in den Osten »zurück«geholt. Sie wären der Kirche im Osten verlorengegangen […]. ¹⁵

    Die Entscheidung zur Errichtung eines »Zweitbrüderhauses«, die im Rückblick so folgerichtig und zwangsläufig erscheint, war in der aktuellen Situation jedoch schwierig und mit Sorgen belastet. Das Johannesstift sah seine Arbeit durch den Wegzug der jungen Brüder, die in ihren langen Praktika in den Häusern des Stifts tätig waren, gefährdet. Wie sollten diese Lücken gefüllt werden? Würde es bei der zunehmend isolierten Lage Westberlins noch gelingen, genügend neue Anwärter aus dem Westen zu finden? ¹⁶ Auch in der Schüler-Chronik der Jahre Juni 1952 bis Januar 1954 wird über die Überlegungen und Anspannungen dieser Phase berichtet:

    Juni 1952: […] So tauchten in diesen Tagen schwere dunkle Wolken am Himmel auf. Konnte man die Praktikantenstellen, in die man gerufen worden war, einfach so verlassen? Mußte man nicht hier seine Aufgabe erfüllen? Riefen die Gemeinden der DDR, aus denen die Brüder kamen, nicht auch nach Kräften? Wieviele Aufgaben waren auch dort zu erfüllen? Doch mußte man sich dann nicht auch wieder neu einem anderen Brüderhaus in der DDR anschließen? Da man erst hier eine Gemeinschaft und Brüderschaft gefunden hatte. Es war keine leichte Entscheidung. ¹⁷

    Trotz aller Bedenken überschlugen sich die Ereignisse: Innerhalb von kurzer Zeit war die damalige Adolf-Stoecker-Stiftung in Weißensee als geeigneter Ort für ein Zweitbrüderhaus ¹⁸ bestimmt worden. In der Hoffnung auf eine Änderung der politischen Verhältnisse wurde die geplante Einrichtung zunächst als Zwischenlösung angesehen – Joachim König schreibt in seinen Erinnerungen, dass er selbst damals den Plan für ein Provisorium gehalten habe. Das Johannesstift, so König, wollte kein dauerhaftes Ost-Brüderhaus sein – nur wenn die politische Lage es nötig machen würde, käme eine Dauereinrichtung in Frage. ¹⁹ Die Vorstellung eines »Provisoriums« scheint dabei einerseits dazu beigetragen zu haben, dass sich die Stiftsleitung zu diesem Entschluss durchringen konnte, andererseits aber dazu geführt zu haben, dass die immer deutlicher werdende Permanenz des neuen Brüderhauses nicht ohne Konflikte akzeptiert werden konnte, wie eine Erinnerung eines der ersten Diakonenschüler in Weißensee, Hans-Dietrich Spengler, erkennen lässt:

    Pfarrer Becker ²⁰ , also der damalige Stiftsvorsteher, hat im Herbst 53 durchsetzen wollen, dass wir in Spandau bleiben. Das heißt, dass wir in Weißensee wohnen und jeden Tag nach Spandau kommen. Und damals lief ja gerade dieser Kampf gegen die Junge Gemeinde und die »Spione aus dem Westen«. Das war eine ziemlich heikle Geschichte Mitte der 50er Jahre. Und da haben wir gesagt: Das geht nicht! Wenn wir hier in Spandau bleiben, riskieren wir, wenn wir nach dem Examen zurückkommen, dass die uns alle verhaften. Und das kapierte er nicht und da hatten wir ein Klassengespräch mit ihm. Also da sind die Fetzen geflogen! Und es ging so weit, dass wir gesagt haben: Wenn Sie darauf bestehen, dass wir hierher kommen, dann treten wir alle aus! Wir hatten schon überlegt, dass wir dann nach Moritzburg gehen würden. ²¹

    Von Seiten der

    DDR-Behörden

    wäre das Konstrukt einer dauerhaften Zweigstelle des Johannesstift-Brüderhauses sicherlich nicht geduldet worden – und der nüchtern-sachliche Name der neuen Ausbildungsstätte, »Kirchlich-Diakonischer Lehrgang«, ist als Zeichen an die Behörden zu werten, dass hier eine neue und eigene Einrichtung entstand. ²² Voraussetzung dafür, dass das Zweitbrüderhaus in der damaligen Stoecker-Stiftung angesiedelt werden konnte, war zum einen, dass der Stiftung schon 1949 durch die Sowjetische Militäradministration genehmigt worden war, kirchlich-diakonische Lehrgänge zur Ausbildung künftiger Mitarbeiter durchzuführen ²³ , zum anderen die Weitsicht der Leitung der Stiftung unter dem Kuratoriumsvorsitzenden Kirchenrat Theodor Wenzel ²⁴ und dem Geschäftsführer Pastor Willi Federlein ²⁵ , denen die große Bedeutung der Ausbildung künftiger diakonischer Mitarbeiter für das Gebiet der DDR bewusst war. ²⁶

    Die Stiftung in Weißensee hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine lange und bewegte Geschichte hinter sich. ²⁷ Als Bethabara-Stiftung war sie 1878 von Pfarrer Ernst Berendt (1842–1919) für die Betreuung strafentlassener Frauen und Mädchen gegründet worden. Weitere Arbeitsbereiche kamen hinzu und 1902 wurden die Bethabara-Stiftung und das Versorgungshaus »Beth-Elim« zur Bethabara-Beth-Elim-Stiftung vereint. In den nächsten Jahrzehnten wuchs die Stiftung durch den Bau weiterer Häuser und erweiterte ihre Arbeitsbereiche um die Versorgung geschlechtskranker Jugendlicher, der ärztlichen Versorgung von Müttern und Säuglingen, der Betreuung pflegebedürftiger physisch oder psychisch kranker Mädchen und der Einrichtung eines homöopathischen Krankenhauses. Seit 1933 kam es zu starken Beeinträchtigungen der sozialen Arbeit der Stiftung. Der seinem Vater in die Leitung nachgefolgte Pfarrer Ernst Berendt jun. (1878–1942) verließ Weißensee 1940, übernahm ein Pfarramt in Baden-Baden und wurde, schon seit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wegen seiner widerständigen Haltung und seiner Predigten im Visier der Gestapo, 1940 ins KZ Dachau eingeliefert, wo er 1942 starb. ²⁸ 1941 wurde die Bethabara-Beth-Elim-Stiftung im Zuge der »Ausmerzung jüdischer Namen« in Adolf-Stoecker-Stiftung umbenannt. Der 1909 verstorbene evangelische Pfarrer und Hofprediger Adolf Stoecker ²⁹ , seit 1877 Leiter der gerade gegründeten Berliner Stadtmission, war nicht nur theologisch, sondern vor allem auch politisch tätig gewesen und hatte in seinem Reden und Wirken anti-liberale und anti-sozialistische Positionen mit einem starken Antisemitismus verknüpft. Im Nationalsozialismus als Vorläufer und Wegbereiter rezipiert, erschien Stoecker den Verantwortlichen der Stiftung wohl als geradezu idealer Namenspatron – vereinte er in seiner Person doch eine sozial-diakonische mit einer sozusagen proto-nationalsozialistischen Haltung. Erst 1963 erfolgte eine weitere Umbenennung. Am 9. November 1963, dem 25. Jahrestag der Novemberpogrome, wurde als neuer Namensgeber der Stiftung der biblische Diakon Stephanus bekanntgegeben. ³⁰

    Für den Aufbau des neuen Brüderhauses und als sein erster Hausvater wurde der Diakonenschüler Joachim König ³¹ , selbst erst im zweiten Jahr der Ausbildung, bestimmt. Warum fiel die Wahl gerade auf ihn? Seine Frau, Ilse König ³² , macht dafür unter anderen Gründen die Tatsache geltend, dass er durch Krieg und Gefangenschaft älter als manche andere war und schon mit der damaligen Hausmutter Frau Matho vier Monate im Brüderhaus gearbeitet hatte, während Hausvater Bruder Matho im Krankenhaus war. ³³ Höchstwahrscheinlich hatte er sich dabei sehr bewährt. Er selbst erzählt über die Ereignisse:

    Mir ist das mitgeteilt worden von Herrn Matho, und da bin ich dann zu Pastor Eckstein ³⁴ gegangen, dem Vorsteher, und habe ihm gesagt: »Das geht nicht, das kann ich nicht, bei meiner ganzen Vorbildung ist das schwierig. Ich wurde aus der Schule auch rausgerissen, das war nur ein Notabitur, also: Das geht nicht!« Und da hat er gesagt: »Das geht! Das Examen – (da lagen ja nur zwei Tage dazwischen) – das Examen machen nicht Sie, das machen die Dozenten!« Er war Urbayer, war sonst ein prima Mann, prima Unterricht, sein Hauptfach war Kirchengeschichte, er war auch ein guter Pädagoge, aber er konnte eben auch ganz stur sein, also fertig aus. Und wenn er sich sehr ärgerte, dann sprach er kein Hochdeutsch mehr, sondern bayrisch: »Und dös sag ich Ihnen, der Dozent, der Sie durchfallen lässt, der kriegt’s mit mir zu tun!« Und damit war ich entlassen. Ich hatte zum Glück in Spandau ein Einzelzimmer im Haus, da habe ich mich hingesetzt und habe mir einige Fächer vorgenommen und habe mir die Unterlagen durchgesehen, damit ich wenigstens einiges präsent hatte. So ging es. Dann habe ich bis morgens um halb vier versucht zu repetieren. ³⁵

    Nach diesem vorzeitigen Examen begann Joachim König mit der Einrichtung des von der Stiftung nun so benannten »Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs« (KDL) in Weißensee. Am 5. Oktober 1952 reiste die erste Anwärterklasse an, musste jedoch zunächst noch vier Wochen im Johannesstift untergebracht werden, weil das Haus nicht bezugsfertig war. Erst am 4. November konnten die jungen Männer endgültig einziehen, zeitgleich begann unter der Leitung des Vikars Eberhard Springer die Konzeption des Unterrichts in Weißensee. Zugleich brachen über zwanzig Diakonenschüler, die aus der DDR stammten, ihre Ausbildung im Johannesstift ab und siedelten ebenfalls nach Weißensee über. ³⁶ Johannes Arnold, der 1951 mit der Ausbildung im Johannesstift begonnen hatte, gehörte zu der Klasse, deren Schüler sich innerhalb einer kurzen Frist entscheiden mussten, ob sie im Johannesstift bleiben oder nach Weißensee ziehen wollten. Er erinnert sich an die doch furchtbar schwere Entscheidung . ³⁷ Am zweiten Advent 1952 wurde das Zweitbrüderhaus in Weißensee offiziell eröffnet. ³⁸ Die Chronik der Schüler berichtet:

    Außer P. Braune ³⁹ war noch die Leitung des Johannesstifts und alle Dozenten des KDL mit ihren Frauen erschienen. P. Eckstein verglich den KDL mit einem neugeborenen Kinde, das der Stoecker-Stiftung zur Pflege übergeben worden war. Zu unserer Freude bekamen wir auch an diesem Tage unsere zukünftige Hausmutter zu Gesicht. So hatte sie an diesem Tage die Gelegenheit, einen Blick in ihr »zukünftiges Reich« zu werfen. ⁴⁰

    Das neugeborene Kind KDL begann seine Arbeit mit zehn Anwärtern und 22 jungen Männern, die hier ihre im Johannesstift begonnene Ausbildung fortsetzen wollten. Bis am 5. November 1952 der Unterricht in Weißensee beginnen konnte, fuhren die »Weißenseer« täglich nach Spandau; das neue Brüderhaus war zunächst lediglich der Wohnort der Schüler. ⁴¹ Bis zum Mauerbau 1961 stand der KDL in der Verantwortung des »Kleinen Brüderrates«, einem Gremium, das sich aus Diakonen und Pastoren aus Ost und West zusammensetzte. ⁴² Für aktuelle Fragen von Brüderhaus und Ausbildung in Weißensee waren diejenigen Glieder des Kleinen Brüderrates zuständig, die in Ostberlin ansässig waren. ⁴³ Verantwortlich für die konkrete Ausbildung und das Leben im Haus waren neben dem Hauselternpaar der Vikar und spätere Pfarrer Eberhard Springer, dem es in kurzer Zeit gelang, Dozenten und Dozentinnen für den Unterricht in Weißensee zu gewinnen. ⁴⁴ Untergebracht waren die Diakonenschüler und ihre Hauseltern auf einer Etage im Ernst-Berendt – Haus auf dem Stiftsgelände; die Chronik vermerkt ironisch zum Zustand des Hauses vor Einzug des KDL:

    Ein Brüderhaus gab es nicht – nur eine Etage. Die Besichtigung derselben ergab, daß außer Fenstern, Türen, Dielen und einigen Wänden nichts mehr fehlte. So fing es an. ⁴⁵

    Die Renovierung und Fertigstellung des Hauses war in den ersten Monaten, bevor die Schüler überhaupt einziehen konnten, Joachim Königs Hauptaufgabe, wie er sich erinnert:

    Das war damals erstmal der Aufbau des Ganzen, es musste ja alles organisiert werden, die Bauarbeiten für die zwei Etagen, dann die ganzen Anschaffungen von Mobiliar, das gab es ja nicht frei zu kaufen, da brauchte man immer Bezugsscheine, die musste man sich bei der Stadtverwaltung erkämpfen, und oft lange Verhandlungen führen und erklären, warum das nun notwendig war. Und machmal wurde auch abgelehnt. Also, das war am Anfang sehr viel. ⁴⁶

    Die Schüler der Unterstufe wohnten ab November 1952 in Doppelzimmern in der 5. Etage des Ernst-Berendt-Hauses. Am Anfang gab es in jedem Zimmer ein Doppelstockbett, einen Tisch, zwei Stühle und zwei Kommoden. Später kamen noch Schränke hinzu, angefertigt in Herrnhut. ⁴⁷ Die Einrichtung war schlicht und einfach , Waschräume und Toiletten waren im Flur. ⁴⁸ Die Schülerchronik erzählt:

    Ein Außenstehender wird sagen: »Genau so mögen die ersten Menschen gehaust haben«. Hierfür gibt es aber das schöne Wort: »Lastenausgleich«. Wenn äußerlich auch so manches fehlte, so litt aber die innere Ordnung nicht. Gerade die äußeren Schwierigkeiten haben auch dazu verholfen, enger aneinander zu rücken und doch ein weites Herz für den anderen zu bekommen. ⁴⁹

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    Von Anfang an zeichnete die Diakonenausbildung, so auch in Weißensee, die enge Verbindung von Theorie und Praxis aus. Wie das Evangelische Johannesstift war auch die damalige Stoecker- und heutige Stephanus-Stiftung gleichsam ein großes Klassenzimmer für die Diakonenschüler, die hier ihre Praxiseinsätze ableisteten und sich an den Andachten und Gottesdiensten der Stiftsgemeinde beteiligten. Die mehrmonatigen Praktika und die Gemeindefahrten wiederum führten die Diakonenschüler über die Grenzen der Stiftung hinaus und sorgten für die notwendige Vernetzung, die später in der Berufstätigkeit wichtig wurde.

    2.1 

    U

    NTERRICHTSINHALTE UND

    L

    EHRENDE

    Die Grundstruktur der Ausbildung, wie sie in Weißensee bis zur Einführung der Spezialausbildung in den frühen 1970er Jahren Bestand hatte, war aus dem Johannesstift übernommen worden: Auf eine sechsmonatige »Unterstufe« (die sog. Anwärterklasse) folgte ein ein- oder eineinhalbjähriges Praktikum in einem Heim, danach die einjährige »Mittelstufe« (II. Klasse), anschließend das einjährige Gemeindepraktikum und die wiederum einjährige Oberstufe (I. Klasse), die mit dem Diakonenexamen abgeschlossen wurde. ⁵⁰ Schon in dieser Struktur ist die Verzahnung von Theorie und Praxis konstitutiv. Zudem wurde die Anbindung des Unterrichts an die künftige Berufspraxis dadurch erzeugt, dass ein Drittel der Dozierenden selbst Diakone waren. Insgesamt bestand das Kollegium aus zwanzig meist nebenamtlichen Dozenten. Bis 1961 kamen sechs davon regelmäßig aus dem Johannesstift (Pastor Richard Eckstein, Pastor Paul Bard, Pastor Walter Bressani ⁵¹ , Frau Dr.   Christine Bourbeck ⁵² , Diakon Paul Schönfeld ⁵³ ). Sieben Dozenten waren Diakone, die in Ostberlin arbeiteten ⁵⁴ , und zehn waren hauptamtlich als Gemeindepfarrer tätig. ⁵⁵ Dazu kamen Landesjugendwart Herbert Hennerstdorf und für die Elementarfächer Schulrat Hermann Ambelang und Frau Ambelang. Zusammen mit dem Diakonenexamen wurde das »Katechetenexamen B« abgelegt; seit 1955 war deswegen der frühere Rektor des Katechetenseminars aus Dahme/Mark, Pastor Johannes Schönfeld, als hauptamtlicher Dozent im KDL tätig und unterrichtete bis zum Mauerbau auch im Spandauer Brüderhaus. ⁵⁶

    In den ersten Jahren war ein wesentliches Unterrichtsziel der Unterstufe, den durch die Kriegsjahre oft in ihrer Schullaufbahn unterbrochenen jungen Männern neben biblisch-theologischen Grundkenntnissen auch allgemeines Bildungswissen zu vermitteln. Dazu berichtet Hans-Dietrich Spengler:

    […] die Anwärterklasse war eine biblisch-theologische Grundausbildung und so ein bisschen Allgemeinwissen […], ich hatte gar keinen regulären Schulabschluss. Ich bin nach der 8. Klasse, also mit 15 Jahren, das erste Mal eingezogen worden, in den Osteinsatz. Und die anderen waren ähnlich, auch Flak-Helfer o. Ä. […] Und da hat man eben dort (im KDL, Anm. d. Verf.) dafür gesorgt, dass wir so ungefähr auf ein Bildungsniveau kamen. […] Wir haben unheimlich viel auswendig lernen müssen. ⁵⁷

    Ähnlich äußert sich Bruno Weituschat im Interview:

    Die Schwierigkeit war für mich, dass ich seit dem 9. Lebensjahr praktisch die »Kriegsschule« gemacht hatte und rundgerechnet habe ich nur 5–6 Klassen gehabt, Volksschule. Ich habe aber mit der achten abgeschlossen. Es war in der Kriegszeit so viel Ausfall […]. Jetzt sollte ich aber wieder auf einer Schulbank sitzen, seit dem 14. Lebensjahr hatte ich so etwas nicht mehr gemacht. Aber ich habe Interesse gehabt, vor allem an der Geschichte. ⁵⁸

    Trotz der großen Herausforderung, sich wieder neu an die Schulbank-Situation gewöhnen zu müssen, erwecken die Erinnerungen der Zeitzeugen den Eindruck, dass das Lernen im KDL Freude machte und den Schülern zwar viel zugemutet, aber darin auch viel zugetraut wurde. So sagt Heinz Huth im Interview:

    Altes Testament hatten wir am Anfang bei einem alten Pfarrer aus Weißensee, der uns immer die Psalmen auf Hebräisch vorlas und sagte: »Ich weiß, Sie verstehen das nicht, aber hören Sie mal den Sprachklang an!« ⁵⁹

    Das Curriculum war, auch bedingt durch die Vielzahl der jeweils nur wenige Stunden unterrichtenden Dozenten und deren Schwerpunktsetzungen, vielfältig. Die Chronik des Jahres 1955 hält beispielsweise für den 10. Februar fest:

    Schulrat Ambelang hält vor den Brüdern einen Vortrag, in dem er sie mit der modernen Naturwissenschaft und deren Verhältnis zum christlichen Glauben bekannt macht. O, es sind viele Dinge noch unbekannt und doch sind sie wichtig, das sehen viele Brüder ein. ⁶⁰

    Als zeitgeschichtlichen Hintergrund dieses Vortrags lässt sich die in diesen Jahren von Seiten des Staates begonnene atheistische Beeinflussung der Jugendlichen erkennen – insofern könnte die Intention des erwähnten Vortrags gewesen sein, die angehenden Diakone für die Auseinandersetzung mit staatlich-atheistischer Indoktrination, die vor allem auf dem Feld der Naturwissenschaften ausgetragen wurde, vorzubereiten. ⁶¹

    Für den Unterricht in allgemeinbildenden Feldern wie Grammatik und Literatur konnte der oben erwähnte Schulrat a. D. Hermann Ambelang gewonnen werden, der für insgesamt zwölf Jahre (beginnend im April 1953 ⁶² ) bis zu seinem Unfalltod im Jahr 1965 im KDL tätig war. Gottfried Schubert, der Ambelang selbst noch als Dozenten erlebt hat, schreibt in seinem Vorwort zu einem kleinen Büchlein, in dem er die von Ambelang anlässlich der Examensfeiern im KDL verfassten Gedichte zusammengestellt hat:

    Uns Diakonenschülern, die er »seine lieben Jungens« nannte, war er viel mehr als ein Lehrer für Grammatik und Literatur. Er verstand es, die Weisheit seines langen Lebens an uns weiterzugeben. Wir haben unendlich viel von ihm gelernt und ihn verehrt. In Konflikten unter uns, aber auch hin zu Dozenten und Lehrgangsleitung verstand er es zu vermitteln, ohne dass ein Beteiligter um seine Würde bangen musste. ⁶³

    In seinen »Abschlussworten für den Jahrgang 1960« im oben erwähnten Büchlein gesteht Ambelang humorvoll reimend die beeindruckende

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