Schulabsentismus: Praktische Handlungsansätze im Umgang mit Schulversäumnissen
Von Heinrich Ricking und Viviane Albers
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Über dieses E-Book
Heinrich Ricking und Viviane Albers vermitteln praxisbezogene Instrumente zur Einschätzung der Hintergründe von Schulversäumnissen und präsentieren darauf abgestimmte Handlungsansätze. Sie reichen von geeigneten Beobachtungskriterien über Vorschläge zu alternativen Beschulungsmaßnahmen bis zu Formulierungshilfen für Gespräche mit betroffenen Schülern und deren Erziehungsberechtigten.
Neben der akuten Intervention geht es den Autoren auch um die langfristige Prävention. Sie nehmen dazu sowohl die pädagogische Arbeit im Unterricht als auch die organisatorische Ebene im "System Schule" in den Blick. Dieser umfassende Ansatz ermöglicht es pädagogischen Fachkräften, die mit Schulabsentismus konfrontiert sind, eigene Maßnahmen zu reflektieren, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen und Erfolge langfristig zu sichern.
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Rezensionen für Schulabsentismus
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Buchvorschau
Schulabsentismus - Heinrich Ricking
Autoren
Einleitung
Sie als Lehrkraft nehmen eine Schlüsselrolle dabei ein,
die Schulanwesenheiten Ihrer Schüler zu fördern!
Die gute Nachricht: Es obliegt nicht Ihnen allein.
Die regelmäßige Anwesenheit von Schülern im Unterricht ist essenziell für einen guten schulischen Erfolg. Zu oft realisieren Schüler¹, Eltern und Schulen nicht, wie schnell sich Schulversäumnisse – ob entschuldigt oder nicht – aufaddieren und in schulische Probleme münden. Sie führen häufig dazu, dass z. B. Drittklässler nicht richtig lesen können, Sechstklässler Fächer nicht bestehen oder Neuntklässler die Schule ganz abbrechen. Aber Schulabsentismus beschränkt sich in den Auswirkungen nicht auf den Bereich der Schule, sondern zeigt erhebliche Langzeitfolgen, u. a. einen geringen oder fehlenden Schulabschluss, die deutlich erschwerte berufliche Integration, eingeschränkte Verdienstmöglichkeiten oder ein hohes Risiko für Kriminalität (Kearney 2016; Ricking u. Schulze 2012; Sutphen, Ford u. Flaherty 2010). Schulabsentismus umreißt als Fachbegriff alle Verhaltensmuster, bei denen Schüler ohne ausreichende Berechtigung der Schule fernbleiben. Dabei verletzen sie nicht nur die Schulpflicht und begehen so eine Ordnungswidrigkeit, sondern blockieren i. d. R. auch den eigenen Lernfortschritt und begrenzen ihre Zukunftschancen. Die besondere Relevanz dieser Frage ergibt sich somit aus den Konsequenzen für die Lebensperspektive der Betroffenen (Stamm et al. 2009).
Schulabsentismus umfasst in allen Schulformen und Jahrgängen auffindbare Verhaltensmuster von Kindern und Jugendlichen, die oft in problematische Lebens- und Lernbezüge eingebunden sind. Das gelegentliche Aussetzen des Schulbesuchs – selten und in geringem zeitlichen Umfang – kommt bei einem großen Teil der Schülerschaft vor und wird zumeist als Bagatelle oder vorübergehende und entwicklungstypische Randerscheinung interpretiert. Schwierig wird es, wenn sich die Fehlzeiten häufen und in der schulischen Leistungsbilanz niederschlagen, wenn weitere problematische und eskalierende Verhaltensmuster damit einhergehen und generell die psychosoziale Entwicklung des Heranwachsenden gefährdet ist. Dabei ist von einem beträchtlichen Anteil der Schulpflichtigen auszugehen, die bereits deutlich erkennbare und z. T. verfestigte schulabsente Verhaltensmuster aufweisen. Die Untersuchungsergebnisse bestärken die Einschätzung von Schulabsentismus als Wegbereiter sozialer Negativkarrieren mit kumulierenden und interagierenden Lebensproblemen, überschattet von psychischen, psychiatrischen und familiären Schwierigkeiten (Ricking u. Dunkake 2017).
Daher sollte es ein pädagogisches Ziel sein, der Prävention von Schulabsentismus einen hohen Stellenwert einzuräumen, schulaversive Entwicklungen möglichst zu verhindern und desintegrative Verhaltensmuster nicht voll wirksam werden zu lassen (Michel 2005; Ricking 2007). Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die mangelnde Teilhabe an schulischer Bildung erschwert ein integriertes Leben in der heutigen Gesellschaft eminent. Schüler, die trotz Schulpflicht nur unregelmäßig oder gar nicht mehr am Unterricht teilnehmen, verschlechtern zumeist ihre Lebensperspektiven deutlich (Ricking u. Schulze 2012).
Lehrkräfte nehmen eine Schlüsselrolle in der Vermittlung regelmäßiger Schulbesuchsgewohnheiten ein. Infolgedessen ist die Prävention von Schulversäumnissen bzw. ihre Reduzierung im pädagogischen Handeln keinesfalls als nachrangig zu betrachten. Jede Fehlzeit ist ernst zu nehmen – ob entschuldigt oder nicht. Die Handlungsbereiche einer Lehrkraft erstrecken sich vom Erkennen schülerbezogener Erscheinungsformen über Kenntnisse schulrechtlicher Vorgaben bis zum Wissen über Handlungsmaßnahmen schulischer Prävention und Intervention.
Die folgende Abbildung soll die zentralen Handlungsbereiche einer Lehrkraft zusammenfassen und gibt gleichermaßen einen Überblick über die folgenden Inhalte:
Abb. 1: Zentrale Handlungsbereiche (eigene Darstellung)
Die Autoren bedanken sich herzlich bei Frau Maj-Britt Klein für Ihre tatkräftige Unterstützung.
1Zur besseren Lesbarkeit verwenden wir bei der Bezeichnung von Personengruppen nur die männliche Form. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gleichermaßen gemeint.
1Formen und Begriffe
1.1Erscheinungsformen von Schulabsentismus
Der Erfolg präventiver und interventiver Handlungsmaßnahmen bei Schulversäumnissen ist davon abhängig, wie spezifisch sie an die unterschiedlichen Erscheinungsformen angepasst werden. Die folgende Klassifikation von Schulabsentismus bezieht sich auf die ursächlichen Faktoren, legitimiert sich durch deutlich unterscheidbare Bedingungen und ist international anerkannt (Thambirajah, Grandison a. De-Hayes 2013; Hallam a. Rogers 2008; Kearney 2001, 2016; Reid 1999, 2014; Ricking, Schulze u. Wittrock 2009). Demnach lassen sich grundlegend drei Erscheinungsformen voneinander abgrenzen: (1) Schulschwänzen, (2) angstbedingte Schulmeidung und (3) elternbedingte Schulversäumnisse/Zurückhalten, bei dem die Fehlzeiten von Eltern herbeigeführt oder toleriert werden.
Abb. 2: Synoptischer Blick auf die Erscheinungsformen (Ricking 2014)
Um sich als Lehrkraft den Fragestellungen des Schulabsentismus gegenüber gut zu positionieren, ist es unabdingbar, sich eingehend mit diesem vielschichtigen Phänomen auseinanderzusetzen. Dabei ist das Problem Schulabsentismus nicht einfach einzuschätzen bzw. zu diagnostizieren. Individuelle Problemkonstellationen setzen sich aus dem Zusammenwirken von Bedingungsfaktoren beim Schüler, der Familie, der Schule und den Peers zusammen und resultieren schließlich in Schulmeidung. Übergänge in neue sozial-ökologische Kontexte (Transitionen) – wie Umzüge oder Schulwechsel – stellen ein besonderes Risiko für gefährdete Schüler dar. Beeinträchtigungen im Lernen und/oder Verhalten wie auch psychische Störungen sind als weitere Risikofaktoren für Schulabsentismus und Schulabbruch zu nennen.
Schulabsentismus umfasst als Oberbegriff alle Formen und Intensitäten illegitimer Schulversäumnisse (Ricking et al. 2009). Es ist somit ein facettenreiches Phänomen mit vielen möglichen Ursachen, Entwicklungsverläufen, Intensitäten und Folgen und lässt sich folgendermaßen definieren:
»Schulabsentismus umfasst diverse Verhaltensmuster illegitimer Schulversäumnisse multikausaler und langfristiger Genese mit Einflussfaktoren der Familie, der Schule, der Peers, des Milieus und des Individuums, die einhergehen mit weiteren emotionalen und sozialen Entwicklungsrisiken, geringer Bildungspartizipation sowie einer erschwerten beruflichen und gesellschaftlichen Integration und die einer interdisziplinären Prävention und Intervention bedürfen« (Ricking, Albers u. Dunkake 2016, S. 147; Ricking u. Hagen 2016, S. 18).
Der Begriff Schulabsentismus ist in diesem Kontext charakterisiert durch die physische Abwesenheit eines Schülers aus dem Wirkbereich der Schule. Er beschreibt verschiedene Formen und Ursachen von Schulversäumnissen und umreißt als Fachbegriff alle Verhaltensmuster, bei denen Schüler ohne Berechtigung der Schule fernbleiben. Im weiteren Sinn verdichtet sich hier auch die Frage der Teilhabe von Heranwachsenden am Bildungssystem. Im Folgenden soll ein