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Kindesmisshandlung: Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter
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eBook874 Seiten6 Stunden

Kindesmisshandlung: Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter

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Über dieses E-Book

Neben Grundlagen zur Epidemiologie, Diagnostik und Psychobiologie behandelt das Buch die zentrale Rolle von Kindesmisshandlung in der Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung vielfältiger psychischer, aber auch körperlicher Erkrankungen. Zudem werden Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere spezifische neuere Therapieansätze, praxisnah von Experten vorgestellt. Auch besondere Aspekte wie die Selbststigmatisierung der Opfer, die Relevanz dieses Themas im hohen Lebensalter und forensische Implikationen kommen zur Darstellung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Nov. 2012
ISBN9783170275089
Kindesmisshandlung: Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter

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    Buchvorschau

    Kindesmisshandlung - Carsten Spitzer

    Vorwort

    Zu Beginn unserer klinischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den direkten und indirekten Folgen von Kindesmisshandlungen im Erwachsenenalter gab es insbesondere im deutschsprachigen Raum nur wenige Kollegen, die dieses Interesse geteilt haben. Auch in der wissenschaftlichen Literatur tauchte diese Thematik allenfalls randständig und wenig systematisiert auf. Dies hat sich – und das sehen wir durchaus als Erkenntnisfortschritt – glücklicherweise grundlegend geändert: Biographisch frühe Traumatisierungen in Form von Missbrauch und Vernachlässigung sind als relevantes Thema im »Mainstream« der Psychiatrie, Psychosomatik, klinischen und medizinischen Psychologie sowie Neurobiologie angekommen und werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für die körperliche Gesundheit auch zunehmend von den somatischen Nachbardisziplinen zur Kenntnis genommen.

    Unser Buch versucht daher, die Komplexität der Thematik, die Vielfältigkeit der Perspektiven und natürlich den aktuellen Wissensstand widerzuspiegeln. Um dem gerecht zu werden, muss ein großer Bogen gespannt werden: So widmet sich der erste Teil allgemeinen Grundlagen wie Epidemiologie, tierexperimentellen und neurobiologischen Aspekten sowie psychoneuroimmunologischen Befunden. Ergänzend werden entwicklungspsychologische Facetten aus kinder- und jugendpsychiatrischer bzw. -psychotherapeutischer Perspektive, die Auswirkungen von Kindesmisshandlungen auf Selbst- und Körperbild sowie das Bindungsverhalten dargestellt. Ein Kapitel zur Psychodiagnostik von Missbrauch und Vernachlässigung komplettiert den ersten Abschnitt. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich intensiv mit der Bedeutung biographisch früher Traumatisierungen für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung diverser psychischer und körperlicher Krankheiten. Neben der Darstellung von »Klassikern« wie depressiven, dissoziativen und Persönlichkeitsstörungen war es unser ausdrückliches Anliegen, auch bisher wenig beachteten Krankheitsbildern wie psychotische Störungen, kardiovaskuläre, respiratorische und Autoimmunerkrankungen im Kontext von Kindesmisshandlungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der ausführliche und vielfältige dritte Teil zeigt eindrucksvoll, dass mittlerweile reichhaltige Erfahrungen und Fertigkeiten in der psychotherapeutischen Behandlung von Erwachsenen mit Misshandlungen in Kindheit und Jugend vorliegen. In dem abschließenden vierten Teil werden besondere Aspekte aufgegriffen, die für die Thematik von Missbrauch und Vernachlässigung eminent wichtig sind, jedoch bisher eher selten und meist unsystematisch in diesem Kontext elaboriert worden sind. Dazu zählen insbesondere Kindesmisshandlungen als Thema älterer Menschen, Delinquenz und frühe Stresserfahrungen, Tätertypologien sowie die Stigmadiskussion. Es versteht sich von selbst, dass wir diesen weiten Bogen nicht alleine und ohne die tatkräftige Unterstützung vieler namhafter Kolleginnen und Kollegen hätten spannen können. Dabei sind wir als Herausgeber gleichermaßen stolz wie dankbar, dass dieser Bogen nicht nur weit, sondern auch rund geworden ist.

    Dennoch: Trotz aller Fortschritte bleibt unser Wissen über die psychischen und körperlichen Folgen von Kindesmisshandlungen im Erwachsenenalter lückenhaft und so möchten wir unser Buch nicht ausschließlich als detaillierte Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Kenntnisstandes verstanden wissen, sondern ebenso als Ansporn, sich weiterhin intensiv mit dieser Thematik klinisch und wissenschaftlich auseinanderzusetzen. In diesem Sinne haben wir auch das Titelbild gewählt. In seinem Gemälde »Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler« aus dem Jahre 1926 verarbeitet Max Ernst nicht nur eigene Misshandlungen durch den strengen Vater, sondern provoziert auch durch das Unerhörte seines Bildes geradezu zu einer Auseinandersetzung und Stellungnahme.

    Neben den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen zu dem Gelingen unseres Vorhabens entscheidend beigetragen haben, gilt unser Dank dem W. Kohlhammer Verlag, namentlich Herrn Dr. R. Poensgen, Frau M. Daus und Frau U. Döring, ohne deren Initiative dieses Buch gar nicht erst zustande gekommen wäre.

    Tiefenbrunn und Stralsund,

    im Oktober 2012

    Carsten Spitzer

    Hans Jörgen Grabe

    Teil A: Grundlagen

    1 Epidemiologie von Kindesmisshandlung

    Matthias Becker und Andrea Schulz

    Kapitelübersicht

    1 Einleitung

    2 Kindesmisshandlung in Deutschland – das Hellfeld

    3 Kindesmisshandlung in Deutschland – das Dunkelfeld

    4 Internationale Befunde

    1 Einleitung

    Kindesmisshandlung wird zunehmend als bedeutsames Problem für Gesundheit und Gemeinwohl in Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländern wahrgenommen. Zur Häufigkeit und Verbreitung von Kindesmisshandlung, im Sinne von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und schwere Form der Verletzung des Kindeswohls, liefern unterschiedliche Datenquellen ein sehr heterogenes Bild. Abhängig von Definition, Ein- und Ausschlusskriterien für Kindesmisshandlung, herangezogener Erhebungsmethode sowie Interessenlage der Verfasser von Statistiken sind beachtliche Unterschiede in den berichteten Prävalenzzahlen zu verzeichnen. So schwanken nach Wetzels (1997) die Prävalenzen der jährlich in Deutschland von Misshandlungen betroffenen Kinder zwischen 4000 und 400 000 Fällen, wobei in einigen Quellen sogar von Millionen gesprochen wird. Es ist davon auszugehen, dass diese extremen Werte die Endpunkte eines von skandalisierend bis bagatellisierend reichenden Spektrums darstellen. Eine Annäherung an die wahren epidemiologischen Werte ist nur durch eine kritische Begutachtung der unterschiedlichen Quellen und ihren jeweiligen methodischen Besonderheiten möglich. Darüber hinaus ist es bei der Betrachtung der epidemiologischen Zahlen zwingend notwendig, zwischen offiziellen Statistiken und der geschätzten Dunkelziffer der Misshandlungsfälle zu unterscheiden. Während soziale Einrichtungen wie Jugendämter und Kinderschutzbünde sowie Polizeidienststellen und Krankenhäuser die offiziellen Daten zusammenstellen, beruhen Statistiken zur Dunkelziffer vornehmlich auf unabhängigen wissenschaftlichen Studien.

    2 Kindesmisshandlung in Deutschland – das Hellfeld

    Die seit 1953 vom Bundeskriminalamt (BKA) herausgegebene Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) liefert die von der Bundesregierung offiziell anerkannten epidemiologischen Daten zur Gewalt gegen Kinder. Sie ist die einzige jährlich aktualisierte Datenquelle, die Aufschluss über alle polizeilich erfassten Straftaten im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung gibt. Erfasst werden alle binnen eines Jahres in Deutschland zur Anzeige gebrachten strafrechtlich relevanten Verdachtsfälle von Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs von Kindern¹. Nicht explizit enthalten sind Daten zum emotionalen Missbrauch und zur Vernachlässigung. Da die in der PKS ermittelten Häufigkeiten abhängig vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung sind, bleiben nicht berichtete Straftaten im Verborgenen. Die Bereitschaft, eine erfahrene Misshandlung polizeilich zu melden, ist trotz einer stetigen Zunahme über die letzten zwei Jahrzehnte immer noch sehr gering. So berichten in einer groß angelegten repräsentativen deutschen Befragung lediglich zwischen 11,7 % und 18,0 % der Betroffenen, einen erfahrenen sexuellen Übergriff in der Kindheit polizeilich angezeigt zuhaben (Bieneck, Stadler und Pfeiffer 2011). Festzustellen ist außerdem, dass Männer zumindest ihre sexuellen Missbrauchserlebnisse deutlich seltener zur Anzeige bringen als Frauen (11,9 % gegenüber 15,7 %).

    Für das Jahr 2010 weist die PKS 3731 Fälle von Misshandlungen an Kindern und 11 867 Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern aus (► Tab. 1).

    Tab. 1: Fallentwicklung und Aufklärung von Gewalt gegen Kinder (Bundeskriminalamt 2010)

    Nachdem der sexuelle Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176 a, 176 b StGB) 2009 den niedrigsten Wert seit 1993 erreicht hatte, sind die registrierten Fälle 2010 wieder um 4,8 % auf 11 867 Fälle angestiegen. Trotz dieser leichten Zunahme verdeutlichen die Werte aus dem Jahre 2000 die durchaus positive Entwicklung. Binnen zehn Jahren ist sowohl die Zahl der registrierten Übergriffe um über 3700 Vorfälle gesunken, als auch die Aufklärungsquote um fast 10 % auf 83,9 % gestiegen. Weitaus weniger registrierte Fälle sind für Kindesmisshandlungen zu verzeichnen. Im Gegensatz zu den Missbrauchsvorfällen ist hier eine stetige Zunahme von 2130 Fällen im Jahre 2000 auf über 3700 im Jahre 2010 registriert worden. Zusammenfassend ist also festzustellen, dass die angezeigten Delikte körperlicher Misshandlungen in zehn Jahren um knapp 74 % zugenommen, die Anzeigen aufgrund sexuellen Missbrauchs in diesem Zeitraum aber um 24 % abgenommen haben.

    Ein etwas anderes Bild liefern Befunde aus dem alljährig vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Bericht zur Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland (DESTATIS 2011). Aufgeführt werden hier alle von Jugendämtern durchgeführten vorläufigen Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche. Diese umfassen die Inobhutnahme sowie die Herausnahme eines Kindes oder Jugendlichen aus der Familie wegen einer potentiellen Gefährdung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens. Für das Jahr 2010 zeigt sich, dass von insgesamt 36 443 durchgeführten Schutzmaßnahmen 3450 (9,5 %) aufgrund von Anzeichen für Misshandlungen und 710 (2,0 %) aufgrund des Verdachts auf sexuellen Missbrauch stattfanden. Die absoluten Zahlen widersprechen den in der PKS aufgeführten Häufigkeiten von sexuellem und körperlichem Missbrauch. Während die in der PKS für das Jahr 2010 aufgeführten sexuellen Missbrauchsanzeigen die der Anzeigen aufgrund von körperlichen Misshandlungen um rund ein Drittel überstiegen, erfolgten die durch Jugendämter durchgeführten Schutzmaßnahmen fünfmal häufiger aufgrund von körperlichem als von sexuellem Missbrauch. Die Einsätze des Jugendamtes aufgrund von Verdacht auf sexuellen Missbrauch haben seit 1995 um knapp zwei Drittel abgenommen. Im Gegensatz zu den Daten in der PKS erhöhte sich die Zahl der Schutzmaßnahmen aufgrund körperlichen Missbrauchs um 275 %.

    Anders als der PKS lassen sich der Statistik der Kinder- und Jugendhilfe Hinweise zur Häufigkeit von Vernachlässigungen im Kindesalter entnehmen. So fanden fast 12 % aller 2010 durchgeführten Schutzmaßnahmen aufgrund von Vernachlässigungsfällen statt. Für knapp ein Drittel der 925 Herausnahmen aus der Familienumgebung wurde als Grund die Vernachlässigung des Kindes angegeben. Eine Betrachtung des Langzeittrends bestätigt dieses negative Bild. Seit 1995 stieg die Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen durch die Jugendämter um 71 %.

    3 Kindesmisshandlung in Deutschland – das Dunkelfeld

    Die offiziellen behördlichen Statistiken lassen nur erahnen, mit welcher tatsächlichen Prävalenz Traumatisierungen im Kindesalter vorliegen. Eine Aufhellung des Dunkelfeldes ist in einem gewissen Rahmen durch die Erhebung repräsentativer empirischer Daten möglich. Jedoch sind die so erhaltenen epidemiologischen Zahlen je nach Güte der Studienmethodik lediglich Schätzungen von unterschiedlicher Genauigkeit. Der überwiegende Großteil der nationalen und internationalen Forschungsarbeiten beruht auf retrospektiven Aussagen von Erwachsenen zur Natur und Häufigkeit von Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Bei einer Interpretation dieser Angaben muss sowohl ein mögliches Verschweigen bestimmter Ereignisse aufgrund von Scham oder sozialen Faktoren als auch eventuelle kognitive Verzerrungen in Betracht gezogen werden (vgl. Bernet und Stein 1999). So berichten Widom und Morris (1997) in ihrer Studie, dass 37 % der von ihnen befragten Personen Erlebnisse eines rund 20 Jahre zurückliegenden sexuellen Missbrauchs nicht angaben. Bei einer Zeitspanne von 13 Jahren zwischen dem Missbrauch und der Befragung verringert sich der Anteil der Personen, die ihre Missbrauchserfahrungen nicht offenlegen auf 19 % (Goodman et al. 2003).

    3.1 Körperlicher Missbrauch

    Ein Versuch, die Dunkelziffer der Kindheitstraumatisierungen in Deutschland aufzuschlüsseln, geht vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) aus (Baier et al. 2009). Im Rahmen einer groß angelegten Fragebogenuntersuchung an über 44 610 Schülern berichteten lediglich 42,1 % der Kinder ohne jegliche elterliche Gewalt aufgewachsen zu sein. Über ihre gesamte Kindheit hinweg (vor dem 12. Lebensjahr) wurden 15,3 % der Jugendlichen Opfer schwerer Gewalt durch die Eltern, wobei von diesen knapp 9 % als körperlich misshandelt bezeichnet werden können. Mit anderen Worten macht knapp jeder sechste Jugendliche Erfahrungen mit massiver körperlicher Gewalt durch die Erziehungsberechtigten. Da die Studie den Anspruch hat repräsentativ zu sein, bietet sich die Möglichkeit, auf das Gesamtausmaß der körperlichen Elterngewalt in Deutschland zu schließen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben in Deutschland rund 8,5 Millionen Kinder dieser Altersgruppe. Somit sind knapp 1,3 Millionen Kinder von schweren Züchtigungen oder Misshandlungen betroffen.

    3.2 Sexueller Missbrauch

    Zur Ermittlung der Dunkelziffer des sexuellen Missbrauchs im Kindesalter existieren in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) derzeit nur zwei repräsentative Studien. Beide Untersuchungen wurden vom KFN in Hannover an großen Stichproben durchgeführt. In der ersten Studie (1992) wurden 3289 Jugendliche und Erwachsene systematisch über eventuelle Missbrauchserlebnisse in der Kindheit befragt (Wetzels 1997). Die zweite Studie stellt eine Wiederholung und Erweiterung der ersten Befragung dar. Mithilfe eines ausführlichen Fragebogens und eines kurzen vorgeschalteten Interviews wurden insgesamt 11 428 Personen zwischen 16 und 40 Jahren nach dem Vorhandensein sexueller Missbrauchserlebnisse in ihrer Kindheit befragt (Bieneck et al. 2011). Wie auch die erste Untersuchung hat die Nachfolgestudie den Anspruch, hinsichtlich regionaler und demographischer Aspekte für die BRD repräsentativ zu sein. Der sexuelle Missbrauch wurde sowohl 1992 als auch 2011 über das Stattfinden von mindestens einer von sieben sexuellen Handlungsformen vor dem 16. Lebensjahr mit einer zum Zeitpunkt des Vorfalls mindestens fünf Jahre älteren Person definiert. Mit jeweils einem Item wurden die Entblößung des Täters bzw. exhibitionistische Handlungsformen sowie sonstige, nicht anderweitig klassifizierbare sexuelle Handlungen erhoben. Die übrigen fünf Handlungsformen wurden zu der Kategorie »sexueller Missbrauch mit Körperkontakt« zusammengefasst. Es zeigte sich, dass 3,6 % der befragten Personen in ihrer Kindheit Opfer von exhibitionistischen Handlungen wurden. Über Missbrauchserlebnisse mit Körperkontakt berichteten 4,1 % der Probanden. Während die Hälfte der berichteten Entblößungen des Täters nur einmalig vorkamen, überstiegen die wiederholten sexuellen Übergriffe mit Körperkontakt diese um das zweieinhalbfache. Frauen sind von Exhibitionismuserfahrungen viermal und von den übrigen Handlungsformen mit Körperkontakt fünfmal häufiger betroffen als Männer. Bei der Interpretation dieser Zahlen muss eine aus dem Studiendesign resultierende Einschränkung berücksichtigt werden. So ist es nicht möglich zu differenzieren, ob Mehrfachnennungen in den sieben Handlungsformen tatsächlich von einander isolierte Vorfälle darstellten oder Teil eines einzelnen sexuellen Übergriffes waren. Somit ist nicht auszuschließen, dass die ermittelten Prävalenzen bei einer weniger detaillierten Aufschlüsselung der sexuellen Missbrauchsformen geringer ausfallen würden. Neben derartigen methodischen Besonderheiten wird die Höhe der berichteten Prävalenzen auch durch die herangezogenen definitorischen Kriterien beeinflusst. Beispielsweise variiert das herangezogene Schutzalter, unter dem sexuelle Handlungen als missbräuchlich etikettiert werden, je nach Studie zwischen dem 14. und dem 18. Lebensjahr, wobei in einigen Fällen komplett auf eine Altersgrenze verzichtet wird (vgl. Wetzels 1997). Bieneck und Mitarbeiter (2011) haben die Auswirkungen des unterschiedlich definierten Schutzalters auf die Prävalenzen untersucht. Sie schlüsselten die berichteten Missbrauchserlebnisse nach dem Zeitpunkt ihres Eintretens in die Kategorien vor dem 14. Lebensjahr, bis zum 16. Lebensjahr und einschließlich des 16. Lebensjahres auf. Bei einer Schutzaltersgrenze von unter 14 Jahren berichten 5,0 % der weiblichen und 1,4 % der männlichen Untersuchungsteilnehmer über sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt. Unter Einschluss der zum Zeitpunkt des Missbrauchs 14- und 15 - Jährigen erhöhen sich die Anteile bei den befragten weiblichen Personen auf 6,5 % und bei den befragten männlichen Personen auf 1,3 %. Es zeigte sich also, dass die große Mehrzahl der sexuellen Missbrauchsfälle bereits vor dem 14. Lebensjahr stattfindet, das Risiko Opfer sexueller Gewalt zu werden in den nachfolgenden Jahren aber weiterhin gegeben ist.

    Die bereits im Hellfeld beschriebene Abnahme der sexuellen Missbrauchsvorfälle im Kindesalter kann durch die Studie von Bieneck et al. (2011) auch für das Dunkelfeld bestätigt werden. Während aus der Gruppe der Personen zwischen 31 und 40 Jahren noch 5,3 % über Missbrauchserfahrungen mit Körperkontakt berichten, sanken die Zahlen bei den 21- bis 30-Jährigen auf 4,0 %. In der Gruppe der zum Zeitpunkt der Befragung 16- bis 20-Jährigen beträgt der Prozentsatz der Betroffenen »nur« noch 1,8 %. Der innerhalb der Stichprobe dieser Untersuchung festgestellte Rückgang der sexuellen Übergriffe im Kindesalter kann auch an den Daten der 1992 durchgeführten Vorgängerstudie (Wetzels 1997) bestätigt werden. Dies zeigt, dass sich die positive Entwicklung auch stichprobenübergreifend wiederfindet. Als Ursachen für diese rückläufige Entwicklung führen Bieneck, Stadler und Pfeiffer (2011) die gesteigerte Anzeigebereitschaft der von Missbrauch betroffenen Personen an. Diese könnte einen hemmenden Einfluss auf potentielle Missbrauchstäter ausüben. Während zum jetzigen Zeitpunkt in etwa jeder dritte Täter mit einem Strafverfahren zu rechnen hat, wurde in den 1980er-Jahren gerade einmal jeder zwölfte Täter strafrechtlich verfolgt. Als weiterer Einflussfaktor für den Rückgang der sexuellen Missbrauchsdelikte ist die gesteigerte soziale und mediale Aufmerksamkeit für die Thematik des Kindesmissbrauchs zu nennen. Durch die Organisation von Opferhilfen und öffentlichen Stellungsnahmen von potentiellen Tätern (z.B. Internate, kirchliche Einrichtungen) wird das Offenlegen von sexuellen Missbrauchserfahrungen fortlaufend enttabuisiert. Die Thematik sexueller Missbrauch stößt auch in der Politik auf ein zunehmendes Interesse. Dies zeigt sich beispielsweise durch die 2010 von der Bundesregierung eingesetzten unabhängigen Bundesbeauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Aus dem Abschlussbericht dieses Expertengremiums (UBSKM 2011) sind neben epidemiologischen Kennwerten auch konkrete Empfehlungen für Hilfen und Präventionen ableitbar.

    3.3 Emotionale und körperliche Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch

    Die Missbrauchsformen der emotionalen und körperlichen Vernachlässigung sowie des emotionalen Missbrauchs finden weder im wissenschaftlichen noch im gesamtgesellschaftlichen Kontext eine ausreichende Beachtung. Nur in besonders tragischen und schweren Fällen gelangen Berichte über Vernachlässigungen an die Öffentlichkeit. Als Folge dieses mangelnden Interesses existieren für die BRD sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld kaum verlässliche Daten zum Ausmaß dieser Kindheitstraumata. Die verfügbaren Angaben zu Prävalenzen sind zum Großteil entweder sehr kleinen und stark umgrenzten Stichproben entsprungen oder deren Quelle ist nicht nachvollziehbar (vgl. Herrmann 2005). Darüber hinaus stellen die sehr heterogenen Erscheinungsformen dieser Missbrauchsarten Wissenschaftler und Diagnostiker vor eine besondere Herausforderung. Sowohl Art als auch Dauer und Schwere der Symptomatik unterscheiden sich von Fall zu Fall teils erheblich. Weiterhin ist zu beachten, dass Vernachlässigungen in der Regel sehr gravierend und langanhaltend sein müssen, bevor ihre emotionalen und körperlichen Folgen überhaupt zu Tage treten und von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Dies erschwert die Ermittlung der Punktprävalenz dieser Missbrauchsformen zunehmend.

    Dass Vernachlässigungen im Kindesalter ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem darstellen, wurde bereits unter Punkt 1 dieses Kapitels angedeutet. Bestätigt werden die Daten aus dem Hellfeld durch Zahlen aus der bevölkerungsrepräsentativen Greifswalder SHIP-LEGENDE-Studie (Appel et al. 2011; Grabe et al. 2010; Völzke et al. 2011). Es zeigte sich, dass von den rund 2200 befragten Probanden 55,1 % Erfahrungen mit körperlicher oder emotionaler Vernachlässigung in ihrer Kindheit machten (Becker 2011). Nahezu die Hälfte der betroffenen Personen gab an, Opfer beider Formen der Vernachlässigung geworden zu sein. In einer anderen repräsentativen deutschen Studie ergaben sich Prävalenzen von 49,5 % für emotionale und 48,4 % für körperliche Vernachlässigung (Häuser et al. 2011).

    Der emotionale Missbrauch vereinigt sowohl Komponenten der aktiv-schädigenden Missbrauchsformen des körperlichen und sexuellen Missbrauchs als auch Anteile der passiv unterlassenden Formen der Vernachlässigung. Ähnlich den Vernachlässigungen liegen auch zu dieser Thematik kaum wissenschaftliche Arbeiten vor. In der Untersuchung von Becker (2011) zeigte sich, dass 11,8 % der befragten Personen über Episoden emotionalen Missbrauchs während ihrer Kindheit berichten. Mit 12 % ist der Anteil der emotional missbrauchten Personen bei Häuser und Kollegen (2011) berichteten Zahl nahezu identisch.

    Die angeführten Befunde der beiden repräsentativen deutschen Studien (Becker 2011; Häuser et al. 2011) machen deutlich, dass den Kindheitstraumata der Vernachlässigung und des emotionalen Missbrauchs ein vermehrtes Forschungsinteresse zukommen sollte. Wie Jonson-Reid und Mitarbeiter bereits 2003 feststellten, kommen »Vernachlässigungen [...] am häufigsten vor, verlaufen besonders oft chronisch und sind bei wiederholt erfassten Fällen häufig mit anderen Gewaltformen verknüpft« (Jonson-Reid et al. 2003).

    4 Internationale Befunde

    Anders als für die Bundesrepublik Deutschland lässt sich auf internationaler Ebene ein recht umfassendes Bild der Verbreitung der unterschiedlichen Arten der Kindheitstraumata zeichnen. Während die offiziellen epidemiologischen Zahlen der BRD nahezu vollständig der polizeilichen Kriminalstatistik entspringen, werden in den USA aufgrund gesetzlicher Meldepflichten zentrale Register der von verschiedenen Fachkräften gemeldeten Verdachtsfälle von Misshandlung von Kindern geführt. Das US-Department of Health and Human Services (2011) hat diese Daten für das Jahr 2010 in einem Bericht zusammengestellt. So erhielten die US-amerikanischen Kinderschutzbünde rund drei Millionen Hinweise auf potenzielle Misshandlungs-, Missbrauchs- oder Vernachlässigungsvorfälle. Hinweisgeber waren in 60 % der Fälle Personen, die aufgrund ihrer Berufstätigkeit mit den Kindern in Kontakt kamen, wie Kindergartenerzieher oder medizinisches Personal. Die restlichen 40 % der Hinweise gingen von Nachbarn, Freunden, Verwandten, anderen Behörden und anonymen Quellen ein. Von den verdächtigten Familien wurden knapp 60 % von den Behörden in ihrer häuslichen Umgebung überprüft. In einem Viertel der Fälle konnte der Verdacht bestätigt werden. Überträgt man die Prozente in absolute Zahlen, dann ergeben sich in den USA jährlich rund 700 000 Opfer von Misshandlungen im Kindesalter. Laut des Berichtes haben über 75 % (78,3 %) der Kinder eine Form der Vernachlässigung erfahren, 17,6 % wurden körperlich und 9,2 % sexuell missbraucht. Bei 8,1 % der Kinder konnten emotionale Missbrauchserlebnisse bestätigt werden. Diese Verteilung auf die Kategorien sexueller, körperlicher und emotionaler Missbrauch sowie emotionale und körperliche Vernachlässigung blieb die letzten Jahre über auf einem konstanten Niveau.

    Auch wenn durch diese zusätzliche Datenquelle das Hellfeld der Traumatisierungen im Kindesalter etwas vergrößert werden kann, muss trotzdem weiterhin von einer beträchtlichen Dunkelziffer ausgegangen werden. Nach Gilbert et. al (2009) müssen die offiziell berichteten Zahlen um das zehnfache erhöht werden, um der tatsächlichen Prävalenz gerecht zu werden. Diese Prognose findet auch in einer anderen Studie Bestätigung (MacMillan, Jamieson und Walsh 2003). Nach dieser werden kanadische Kinderschutzbünde nur über etwa 5 % der Misshandlungs- und 8 % der Missbrauchsfälle in Kenntnis gesetzt. Selbst wenn Risikokinder behördlich beobachtet wurden, übersteigt die tatsächliche Missbrauchsepisodenzahl die berichtete um das vier- bis sechsfache (Everson et al. 2008).

    Wie auch in Deutschland sind der körperliche und der sexuelle Missbrauch international die besterforschten Untergruppen der Kindheitstraumata, während es wenig repräsentative Untersuchungen zu emotionalem Missbrauch und Vernachlässigung gibt. In einer in Kanada durchgeführten Allgemeinbevölkerungsstudie (MacMillan et al. 1997) berichteten von knapp 10 000 befragten Personen 31,2 % der Männer und 21,1 % der Frauen, während ihrer Kindheit körperlich misshandelt worden zu sein. Ähnliche Zahlen sind für Schweden zu verzeichnen. In einer Befragung von 0,5 % der Gesamtbevölkerung zwischen 18 und 74 Jahren berichteten 29 % der Befragten über Schläge in der Kindheit (Edfeldt 1996). Diese Zahl steht im Vergleich zu 60–70 % in den USA. Bei strengerer Auslegung der Missbrauchskriterien, finden sich Zahlen zwischen 4 % in Finnland und 10 % in den USA (vgl. Wetzels 1997).

    Gleich den deutschen Studien machen uneinheitliche Definitionen einen Problembereich in internationale Untersuchungen zum sexuellen Missbrauch aus. Die Prävalenzraten schwanken zwischen 9 % und 33 % bei den Frauen und 3 % bis 16 % bei den Männern. In einer Metaanalyse über Erhebungen in mehreren Industriestaaten berichten Gilbert et al. (2009) zusammenfassend, dass zwischen 5 % und 10 % der Mädchen und 1 % bis 5 % der Jungen (penetrativen) sexuellen Missbrauch während ihrer Kindheit erleben. Der Anteil Betroffener ist bedeutsam höher, wenn alle Arten sexuellen Missbrauchs betrachtet werden (15–30 % für Mädchen; 5–15 % für Jungen). Putnam (2003) hat in einer weiteren Metaanalyse alle seit 1989 zum Thema »sexueller Missbrauch« von Kindern erschienen Artikel begutachtet. Nach seinen Ausführungen macht sexueller Missbrauch rund 10 % aller offiziell registrierten Missbrauchsfälle aus. Die mittleren Prävalenzen betragen 16,8 % für Männer und 7,9 % für Frauen. Höhere Prävalenzraten körperlichen Missbrauchs finden sich in Entwicklungsländern gegenüber Schwellen- und Industrieländern. In einer Studie über 28 Entwicklungs- und Schwellenländer (Akmatov 2011), in der 123 916 Kinder im Alter zwischen 2 und 14 Jahren erfasst wurden, wies körperlicher Missbrauch in den afrikanischen Staaten die höchste (64,3 %) und in den Schwellenländern die niedrigste Prävalenz (45,5 %) auf.

    Bevölkerungsbasierte Studien in Großbritannien und den USA zeigen, dass 8–9 % der Frauen und etwa 4 % der Männer über schwerwiegenden emotionalen Missbrauch in der Kindheit berichten. Deutlich höhere Prävalenzen für emotionalen Missbrauch (12,5–33,3 %) wurden in osteuropäischen Staaten ermittelt (Gilbert et al. 2009). In der ländervergleichenden Studie von Akmatov (2011) weist emotionaler Missbrauch die höchsten Prävalenzen in fast allen Ländern auf, variiert aber substanziell zwischen Entwicklungs- und Schwellenländern: 57,8 % (Schwellenländer) bis 75,9 % (Entwicklungsländer) der erhobenen Kinder berichten über emotionalen Missbrauch. Die höchsten Prävalenzen wurden in den afrikanischen Staaten (83,2 %) festgestellt.

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    Wetzels P (1997) Gewalterfahrungen in der Kindheit – Sexueller Mißbrauch, körperliche Mißhandlung und deren langfristige Konsequenzen (Bd. 8). Baden-Baden: NOMOS.

    Widom CS, Morris S (1997) Accuracy of adult recollections of childhood victimization, Part 2: Childhood sexual abuse. Psychol Assess 9 (1):34–46.

    2 Tierexperimentelle Befunde zum Einfluss von biographisch frühem Stress

    Katharina Braun und Jörg Bock

    Kapitelübersicht

    1 Die Bedeutung frühere motionaler Erfahrungen für die sozio-emotionale Verhaltensentwicklung

    2 Das Konzept der erfahrungsgesteuerten Reifung und Optimierung neuronaler synaptischer Netzwerke: epigenetische Mechanismen

    3 Emotionale Schaltkreise im Gehirn

    4 Auswirkungen von Stress und emotionaler Deprivation auf die Gehirnentwicklung

    5 Schlussfolgerungen: Präventive und therapeutische Ansätze

    1 Die Bedeutung früher emotionaler Erfahrungen für die sozio-emotionale Verhaltensentwicklung

    Im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung sind emotionale Erfahrungen für die Entwicklung von Gehirn und des Verhalten von zentraler Bedeutung. Bei Tier und Mensch ist die Interaktion mit stabilen und verlässlichen Bezugspersonen, in der Regel sind dies die Eltern, die erste und damit prägende frühkindliche emotionale Erfahrung. Dieser erste nachgeburtliche emotional modulierte Lernprozess wird in der Ethologie als Filialprägung bezeichnet und wurde an verschiedenen Tierarten untersucht. Wohl jedem sind die klassischen Prägungsexperimente von Konrad Lorenz an Graugansküken bekannt, die innerhalb der sogenannten »kritischen« oder »sensiblen« Phase ihrer Entwicklung lernen, sich auf ein Bezugsobjekt zu fixieren. Wenn der natürliche Bezugspartner nicht zur Verfügung steht, kann dies fälschlicherweise auch ein anderer Mensch oder ein unbelebtes Objekt sein (Lorenz 1935). Neben der Filialprägung gibt es auch andere Formen prägungsähnlichen Lernens, wie z.B. die Sexualprägung und die Gesangsprägung bei Singvögeln, letzteres vergleichbar mit dem Erwerb von Phonempräferenzen beim Menschen im Verlauf des Spracherwerbs.

    Evolutionsbiologisch kann die Filialprägung als »Ur-Form« der emotionalen Bindung zwischen Neugeborenem und den Eltern betrachtet werden, die mit zunehmender Höherentwicklung der Spezies sehr viel komplexere Formen annimmt und auch bei Primaten, einschließlich des Menschen, auftritt. Die Geschwindigkeit solcher emotionalen Prägungs-Lernprozesse weist auf die kritische Bedeutung »sensibler« Phasen beim Aufbau der emotionalen Bindung hin. Nach Spitz und Bowlby liegen sensible Phasen für die Entstehung der Eltern-Kind-Beziehung beim Menschen zwischen den ersten Lebensmonaten und dem Ende des zweiten Lebensjahres (Bowlby 1995; Spitz 1996). Die Stabilität des frühkindlichen Bindungsprozesses, d.h. das Erleben zu lieben und geliebt zu werden, wirkt sich vermutlich lebenslang auf alle weiteren emotionalen Erfahrungen aus. Der Grund für diesen langanhaltenden Effekt ist – das zeigen tierexperimentelle Befunde –, dass sich durch das emotionale Erleben strukturelle neuronale Veränderungen im Gehirn vollziehen, die lebenslang erhalten bleiben.

    2 Das Konzept der erfahrungsgesteuerten Reifung und Optimierung neuronaler synaptischer Netzwerke: epigenetische Mechanismen

    Was vollzieht sich auf der zellulären Ebene im Verlauf der erfahrungsgesteuerten Umstrukturierung der emotionalen Gehirnsysteme? Es gibt zunehmend Befunde, die darauf hinweisen, dass die präfrontalenlimbischen Schaltkreise (siehe auch Abschnitt 3) kontinuierlich während der Kindheit und Pubertät modifiziert und adaptiert werden und damit die emotionale Wahrnehmung, Verarbeitung und Kontrolle im Erwachsenenalter determinieren. In jeder Entwicklungsphase »prägen« sich Erfahrungen und Lernvorgänge über Veränderungen der neuronalen synaptischen Verbindungen im Gehirn ein. Dies führt zu einer »Formatierung« der Verschaltungsmuster in den beteiligten funktionellen Hirnarealen und es wird vermutet, dass damit die Kapazitäten für späteres Lernen und die sozialen und emotionalen Kompetenzen gebahnt werden. Frühe Sinneseindrücke, Erfahrungen und Lernprozesse werden im gehirnbiologischen Sinne dazu genutzt (bzw. sind hierbei unabdingbare Voraussetzung, denn das Gehirn »wartet« auf Input, um sich entwickeln zu können), um die Entwicklung und Ausreifung der funktionellen Schaltkreise im Gehirn zu optimieren. Dies gilt sowohl für die Sinnessysteme, als auch für die präfrontalen und limbischen Systeme (siehe auch Abschnitt 3).

    Die für die frühen Erfahrungs- und Lernprozesse charakteristische, besonders ausgeprägte neuronale Plastizität beruht auf dem entwicklungsbedingt hohen Plastizitätspotenzial des noch unreifen Gehirns. D.h. im kindlichen Gehirn läuft in den Nervenzellen die genetische, epigenetische und molekulare »Maschinerie« auf Hochtouren, so dass frühe Erfahrungen tiefergreifendere strukturelle synaptische Veränderungen hinterlassen, als dies bei Lernprozessen im erwachsenen Gehirn der Fall ist (Comery et al. 1995). Hierbei stecken die genetischen Anlagen den individuellen Rahmen für eine artspezifische und an die Umwelt angepasste Herausbildung von sozialen und kognitiven Verhaltensweisen- und Leistungen ab. Innerhalb dieses genetisch determinierten Spektrums wird die Verhaltensentwicklung über positive oder negative Umwelteinflüsse gesteuert. Bildlich gesprochen »spielt« die Umwelt auf der »Klaviatur der Gene«, indem sie ein mehr oder weniger komplexes Muster von Genen an- oder abschaltet und damit die Differenzierung und Ausreifung der Nervenzellen und die Komplexität ihrer synaptischen Vernetzungen beeinflusst.

    Dieses Wechselspiel zwischen Umwelt und genetischer Ausstattung wird klassischerweise als »Epigenetik« bezeichnet. Im engeren Sinn beschreibt der Begriff Epigenetik heute allerdings meist stabile, erbliche Veränderungen der Genexpression, die nicht in der DNA-Sequenz selbst kodiert sind (Levenson und Sweatt 2005; Graeff und Mansuy 2008). Auf molekularer Ebene umfassen epigenetische Veränderungen biochemische Modifikationen der DNA und von Histon-Proteinen, den Bestandteilen des Chromatins. Hierbei entstehen direkte Modifikationen der DNA durch DNA-Methylierung und spezifische Modifikationen der Histonproteine (z.B. Acetylierung, Methylierung, Phosphorylierung etc). Während beispielsweise Acetylierung und Phosphorylierung von Histonen in der Regel zu einer Erhöhung der Genexpression führen, resultiert eine Methylierung der DNA in einer Reduktion bzw. Inhibition der Genexpression (Graeff und Mansuy 2008; Sananbenesi und Fischer 2009). Epigenetische Mechanismen dienen also dazu, bestimmte Gene an- oder auszuschalten, ohne dass der genetische Code selbst verändert werden muss. In tierexperimentellen Studien konnte nachgewiesen werden, dass epigenetische Mechanismen sowohl an der Gehirnentwicklung als auch an den synaptischen Veränderungen beteiligt sind, die durch Lernprozesse und emotionale Erfahrungen induziert werden. So konnte gezeigt werden, dass die Induktion einer Langzeitpotenzierung (LTP, ein in der neurobiologischen Grundlagenforschung gut untersuchtes zelluläres Modell für Lern- und Gedächtnisprozesse) zu Modulationen der Histonacetylierung und -phosphorylierung und auch der DNA-Methylierung im Hippocampus und Amygdala führt (Levenson und Sweatt 2005). Zudem erhöht sich nach einer Furchtkonditionierung die Acetylierung von Histon H3 (Levenson et al. 2004), während die Extinktion einer Furchtkonditionierung zu einer erhöhten Acetylierung von Histon H4 im Präfrontalcortex führt, verbunden mit einer erhöhten Expression von BDNF (Brain Derived Neurotrophic Factor) (Bredy et al. 2007). In Bezug auf epigenetische Veränderungen als Folge emotionaler Erfahrungen konnte kürzlich an adulten Ratten gezeigt werden, dass sowohl akuter als auch chronischer Stress zu differenzierten Modifikationen der Histone 3 und 4 führen (Chandramohan et al. 2007; Bilang-Bleuel et al. 2005; Hunter et al. 2009). Auch frühkindliche Erfahrungen induzieren epigenetische Mechanismen, die möglicherweise direkt in Zusammenhang mit den langfristigen Verhaltensveränderungen stehen, die infolge dieser Erfahrungen auftreten (Fagiolini et al. 2009). So führen bei Ratten und Mäusen pränataler Stress, aber auch Veränderungen des mütterlichen Pflegeverhalten nach der Geburt, bei den Nachkommen zu epigenetischen Veränderungen, die eine Veränderung der Genexpression von Stresshormonrezeptoren zur Folge haben (Champagne 2008; Darnaudery und Maccari 2008; Mueller und Bale 2008; Weaver et al. 2004). Die Nachkommen von Rattenmüttern, die ihre Jungen schlecht pflegten bzw. misshandelten, zeigen epigenetische Veränderungen, die mit einer Verminderung der Expression von BDNF im Präfrontalcortex in Zusammenhang stehen (Roth et al. 2009). Inwieweit ein direkter und kausaler Zusammenhang zwischen frühkindlichen Bindungserlebnissen oder Deprivations- und Stresserfahrungen und epigenetischen und gehirnstrukturellen Veränderungen besteht, ist bislang noch umstritten und steht daher im Fokus der aktuellen Forschung.

    Welche Konsequenzen haben die epigenetischen Veränderungen für das Wachstum und die Differenzierung der Nervenzellen? Die eingangs skizzierten erfahrungsinduzierten strukturellen »Bahnungen« oder »Formatierungen« werden weniger über eine Veränderung der Anzahl der Nervenzellen bewerkstelligt, sondern über das Wachstum der bereits vorhandenen und synaptisch vernetzten Nervenzellen. Das Auswachsen der neuronalen Dendritenbäume (auf denen Informationen anderer Nervenzellen eintreffen und verarbeitet werden) und vor allem die Dichte der auf den Dendriten lokalisierten Synapsen (Volkmar und Greenough 1972; Webb et al. 2001) werden höchstwahrscheinlich über epigenetische Modifikationen verändert. In diesem Zusammenhang ist es wichtig klarzustellen, dass die intuitive Betrachtungsweise »viele Synapsen = bessere Gehirnfunktion« so leider nicht zutrifft: Auch im Gehirn gilt eher die Regel »Qualität vor Quantität«. Denn neben einem Aufbau von synaptischen Kontakten können gerade frühkindliche Erfahrungen einen Prozess induzieren, der auf dem »Darwinistischen« Selektionsprinzip basiert, einen »Wettbewerb der Synapsen«, der dem Motto »use it or lose it« folgt. D.h., aus einem initialen Überangebot von (teilweise noch unspezifisch verschalteten) synaptischen Kontakten werden über erfahrungs- und aktivitätsgesteuerte Mechanismen die nicht oder nur wenig genutzten Synapsen abgebaut, während die häufiger genutzten Synapsen verstärkt werden (Changeux und Danchin 1976; Braun und Bock 2011).

    Aus dem Konzept der erfahrungsabhängigen Gehirnentwicklung lässt sich für die sensorischen, motorischen Systeme und vor allem auch für die spät und langsam reifenden präfrontalen und limbischen Schaltkreise ableiten, dass eine optimale funktionelle Entwicklung und Optimierung nur in einer anregenden, fördernden Umwelt möglich ist. Passen sich die neuronalen Netzwerke hingegen an eine negative (z.B. Stress, Misshandlung, Drogen) oder deprivierte (z.B. Vernachlässigung, Armut, Mangel- oder Fehlernährung) Umwelt an, können die präfrontalen und limbischen Regionen später in einer positiven Umwelt nicht adäquat funktionieren (Black et al. 1998; Bock et al. 2011; Bush et al. 2011), da sie den »mismatch« zwischen perinataler Umwelt und der Umwelt im Kindes- und Jugendalter zunächst nicht verarbeiten können und sich erst nach Verhaltenstraining oder Therapie neu anpassen können.

    3 Emotionale Schaltkreise im Gehirn

    Das limbische System ist ein evolutionsgeschichtlich altes Gehirnsystem, welches bei der Entstehung, der Integration und Kontrolle von emotionalen Verhaltensweisen eine kritische Rolle spielt. Darüber hinaus sind die limbischen Gehirnareale ganz essenziell an Lern- und Gedächtnisprozessen beteiligt, die durch emotionale Komponenten stark beeinflusst werden. Die Interpretation eines Gesichtsausdrucks und die Prosodie der Stimme mit dem darin zum Ausdruck gebrachten emotionalen Gefühlszustand unseres Gegenübers, ist eine entscheidende Voraussetzung für sozio-emotionale Verhaltensweisen und Empathie. Diese Funktionen werden in den Regionen des limbischen Systems und des Präfrontalcortex verarbeitet.

    Der Hippocampus (»Seepferdchen«) und der Gyrus dentatus sind wichtig für verschiedene Gedächtnisfunktionen, insbesondere für die Gedächtniskonsolidierung, d.h. die Überführung von Fakten aus dem Kurzzeitin das Langzeitgedächtnis. Schädigungen der Hippocampus-Formation führen zu anterograder Amnesie, d.h. der Patient kann keine neuen Gedächtnisinhalte bilden, erinnert sich jedoch an Ereignisse, die vor der Schädigung stattfanden. Der Hippocampus spielt zudem eine Rolle bei räumlichem Lernen, d.h. er ist Teil des »Navigationssystems« im Gehirn.

    Die Amygdala (»Mandelkern«) ist über axonale Verbindungen mit dem Präfrontalcortex und dem Hippocampus verbunden, ebenso wie mit dem Septum und dem dorsomedialen Thalamus. Aufgrund dieser limbischen Verbindungen spielt die Amygdala eine wichtige Rolle bei sozialem Verhalten und bei der Verarbeitung und Kontrolle von Emotionen, einschließlich Liebe und Zuneigung, Angst, Furcht, Aggression und Belohnung. Tierexperimentelle Untersuchungen zeigen, dass Schädigungen der Amygdala Aggression und Furcht reduzieren (die Tiere werden »zahm«), während eine Elektrostimulation das Gegenteil erzeugt. Der postnatale Entwicklungsverlauf der menschlichen Amygdala beinhaltet eine fortschreitende Myelinisierung der Axone bis zum Ende des ersten Lebensjahres. Es wird vermutet, dass die Unreife der Amygdala im ersten Lebensjahr für das anfangs noch »unselektive« Sozialverhalten beim Säugling verantwortlich sein könnte, und dass erst mit fortschreitender funktioneller Reifung und Einbindung der Amygdala in die limbischen und präfrontalen Schaltkreise (zwischen dem 6. und 12. Lebensmonat) das Sozialverhalten selektiver wird (»Fremdeln«) (Joseph 1999).

    Im Zeitraum von 4–18 Jahren kommt es beim Menschen zu geschlechtsspezifischen Volumenveränderungen im Hippocampus und der Amygdala. Während das Volumen der linken Amygdala in diesem Zeitraum nur bei den Jungen ansteigt, nimmt das Volumen des Hippocampus nur bei den Mädchen zu. Dieses Entwicklungsmuster hängt höchstwahrscheinlich mit der unterschiedlichen Expression von Hormonrezeptoren in diesen beiden limbischen Arealen zusammen. Während die Amygdala überwiegend Androgen-Rezeptoren exprimiert, dominieren im Hippocampus die Östrogen-Rezeptoren (Giedd et al. 1996). Auch für Hippocampus und Amygdala gibt es Hinweise, gibt es Hinweise, dass die Entstehung psychischer Erkrankungen mit Entwicklungsstörungen in diesen beiden Regionen einhergeht. Beispielsweise ist das Volumen der Amygdala beider Hemisphären bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und mit depressiven Symptomen im Vergleich zu Patienten ohne depressive Symptomatik vergrößert (Zetzsche et al. 2006). Bei bipolaren Patienten zeigt sich in der linken Amygdala eine Verkleinerung, während sich in der rechten Amygdala und im Hippocampus kein Unterschied findet (Chen et al. 2004). Histologische postmortem Untersuchungen am Gehirn von Selbstmord-Opfern mit depressiven Symptomen ergaben, dass die Projektionsneurone in der rechten lateralen Amygdala eine erhöhte Aktivität zeigen (Gos et al. 2010), hingegen findet sich im Hippocampus eine erhöhte Dichte inhibitorischer Synapsen (Gos et al. 2009).

    Der Nucleus accumbens spielt eine wichtige Rolle bei Belohnung, Freude, emotionalen Reaktionen (z.B. Lachen, Weinen), Aggression und Angst. Von klinischer Relevanz ist die Rolle des N. Accumbens hinsichtlich der pathologischen Form von Belohnung, der Sucht.

    Der präfrontale Cortex (PFC) kann grob unterteilt werden in (i) dorsolaterale, (ii) mediale (incl. anteriorer cingulärer Cortex) und (iii) orbitofrontale Bereiche (OFC) (Happaney et al. 2004). Medialer und orbitofrontaler Cortex sind Teil der fronto-striatalen Schaltkreise, die mit der Amygdala und anderen limbischen Regionen verbunden sind. Aufgrund ihrer anatomischen limbischen Verschaltungen sind die präfrontalen Regionen funktionell an der Integration, Bewertung und Steuerung emotionaler Funktionen beteiligt. Die Regionen des präfrontalen Cortex vollziehen eine relativ langsame postnatale Reifung, die sich bis in die Adoleszenz und das Erwachsenenalter fortsetzt. Während dieser Zeit erhöht sich die metabolische und elektrische Aktivität in diesen Regionen (Rubia et al. 1999), die mit massiver synaptischer Reorganisation (Huttenlocher 1979, 1997) und fortschreitender Myelinisierung (Pfefferbaum et al. 1994; Yakovlev et al. 1967) einhergeht.

    Der orbitofrontale Cortex (OFC) spielt eine wichtige Rolle bei der sensorischen Integration und höheren kognitiven Funktionen, insbesondere bei der Entscheidungsfindung. Darüber hinaus besitzt der OFC emotionale Funktionen, z.B. die Bewertung hedonischer Aspekte von Belohnungen bzw. Verstärkern, also Funktionen, die von Bedeutung für die Planung von Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Belohnung oder Bestrafung sind. Schädigungen des OFC führen zu vermindertem Empathievermögen und gestörtem Sozialverhalten. Darüber hinaus spielt der OFC eine wichtige Rolle bei der Impulskontrolle und der Regulation von Aggressivität. Störungen im OFC führen zu einer Disinhibition der genannten Verhaltensweisen, die sich unter anderem in Spiel- und Drogensucht äußern und zu Gewalttätigkeit führen können.

    Der cinguläre Cortex wird cytoarchitektonisch und funktionell in einen anterioren und posterioren Anteil unterteilt. Die anteriore Region übt überwiegend »exekutive« Funktionen aus, während der posteriore Anteil eher »evaluative« Funktionen wahrnimmt (Bush et al. 2000; Mohanty et al. 2007). Allgemein spielt der cinguläre Cortex eine Rolle bei rationalen kognitiven Funktionen wie z.B. der Antizipation einer Belohnung, Entscheidungsfindung, Empathie und den damit verknüpften emotionalen Regulationsprozessen. Zudem spielt der cinguläre Cortex aufgrund seiner Verbindungen zum orbitofrontalen Cortex und zur Amygdala eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Eltern-Kind-Bindung (Lorberbaum et al. 2002) und ist Teil des Panic/Grief- (Panik/Trauer)-Schaltkreises, der von Panksepp und Damasio definiert wurde (Panksepp et al. 2011). MacLean (1990) und Lorberbaum et al. (2002) entwickelten die »thalamo-cingulum Theorie« des elterlichen Verhaltens. So zeigen Mütter eine erhöhte Aktivierung im anterioren cingulären, im rechten medialen präfrontalen Cortex und in verschiedenen limbischen Gehirnregionen, während sie das Weinen ihres Babys hören (Numan et al. 1997; Leckman et al. 2002). Diese Gehirnaktivierung ist bei depressiven Müttern stark reduziert (Laurent und Ablow 2011) ebenso wie bei Müttern, die durch Kaiserschnitt geboren haben (Swain et al. 2008). Kernspintomographische Studien an Studenten konnten Aktivierungen im anterioren cingulären Cortex nachweisen, wenn den Probanden Fotos ihrer neuen »Flamme« gezeigt wurden (Bartels et al. 2000). Unsere tierexperimentellen Studien zeigen, dass bereits im kindlichen Gehirn eine vergleichbare emotionale Reaktivität vorliegt. So zeigen Degu-Jungtiere (Octodon degus, Strauchratte) eine starke Aktivierung im anterioren cingulären Cortex, wenn sie mütterliche Lautäußerungen hören (Poeggel und Braun 1996). Diese Aktivierung tritt nicht auf bei Jungtieren, die von einer stummen Mutter aufgezogen wurden und daher keine Vorerfahrung mit diesem mütterlichen emotionalen Signal hatten (Braun und Scheich 1997). Dies zeigt, dass die Jungtiere – ebenso wie der menschliche Säugling (DeCasper et al. 1980) – die Bedeutung der mütterlichen Lautäußerungen und den sozio-emotionalen Kontext lernen müssen. Auch negative emotionale Ereignisse beeinflussen in hohem Maße die Aktivität in präfrontalen und limbischen Gehirnregionen. Unter akutem Trennungsstress kommt es bei Degujungen zu einer dramatischen Deaktivierung des cingulären Cortex und anderer präfrontaler und limbischer Strukturen, die sich teilweise normalisiert, wenn man den getrennten Jungtieren die Stimme ihrer Mutter präsentiert (Bock et al. 2012). Bei Affen konnte während einer Trennungssituation eine Deaktivierung im linken dorsolateralen Präfrontalcortex gezeigt werden (Rilling et al. 2001).

    Der postnatale Entwicklungsverlauf des menschlichen cingulären Cortex erstreckt sich über die ersten Lebensjahre und die zunehmende synaptische Verschaltung dieser Region mit limbischen Arealen steht mit der Verhaltensentwicklung in engem Zusammenhang (Bush et al. 2000). Es wird vermutet, dass die reziproken synaptischen Verbindungen zwischen den kognitiven und emotionalen Subregionen des cingulären Cortex, die sich im Verlauf der frühen Kindheit kontinuierlich weiterentwickeln, für das Phänomen verantwortlich sind, dass bei Babys das Verhalten (z.B. Weinen) während einer Stresssituation zeitweise unterbrochen bzw. blockiert werden kann, indem man ihre Aufmerksamkeit auf ein interessantes Objekt lenkt (Harman et al. 1997; Posner et al. 1998). Zudem gibt es Hinweise, dass eine dysfunktionale Entwicklung des cingulären und orbitofrontalen Cortex für die Entstehung von Verhaltensstörungen und psychischen Erkrankungen (mit)verantwortlich ist. Beispielsweise wurde eine Hypofunktionalität im anterioren cingulären Cortex von aggressiven Kindern und Jugendlichen nachgewiesen (Stadler et al. 2007), wenn sie mit emotionalen Stimuli konfrontiert werden (Verwendung des International Affective Picture Systems).

    4 Auswirkungen von Stress und emotionaler Deprivation auf die Gehirnentwicklung

    Das limbische System und Teile des Präfrontalcortex sind funktional eng verknüpft mit dem autonomen Nervensystem und regulieren über den Hypothalamus endokrine Funktionen, wie z.B. die Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden (HPA)-Achse und damit die Ausschüttung von Stresshormonen während einer Stress- oder Gefahrensituation. Fehlfunktionen der präfrontalen und limbischen Areale führen zur Entstehung von psychischen Erkrankungen wie Angsterkrankungen (Depression, Posttraumatische Belastungsstörungen) und Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörungen (Bock und Braun 2011; Bush et al. 2011), die häufig mit HPA-Achsen-Dysfunktionen einhergehen (McEwen et al. 1997).

    Rene Spitz war einer der ersten, der systematische Beobachtungen an Heimkindern durchführte, die ohne eine Bezugsperson aufwuchsen. Er stellte fest, dass eine fehlende Mutter-Kind-Beziehung zu Fehlentwicklungen und Entwicklungsstörungen führt (Spitz 1945), einschließlich späterer Störungen des Spracherwerbs, der Persönlichkeitsentwicklung und Defiziten der intellektuellen und sozialen Fähigkeiten (Brodbeck und Irwin 1946), die längerfristig zu psychischen Erkrankungen, wie z.B. Depression, ADHD und Schizophrenie führen können (Agid et al. 2000). Vergleichbare deprivationsinduzierte pathologische Veränderungen wurden bei Affen in den klassischen Deprivationsexperimenten des Ehepaares Harlow und später in den Arbeiten von Suomi beobachtet (Harlow und Harlow 1962; Suomi 1997). Sozial depriviert aufgewachsene Affen entwickeln ähnlich wie vernachlässigte Kinder Verhaltensstörungen wie Bewegungsstereotypien, vermindertes Spiel- und Erkundungsverhalten sowie deutlich verringerte Lernleistungen. Auch bei Ratten führt Mutterentzug zu Verhaltensstörungen, die Angststörungen und depressiven Symptomen bei Menschen gleichen (Newport et al. 2002).

    Spitz stellte die Hypothese auf, dass Störungen während sensibler Phasen der psychischen Entwicklung eine erhöhte psychologische Vulnerabilität gegenüber Negativerlebnissen im späteren Leben bewirken und somit die Entstehung psychischer Störungen begünstigen. Diese Hypothese lässt sich in eine neurobiologische Hypothese übersetzen, die postuliert, dass frühe emotionale Erfahrungen in die funktionelle Reifung der synaptischen Verschaltungen im Präfrontalcortex und im limbischen System eingreifen und dadurch auf neuronaler Ebene das Risiko für spätere Verhaltensstörungen erhöhen (Braun und Bogerts 2000, 2001). Diese Hypothese wird durch Befunde einer Adoptionsstudie von Michael Rutter und Kollegen an rumänischen Weisenkindern gestützt. Trotz einer bemerkenswerten Verbesserung auf der Verhaltensebene nach Adoption, zeigen sich selbst nach Jahren noch Defizite im emotionalen und sozialen Bereich (O’Connor et al. 2000). Untersuchungen mittels funktioneller Bildgebung zeigten, dass die depriviert aufgewachsenen Heimkinder an einer Unterfunktion bzw. mangelnden Aktivierbarkeit präfrontaler cortikaler Bereiche leiden (Chugani et al. 2001). Darüber hinaus ist die rechte Amygdala bei diesen Kindern vergrößert, während die linke Amygdala in Abhängigkeit von der Dauer der Heimunterbringung verkleinert ist (Mehta et al. 2009). Über die den deprivations-induzierten gehirnbiologischen Veränderungen zugrunde liegenden zellulären und epigenetischen Prozesse ist nach wie vor wenig bekannt, sie stehen daher im Fokus tierexperimenteller Forschung. Einige Studien zeigen, dass Deprivation die Ausbildung synaptischer Kontakte in verschiedenen Gehirnregionen unterdrückt. Beispielsweise wurde bei frühkindlich deprivierten Ratten eine Verminderung der perforierten Synapsen und der Länge der synaptischen Kontaktzonen in der dorsomedialen Amygdala nachgewiesen (Ichikawa et al. 1993). Im motorischen Cortex isoliert aufgezogener Affen wurde im Alter von sechs Monaten eine Verkleinerung der Dendriten und verminderte Spinedichten nachgewiesen (Struble und Riesen 1978; Bryan und Riesen 1989).

    In eine ähnliche Richtung weisen tierexperimentelle Untersuchungen, bei denen der Einfluss des mütterlichen Pflegeverhaltens auf die Gehirnentwicklung untersucht wurde. Die Arbeiten von Michael Meaney und Kollegen an Laborratten zeigen, dass die Nachkommen von »schlechten«, d.h. wenig fürsorglichen Müttern (die nur wenig Körperkontakt mit ihren Jungen haben), höhere Stresshormonwerte (Corticosteron, ACTH) im Blut aufweisen sowie im Hippocampus kleinere Dendriten mit weniger Synapsen ausbilden, einhergehend mit einer reduzierten Ausbildung von NMDA-Rezeptoren und BDNF-mRNA (Champagne et al. 2008; Bagot et al. 2009). Diese Tiere zeigen darüber hinaus eine verminderte cholinerge Innervation des Hippocampus, was möglicherweise eine Ursache für das geringere räumliche Lernvermögen dieser Tiere ist (Liu et al. 2000).

    Während sich die klinische und tierexperimentelle Forschung bisher vor allem auf die Bedeutung der mütterlichen Fürsorge fokussiert hat, rückt jetzt zunehmend auch der Einfluss der väterlichen Fürsorge auf die Gehirn- und Verhaltensentwicklung seiner Nachkommen in den Fokus der Forschung (Feldman 2012). Unsere eigenen Experimente an biparentalen Degus zeigen deutliche Unterschiede in den präfronto-limbischen Gehirnrealen bei Tieren, die mit beiden Eltern aufwuchsen im Vergleich zu Nachkommen von »alleinerziehenden« Müttern. Die vaterdeprivierten Tiere zeigten eine erhöhte Dichte von Schaftsynapsen (die sowohl erregend als auch hemmend sein können) im anterioren cingulären Cortex. Zudem zeigen sich niedrigere Dichten von (erregenden) Spinesynapsen im orbitofrontalen Cortex, was eine verminderte Erregbarkeit dieser Region vermuten lässt, also vergleichbar mit den o.g. Bildgebungsbefunden an den Waisenkindern. Darüber hinaus zeigen die vaterdeprivierten Tiere vergrößerte Dendritenbäume in der Amygdala, was eine erhöhte Erregbarkeit oder auch einer Vergrößerung dieser Region vermuten lässt und damit eine erhöhte Ängstlichkeit zur Folge haben könnte (Ovtscharoff et al. 2006; Helmeke et al. 2009). Zusätzlich verschieben sich bei den vaterdeprivierten Tiere auch die Gleichgewichte hemmender Neuronen, ebenso wie die dopaminerge, noradrenerge und serotonerge Innervation präfrontaler und limbischer Gehirnregionen (Seidel et al. 2011; Braun et al. 2011).

    In klinischen Untersuchungen wurde eine Unterfunktion präfrontaler Regionen und des anterioren cingulären Cortex bei Patienten nachgewiesen, die an ADHS oder an Schizophrenie leiden und ebenso bei Kindern und Jugendlichen, die pathologisch aggressiv sind (Rubia et al. 1999; Stadler et al. 2007; Raine et al. 1997; Brower et al. 2001; Manoach et al. 2003). Auch hier könnte es einen Zusammenhang zwischen den gehirnfunktionellen Veränderungen und synaptischen Umbauvorgängen geben, die durch emotional-soziale Vernachlässigung und durch Stress in der frühen Kindheit ausgelöst wurden.

    Eigene tierexperimentelle Befunde hierzu unterstützen diese Hypothese. Degus, die während der frühen Kindheit (beginnend mit der Geburt) täglich stundenweise von ihren Eltern getrennt wurden, d.h. wiederholt mit Trennungsstress konfrontiert wurden, entwickeln eine motorische Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizite (Braun et al. 2003). Als Adoleszente und Erwachsene zeigen die hyperaktiven Tiere eine erhöhte Dichte von erregenden Spinesynapsen im anterioren cingulären Cortex und in der CA1-Region des Hippocampus (Helmeke, Ovtscharoff und Poeggel 2001; Helmeke, Poeggel und Braun 2001; Poeggel et al. 2003), während sie in einem anderen Teil des Hippocampus, dem Gyrus dentatus und in der Amygdala weniger Spinesynapsen ausbildeten (Poeggel et al. 2003). Auch bei diesem Experiment zeigte sich, dass sich nicht nur die erregenden Synapsen verschieben, sondern auch die Balance der hemmenden Neuronen in den präfrontalen und limbischen Bereichen, ebenso wie die Innervationsdichte der dopaminergen, noradrenergen und serotonergen Fasersysteme (Braun et al. 2000; Poeggel et al. 2003; Gos et al. 2006). Ähnliche stressinduzierte gehirnbiologische Veränderungen wurden auch bei sozial isoliert aufgewachsenen Affen nachgewiesen, die Veränderungen der monoaminergen Systeme (Martin et al. 1991) und reduzierte Dendritenbäume mit verminderter Synapsendichte im motorischen Cortex (Struble et al. 1978) zeigen. Auch hier ist zu vermuten, dass die gehirnbiologischen Veränderungen mit den für diese Tiere beschriebenen Verhaltensstörungen korrelieren (Harlow et al. 1 962; Suomi 1997, 1991).

    Nicht nur Stresserfahrungen in der frühen Kindheit, sondern auch Stress vor der Geburt wirkt sich nachhaltig auf die neuronale Entwicklung der präfrontalen und limbischen Regionen aus. Unsere Befunde an Ratten zeigen, dass Stress während des letzten Schwangerschaftstrimesters die Entwicklung der synaptischen Verbindungen im anterioren cingulären und orbitofrontalen Cortex sowie im Hippocampus der in utero gestressten Nachkommen beeinflusst (Murmu et al. 2006; Bock et al. 2011). Interessanterweise führt der vorgeburtliche Stress bei männlichen und weiblichen Tieren zu ganz unterschiedlichen, teilweise sogar gegenläufigen neuronalen Veränderungen. So entwickeln pränatal gestresste Männchen im Gyrus dentatus vergrößerte Dendriten und höhere Spinesynapsendichten (was vermutlich eine Übererregbarkeit dieser Region zur Folge hat), während ihre Schwestern verkleinerte Dendriten mit weniger Spinesynapsen ausbilden (was vermutlich eine Unterfunktion in dieser Hirnregion zur Folge hat) (Bock et al. 2011).

    5 Schlussfolgerungen: Präventive und therapeutische Ansätze

    Lassen sich die beschriebenen hirnfunktionellen Defizite und die daraus resultierenden Verhaltensstörungen verhindern bzw. revidieren? Es gibt in der Tat tierexperimentelle Befunde, die zeigen, dass z.B. eine kurzzeitige Trennung von der Mutter positive Effekte auf das sich entwickelnde Individuum haben kann, wenn dadurch das Pflegeverhalten der Mutter positiv beeinflusst wurde: Bei Nagern reduziert eine tägliche kurzzeitige Trennung in den ersten Lebenswochen endokrine Funktionen und Verhaltensreaktionen auf Stress im adulten Alter. Die Auswirkungen von langanhaltendem Mutterentzug, wie reduzierte Wachstumshormonlevel, erhöhte Spiegel katabolischer adrenaler Glucocorticoide, reduzierte BDNF-Expression und eine erhöhte ACTH-

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