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Drogenrausch und Deduktion: Zur Innenwelt des Sherlock Holmes
Drogenrausch und Deduktion: Zur Innenwelt des Sherlock Holmes
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eBook351 Seiten4 Stunden

Drogenrausch und Deduktion: Zur Innenwelt des Sherlock Holmes

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Über dieses E-Book

SHERLOCK HOLMES – eine der wenigen Figuren der neueren Literaturgeschichte, denen ein mythischer Status zukommt, und zugleich eine der rätselhaftesten. Warum konsumiert Holmes, entgegen des ärztlichen Rates seines Vertrauten Dr. Watson, regelmäßig Kokain- und Morphium? Was hat es mit der seltsamen Ikonisierung seiner ehemaligen Opponentin Irene Adler auf sich? Wie sind seine höchst eigenwilligen Improvisationen an der Geige zu verstehen? Worüber ist Watson so nachhaltig befremdet, als er zusammen mit Holmes eine Bildergalerie verlässt, in der Werke "moderner belgischer Meister" zu sehen waren? Wie ist Holmes' irritierender metaphysischer Exkurs über die Schönheit der Blumen – beim Anblick eines Portulak-Röschens – zu verstehen? Und warum empfiehlt er Watson ein provokatives Skandalwerk des viktorianischen Freigeistes Winwood Reade?

Das vorliegende Buch stellt erstmals einen Zusammenhang zwischen diesen und anderen seit über hundert Jahren ungeklärten Fragen her und liefert ein ebenso durchdachtes wie ungewöhnliches Charakterporträt des legendären Londoner Meisterdetektivs.
SpracheDeutsch
Herausgebermainbook Verlag
Erscheinungsdatum6. Jan. 2017
ISBN9783946413363

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    Buchvorschau

    Drogenrausch und Deduktion - Traian Suttles

    2016

    1. Kapitel:

    »The game is afoot!«: Zur Fiktionalisierung Arthur Conan Doyles

    »Das ganze Durcheinander begann sich vor meinem geistigen Auge zu entwirren, und ich fragte mich, wie jedesmal, warum mir dies alles nicht längst schon klar gewesen war.«

    („Wisteria Lodge")

    Im Herbst des Jahres 1886 erhielt der siebenundzwanzigjährige britische Arzt und Gelegenheitsliterat Arthur Conan Doyle ein kurzes Schreiben, das ihm keine Freude bereitete (vgl. Doyle 1988, S.75):

    Dear Sir,

    We have read your story and are pleased with it. We could not publish it this year as the market is flooded at present with cheap fiction, but if you do not object to its being held over till next year, we will give you £25 for the copyright.

    Ein Honorar von einmalig fünfundzwanzig Pfund war nicht gerade das, was Doyle – zu diesem Zeitpunkt ein »penniless doctor« (ebd. S.71) – sich erhofft hatte, und trotz seiner Armut zögerte er, das Angebot anzunehmen. Letztendlich blieb ihm jedoch kaum eine Wahl, denn das Manuskript war bereits seit einem halben Jahr durchgehend abgelehnt worden. Er erklärte sich einverstanden; 1887 erschien sein Kurzroman als Bestandteil von Beeton’s Christmas Annual, und bis zum Ende seines Lebens verdiente Doyle an dem Text nichts mehr. Materiell war die Angelegenheit also reichlich enttäuschend, aber dafür kamen auf der literarischen Ebene Dinge in Bewegung, deren Auswirkungen auf die Populärkultur fantastische Ausmaße annehmen sollten. Eher bescheiden mutet in diesem Licht der Satz an, den die Hauptfigur von Doyles Geschichte im zweiten Kapitel des Romans äußert:

    »Ich weiß, dass ich das Zeug habe, mir einen großen Namen zu machen.«

    Selten dürfte eine literarische Figur ihre Zukunft präziser vorausgesagt haben, denn ihr Name lautete SHERLOCK HOLMES. Mag der so gering honorierte Roman-Erstling A Study in Scarlet – zu Deutsch „Eine Studie in Scharlachrot" – auch alles andere als Hochliteratur darstellen, in seiner Gegenwartsversion A Study in Pink, dem Pilotfilm der BBC-Serie von Steven Moffat und Mark Gatiss, erreicht er heute ganz neue Bekanntheitsgrade. Für den Protagonisten Holmes gilt dasselbe, demonstriert die aktuelle Fernsehserie doch überzeugend, wie einer vielschichtig konzipierten Figur aus dem spätviktorianischen London der Sprung in unser Jahrtausend gelingen kann, ohne dass sie im geringsten von ihrer Faszination einbüßt. Die enorm erfolgreiche TV-Adaption mit ihrer multimedial vernetzten Holmesfigur vor Augen kann man sich ein Lächeln nicht verkneifen, wenn man in Conan Doyles Autobiografie aus dem Jahr 1924 folgende Bemerkung zu den allerersten Verfilmungen liest (Doyle 1988, S.106):

    »My only criticism of the films is that they introduce telephones, motor cars and other luxuries of which the Victorian Holmes never dreamed.«

    Wie wir spätestens seit 2010 – also seit besagter Study in Pink – feststellen können, vermag auch der gesammelte technische Luxus des frühen 21. Jahrhunderts die Gestalt des Sherlock Holmes nicht wesentlich zu verzerren. Egal ob mit Lupe oder Elektronenmikroskop, mit Shag-Pfeife oder Nikotinpflastern, mit Telegrammen oder SMS, die Persönlichkeit des consulting detective aus der Baker Street scheint Zeiten und Räume mühelos zu überstrahlen. Genau dies führt uns zur zentralen Frage: Wer ist Sherlock Holmes, welche Zugänge haben wir zu seinem Innenleben – und vor allem, wie steht es um bestimmte Widersprüchlichkeiten, die er mit anderen großen Gestalten der Literaturgeschichte teilen mag, aber doch in ganz unvergleichlicher Form?

    Antworten hierauf sind immer wieder versucht worden, viel mehr als man überblicken kann, denn die Holmes-Sekundärliteratur ist all zu umfangreich. Und doch wird man beim Wiederlesen der alten Geschichten – ebenso wie bei den Moffat/Gatiss-Verfilmungen – das Gefühl nicht los, mit einem „offenen Enigma" konfrontiert zu sein: einer unverwechselbar scharf konturierten Figur, die mit schöner Regelmäßigkeit über sich respektive über die von ihr angewandten Ermittlungsmethoden zu dozieren pflegt, nur um letztlich in Undurchschaubarkeit zu verharren.

    Der Anreiz, Licht in dieses Dunkel zu bringen, ist von je her groß gewesen. Als Startschuss gilt ein Studentenulk der gehobenen Sorte, nämlich die vom Theologen und späteren Monsignore Ronald Knox in seinen Universitätsjahren abgefasste Satire Studies in the Literature of Sherlock Holmes (1911). Knox hatte sich den bis dahin erschienen Holmes-Romanen und Erzählungen mit der Gewissenhaftigkeit eines historischkritischen Bibelforschers angenommen; er sammelte Fehler und wies auf Inkonsistenzen hin, welche ihm jede Menge Steilvorlagen boten: etwa für die These, dass nur die ersten beiden Holmes-Romane sowie die ersten dreiundzwanzig Kurzgeschichten der Feder des echten Dr. Watson entstammen, während man die danach erschienenen Werke einem „Pseudo-Watson" zuschreiben müsse (zur Reihenfolge der Geschichten vgl. Anhang 1). Damit war der Beginn eines Interpretationsspieles eingeläutet, dessen endgültige Grundlage mit Erscheinen der letzten Sherlock Holmes-Geschichten im Jahr 1927 gegeben war: Doyles vier Romane und sechsundfünfzig kurze Erzählungen bilden zusammen die sechzig kanonischen Holmes-Fälle.¹ Da Doyle sich in den späteren Werken des Kanons einige wenige „Experimente" gestattete, werden nicht alle Geschichten von Holmes’ treuem Mitstreiter Watson erzählt (entweder löst Holmes Watson als Ich-Erzähler ab, oder es wird auf eine auktoriale Ebene gewechselt). Das Sherlockian Game, die gleichermaßen spielerische wie detailverliebt-ernsthafte Erforschung des Kanons, kann trotzdem weitgehend nach dem Knox’schen Vorbild ablaufen: Watson wird als reale Person aufgefasst, die der staunenden Welt die wahrhaftigen Erlebnisse eines realen Sherlock Holmes hinterlassen hat. Wo immer diese „Realität brüchig zu werden droht, müssen Erklärungen gefunden werden, und die einfachste lautet bis heute, dass Watson ein teilweise unzuverlässiger, weil überforderter Chronist gewesen sei: ob unhaltbare Jahreszahlen oder der geradezu ikonische² Widerspruch, dass Watson seine Kriegsverletzung mal als Schuss in die Schulter („Eine Studie in Scharlachrot, S.9), mal als Schuss ins Bein („Das Zeichen der Vier", S.10) beschreibt – sobald Fehler auftauchen (auch und gerade in Aussagen von Holmes), werden diese routinemäßig auf den »Boswell«³ abgewälzt. Denkbar freilich sind hier auch Konstruktionen, die sowohl Watson als auch den angeblichen Herausgeber Doyle in Schutz nehmen: etwa die elegante Ausrede, dass Watson seinen Mittelsmännern in den Redaktionen und Verlagshäusern mit einer schwer leserlichen Handschrift zu schaffen machte.

    Man könnte diese Art der Neuschöpfung, in der praktisch alle inhaltlichen Fehler nachträglich entschuldigt werden, als Geste des Respekts vor Arthur Conan Doyle auffassen, doch das Verhältnis der Holmes-Liebhaber zum Holmes-Schöpfer gestaltet sich bisweilen problematisch. Erstens wird Doyle im Sherlockian Game unweigerlich abgewertet; er geht als bloße Randfigur einer revidierten Realität all seiner Remiten verlustig, wenn der reale Verfasser des Kanons »John H. Watson, M. D.« sein soll (vgl. etwa Doyles Rolle bei Baring-Gould 1978, S.270f.). Die akribische Auseinandersetzung mit den Figuren Holmes und Watson tendiert zum Total-Ausschluss der Person Doyles, dessen Name hinter denen seiner Protagonisten ohnehin merklich verblasst ist. Dass mancher Sherlockianer dies gern in Kauf nimmt, hängt nun zweitens vor allem damit zusammen, dass Doyles Gedankenwelt während den letzten ca. fünfzehn Jahren seines Lebens in spiritistische Sphären abdriftete und nichts mehr von dem repräsentierte, was er zeitgleich in seinen Wissenschaftlichkeit und Logik zelebrierenden Holmes-Geschichten zu Papier brachte. Ein The Irrelevance of Conan Doyle betitelter Aufsatz des durch seine langjährigen Beiträge im Scientific American („Spektrum der Wissenschaft) auch in Deutschland bekannten Autors Martin Gardner spricht für sich. Poststrukturalistische Literaturtheoreme à la Barthes und Foucault, in deren Fahrwasser einst (und z.T. bis heute) die „Abschaffung des Autors verkündet wurde, sind im Falle des Holmes-Kanons nicht erforderlich – der Autor Doyle hat durch die befremdliche Hinwendung zum Okkulten selbst für seine Auflösung gesorgt (Gardner 1974, S.128):

    »There is scarcely a page in any of Doyle’s books on the occult that does not reveal him to be the antithesis of Holmes. His gullibility was boundless. His comprehension of what constitutes scientific evidence was on a level with that of members of London’s flat-earth society.«

    Immerhin wäre dem so übel Gescholtenen aber positiv anzurechnen, dass er in der Lage war, seine »antithesis« bis zum Ende der Holmes-Reihe ganz unverfälscht zu erhalten (und damit seinem Publikum eine durchgehende, im großen und ganzen ungetrübte Lesefreude – was ihm in der Gegenwelt des Sherlockian Game wahrhaftig nicht zugutekommt). Dieser Punkt wäre auch insofern hervorzuheben, als Doyle (1988, S.84ff.) in seiner Autobiografie berichtet, dass er bereits 1886 von den telepathischen Fähigkeiten eines ihm vorgestellten „Mediums überzeugt war und seitdem der spiritistischen Bewegung mit Offenheit begegnete (zu ihrem aktiven Propagator wurde er erst etwa dreißig Jahre später). Grenzbereiche dieser Art werden in den Holmes-Geschichten nur selten berührt; wenn überhaupt geht es nicht um Geister und Gedankenübertragung, sondern um jene „letzten Fragen, die der sinnsuchende Mensch in religiöser Hinsicht stellt. Hier aber versteht Doyle es geschickt, dem Leser Rätsel aufzugeben, denn Holmes tätigt immer wieder Äußerungen, die ganz denen eines gläubigen Menschen entsprechen – wo es doch ansonsten kaum vorstellbar ist, dass ein sperriger Bohème-Typ wie er im bürgerlichen Sinne religiös sein könnte. Wenn Watson an anderer Stelle erwähnt, dass Holmes zu Fragen der Kunst »äußerst krude Ansichten« vertrat – wir werden hierauf später ausführlich zurückkommen – dann liegt die Vermutung nahe, dass es sich auch auf metaphysischem Gebiet so verhielt. Ausgeprägt-eigenwilliger Kunstsinn und ein undurchdringliches Verhältnis zur Religion sind jedenfalls zwei der Kontrastmittel, derer sich Doyle bediente, um das Schema der reinen „Denkmaschine" zu durchbrechen. Ein drittes, und bei weitem das eindrücklichste, kommt hinzu: der Drogenkonsum von Holmes, seine Einnahme von Kokain und Morphium in Phasen der Untätigkeit. Die Figur des Sherlock Holmes kann nur ausschnittsweise (oftmals leider klischeehaft) beschrieben werden, solange all diese Aspekte nicht stimmig ineinander greifen.

    Arthur Conan Doyle hat spätestens mit dem Vorwort zu His Last Bow (dem vierten, 1917 erschienenen Sammelband von Holmes-Geschichten) dazu eingeladen, sein modernes Dioskurenpaar als reale Personen zu behandeln: Die kurze Vorrede ist angeblich von Dr. Watson verfasst und unterrichtet den Leser darüber, dass der vormalige Großstadtmensch Holmes sich nunmehr in den Sussex Downs in Südengland zur Ruhe gesetzt habe.⁴ Doyle, der übrigens vom jungen Ur-Sherlockianer Knox persönlich angeschrieben wurde und sich von dessen akribischer Holmes-Exegese nicht wenig überrascht zeigte, ermunterte hier also seinerseits zum Sherlockian Game bzw. zur Einbettung fiktiver Figuren in die Realhistorie. Was dabei schlussendlich herauskam, kann in verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens bestaunt werden: Sherlock Holmes ist die einzige fiktive Gestalt, an die in England – sprich, London sowie seinem angeblichen Rückzugsort in Sussex – mit jenen blue plaque-Gedenktafeln erinnert wird, die ansonsten realen Personen vorbehalten sind. Auch mit Ehrenmitgliedschaften in seriösen wissenschaftlichen Gesellschaften wird zum Ausdruck gebracht, dass Holmes larger than fiction sein soll.⁵

    Wenn für den ungeheuren Erfolg der Holmes-Geschichten eine Erklärung gesucht wird, so wäre der erste zu benennende Punkt tatsächlich ein gekonnt inszenierter Realismus.⁶ Dem bescheidenen, bodenständigen Kriegsveteranen Watson folgt man gerne, wenn er versucht, uns so nahe wie möglich an das Faszinosum Holmes heranzuführen. In dieser Annäherungsbewegung geschehen meist zwei Dinge. Zum einen wird die heimelige Baker Street-Atmosphäre mit den Schilderungen der Fälle kontrastiert; Holmes blüht erfahrungsgemäß nur dann richtig auf, wenn diese seinen Geist durch besonders ungewöhnliche, ja bizarre⁷ Einzelheiten herausfordern. Zum anderen wird Watson hier regelmäßig zum scheiternden Erzähler, denn gerade wenn er das Glück hat, dass Holmes angesichts eines besonders reizvollen Falles aus seiner üblichen Reserviertheit herauskommt und ins Dozieren gerät, geben ihm die Abläufe insgesamt Rätsel auf. Am Ende jeder Erzählung mag Holmes’ Ermittlungsverfahren in all seiner Genialität offengelegt sein, doch als denkende und handelnde Person bleibt Holmes das immer gleiche Enigma. Mit einem unserer hochtechnisierten Gegenwart angepassten Bild könnte man sagen, dass Watson wie eine partiell untaugliche Weltraumsonde ist, die zwar viele Aufnahmen vom Zielplaneten macht, aber nicht wie geplant auf diesem landet, sondern immer wieder nur vorbeifliegt. Es ist Watsons Glück, im Bannkreis von Holmes zu stehen, er kann für sich beanspruchen, sein engster Begleiter zu sein, aber er ist naturgesetzlich dazu verdammt, auf Distanz zu bleiben. Die sehr wenigen Ausnahmen, in denen Holmes – meist angesichts lebensgefährlicher Situationen – tiefere freundschaftliche Regungen zeigt, bestätigen nur diese Regel.

    Watsons Scheitern am Phänomen Holmes spiegelt das Scheitern der neugierigen Leserschaft. Immer wenn Watson meint, die teilweise aufgedeckten Gedankengänge seines zutiefst bewunderten Freundes selbstständig weiterdenken zu können, fällt er bald aus allen Zusammenhängen wieder heraus und muss darauf hoffen, dass Holmes ihm das tatsächliche Konstrukt offenbart. Diese Offenbarungen werden dann, auf subtile Weise, zur Wiederholung des ersten Scheiterns, denn Watson glaubt in seinen regelmäßigen „jetzt, wo Sie es erklären, ist alles so einfach!"-Ausrufen nur, Holmes verstanden zu haben – genau betrachtet ist dies niemals der Fall; er weiß nicht, was im Kopf seines Gefährten vor sich gegangen ist; die letzten Feinheiten⁸ der Holmes’schen Methode bleiben verborgen. Es ist nicht nur Watsons übergroßer Abstand in Sachen Beobachtungsfähigkeit, der ihn dazu nötigt, die finale Auflösung des Rätsels durch Holmes’ typische (Selbst-)Inszenierungen abzuwarten. Vielmehr ist es sein absolutes Unverständnis der Holmes’schen Gedankenwelt, das besonders durch den Irrglauben erzeugt wird, der Bohème-Detektiv sei eine hochspezialisierte Beobachtungs- und Denkmaschine. Oft genug relativiert Holmes selbst dieses Bild und hebt die Rolle der Fantasie hervor, doch eben diese fehlt Watson: Er kann sie in Holmes’ System nicht sicher verorten; sie bleibt eine Art flüchtiger Zusatzstoff, während das wirklich Greifbare nur auf Empirie und Logik zu beruhen scheint. Einen Primat des Irrationalen, der Intuition, der Fantasie, ihre Bedeutung vor aller Logik kann Watson höchstens dann und wann erahnen, aber stimmig in Holmes’ Innenleben einzuordnen vermag er diesen Teil des Wahrheitsfindungsprozesses nie.

    Dass die Innenwelt des Sherlock Holmes nicht weniger labyrinthisch sein dürfte als das von ihm so geliebte, von menschlicher Aktivität und menschlichen Abgründen wimmelnde London⁹, liegt nahe, und ebenso, dass dieses Labyrinth nur wenige kurze Durchstiege bietet, sondern hauptsächlich Umwege. Das Sherlockian Game ist so gesehen ein Lustwandeln in den Irrgärten des Kanons; auch randständigste Themen werden liebevoll abgehandelt, um versteckte Verbindungen aufzuspüren. Im Laufe der Jahre haben sich einige Ergebnisse verfestigt, die als Basisresultate angesehen werden und mit denen man üblicherweise weiterarbeitet, auch wenn Gegenargumente im Raum stehen mögen. Auf der biografischen Ebene etwa wird davon ausgegangen, dass Holmes 1854 geboren wurde (vgl. z.B. Ellison 1978, S.41) und dass das legendäre erste Aufeinandertreffen von Holmes und Watson im Labor des Bart’s College zu Beginn des Jahres 1881 geschah, Holmes zu diesem Zeitpunkt also vor Vollendung seines 27. Lebensjahres stand. Besagte Jahreszahl 1881 ist in London sogar auf Gedenktafeln verewigt, aber es gibt triftige Gründe, sie in Frage zu stellen: Zuletzt hat Ilmer (2015) gezeigt, dass das Jahr 1882 stimmiger der ersten Begegnung von Holmes und Watson – bzw. den bei dieser Gelegenheit fallenden legendären Worten »you have been in Afghanistan, I perceive« – zugeordnet werden kann. Zuvor dürfte Holmes in Oxford oder Cambridge studiert haben, wobei Oxford – wenngleich nur nach sehr allgemeinen Erwägungen – als wahrscheinlicher gilt (siehe Cooper 1976).

    Wie bereits erwähnt, werden Probleme mit Jahreszahlen gerne dem notorisch unzuverlässigen Watson zur Last gelegt, doch gleichzeitig bietet das Sherlockian Game eine naheliegende Möglichkeit zu dessen Ehrenrettung: Demnach sah Watson sich zuweilen gezwungen, falsche Angaben zu machen, um die realen Vorfälle zwecks Schutz von Persönlichkeitsrechten¹⁰ zu verschleiern. Zwischen diesen beiden Extremen, also ungenauen Notizen einerseits und gewissenhaft vorgenommenen – zudem wohl auch von Holmes gewünschten – Unkenntlichmachungen andererseits schwanken die angebotenen Erklärungen. Tatsächlich kann man finden, dass Watson solche Änderungen (wenn schon nicht der Jahreszahl, dann zumindest von Orten und Namen, wie in The Three Students) selbst ankündigt und dem Leser von vornherein klar macht, dass auf Grundlage seines Berichtes die wahren Beteiligten nicht zu ermitteln sein werden (der Beginn von The Veiled Lodger ist besonders amüsant, da Watson sich dort gezwungen sieht, einer namentlich nicht genannten Politikerperson zu drohen, weil diese seine Diskretion nicht zu schätzen weiß). Trotzdem muss man sich fragen, ob es z.B. wirklich nötig ist, dass Holmes nach seinem tödlichen Zweikampf mit dem Verbrecherfürsten Moriarty für drei Jahre von der Bildfläche verschwindet – von 1891 bis 1894, dem sogenannten great hiatus – und Watson dessen ungeachet zwei Fälle innerhalb dieses Zeitraumes datiert: Hier kommt man nicht umhin, wieder an die aus Afghanistan mitgebrachte Gewehrkugel zu denken, die im ersten Holmes-Roman in Watsons Schulter, im zweiten aber im Bein steckt (und in der späteren Erzählung The Noble Bachelor dann wieder im Arm).

    Besagter Verbrecherfürst Moriarty lieferte auch den Stoff für die wohl bekannteste Kontroverse unter den Sherlockianern. Behauptet wurde, dass Holmes die Figur des „unsichtbar" aus dem Hintergrund agierenden Erzschurken Professor Moriarty selbst erfunden habe, oder gar an einer paranoia moriartii leide (vgl. Sheperd 1986, S.22): Moriartys Erwähnung am Beginn von The Valley of Fear sowie die in The Final Problem geschilderte, mit dem Kampf am Reichenbachfall endende Verfolgungsjagd durch Europa sollen nur den traurigen Höhepunkt des Holmes’schen Drogenproblems darstellen.¹¹ Die Fürsprecher dieser Theorie verweisen darauf, dass Holmes die Existenz von Moriarty zwar ständig behauptet, aber beide nie zusammen von „neutralen" Dritten beobachtet werden, erst recht nicht bei ihrem finalen Aufeinandertreffen bzw. dem angeblichen, seltsamen Ringkampf am Wasserfall (tatsächlich muss man fragen, warum Moriarty, nachdem er Holmes so geschickt in die Sackgasse gelockt und Watson kilometerweit von ihm weggelotst hat, nunmehr ohne irgendeine Waffe zum Kampf auf Leben und Tod antritt). Die konservativ eingestellten Gegner dieser Argumentation können jedoch anführen, dass Holmes während der Flucht vor Moriarty – aus dem Fenster eines Zugabteiles zeigend – Watson auf einen Verfolger aufmerksam macht, der der zuvor gegebenen Beschreibung seines Todfeindes recht genau entspricht, und ferner, dass Moriartys Spießgeselle Colonel Sebastian Moran alles andere als eine Drogenhalluzination ist, wird er doch in The Empty House von Holmes und Watson gemeinsam mit der Londoner Polizei zur Strecke gebracht. In diesem Szenario werden Holmes’ möglicherweise ausufernde Probleme mit psychoaktiven Drogen nicht abgestritten, aber die These, dass Moriarty Produkt einer drogeninduzierten Paranoia oder einer in größenwahnsinniger Manier von Holmes selbst inszenierten Täuschung gewesen sei, gilt als unhaltbar (vgl. z.B. Hall 1978).

    Für unsere Untersuchung, wie sie in den folgenden Kapiteln durchgeführt werden soll, ist das Problem des Holmes’schen Drogenkonsums gleichermaßen ein Ziel- und Ansatzpunkt. Es ist Holmes’ Narkotika- und Stimulantienmissbrauch, den Watson als dessen einzigen echten Persönlichkeitsdefekt bezeichnet¹² (einige andere charakterliche Abnormitäten kann er demgegenüber leicht verschmerzen) und der dem Doktor lange Zeit Kummer bereitet, bis er in The Missing Three-Quarter die erfolgreiche Überwindung der »Drogensucht« verkünden kann. Ob es sich wirklich um ein Suchtphänomen handelte (vgl. etwa Spanier 2011) ist dabei ebenso schwer zu beantworten wie die Frage, was Holmes überhaupt – und zu welchem Zeitpunkt seines Lebens – zur Einnahme harter Drogen veranlasste. Jedenfalls markiert dieses sein Verhalten ein irrationales Extrem, das sich innerhalb des sonst von ihm überlieferten, äußerst rational ausgerichteten und stets nach Kontrolle strebenden Charakters kaum stimmig einordnen lässt. Grundsätzlicher Leitfaden der folgenden Untersuchung soll daher das Verhältnis von „irrational versus „rational bei Sherlock Holmes sein. Es wird davon ausgegangen, dass eine möglichst genaue Darstellung dieses Verhältnisses zu einem vollständigeren und ganzheitlicheren Verständnis der Holmes-Figur führen sollte, und damit zur Überwindung des ausschließlich auf strenge Logik fixierten „Denkmaschinen"-Bildes.

    Keineswegs soll dabei in Abrede stehen, dass Holmes als überragender Beobachter und Meister der Deduktionskunst konzipiert war. Aus diesem Grund wird hier und im Folgenden auch die Person des Erfinders Doyle nicht so ausgeblendet, wie es im Sherlockian Game üblicherweise der Fall ist. Beabsichtigt ist, der schöpferischen Leistung Doyles gerecht zu werden, indem die Figur Sherlock Holmes ganz im Stile des Sherlockian Game als reale, aber eben auch als lebendige Persönlichkeit betrachtet wird (denn es ist nichts weniger als „das Leben" – alle Totalität des Begriffes ausschöpfend – in dem Holmes sich in unvergleichlicher Weise verortet). Demnach lief Holmes’ Karriere als consulting detective zwischen 1874 und 1881 eher langsam an, steigerte sich nach dem ersten Zusammentreffen mit Watson 1882¹³ zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte und endete mit dem Jahr 1903 bzw. Holmes’ Rückzug in die Sussex Downs, wo der Ruheständler z.T. noch Fälle zu lösen hatte, wie beispielsweise in The Lion’s Mane. Die bevorzugten Schätzungen seines Alters, basierend auf dem Geburtsjahr 1854, werden mit dieser Rahmenchronologie übernommen, zumal leichtere Korrekturen nach oben oder unten die Argumentation nicht wesentlich stören.

    „Drogenrausch und Deduktion steht für das Spannungsfeld von irrational und rational, welches Holmes’ Innenleben ausmacht und entlang dieser Polarität einem bisher nicht gegebenen Verständnis zugeführt werden kann. Anstelle der Begriffe „Innenwelt oder „Innenleben" könnte auch eingrenzender vom Denksystem des Sherlock Holmes gesprochen werden, da sich textlich belegen lässt, dass er früh ein eigenes System der Beobachtung und Deduktion entwickelte und sich dann, in einem biografisch gesonderten Schritt, zur kriminalistischen Anwendung seiner speziellen Fähigkeiten entschloss. Diese schrittweise „Selbsterziehung" zum herausragenden Ermittler verführt zusammen mit Holmes’ naturwissenschaftlicher Kompetenz zu der Annahme, dass besagtes Denksystem nicht anders als rein rational und wissenschaftlich vorstellbar ist. In unserer Untersuchung wollen wir jedoch besonders beachten, an welchen Stellen, und vor allem zu welchen Zwecken (!) sich Holmes den Bereich des Irrationalen offenhielt. Die einfachste Begründung hierfür lautet, dass ein Denksystem nicht per se rational sein muss: Es kann irrationale Elemente enthalten, oder zumindest nicht weiter beweisbare Bestandteile, welche man je nach Kontext Dogmen oder Axiome nennen mag. Überhaupt drängt sich die Frage auf, was genau Holmes eigentlich meint, wenn er bei verschiedenen Gelegenheiten die Bedeutung der Fantasie betont (von „Intuition, einem von ihm seltener gebrauchten Begriff, ganz zu schweigen). „Denken soll im Folgenden also, der Problemstellung durchaus angemessen, auch höchst fantasievolle Gedanken umfassen (wir werden bald sehen, dass Holmes hier einer ganz besonderen Idee anhängt, nämlich einer anthropologisch ausgerichteten Fusion von Realität und Fantasie). Was den Begriff des „Systems anbelangt, so ist vorläufig festzustellen, dass wir uns Holmes als hochbegabten, überragenden Systemarchitekten vorzustellen haben, bei dem wir uns wenig Hoffnung machen dürfen, sämtliche Feinheiten jemals nachvollziehen zu können. Es kann jedoch begründet angenommen werden, dass er ein Gespür dafür hatte, dass die Teile eines Systems ihre Ordnung zuweilen „von selbst¹⁴ hervorbringen: Nicht umsonst ist Holmes ein großer Liebhaber der Chemie, und wie wir später ausführen werden, dürfte die Entdeckungsgeschichte des Periodensystems der Elemente einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht haben. Ohne den exakt-naturwissenschaftlichen Einfluss und ein daran erzogenes Talent zur Systematisierung von Wissen (ebenso wie zur Hypothesenbildung) ist Holmes nicht vorstellbar; gleichzeitig ist er jemand, der die Wissenschaftlichkeit seiner Verfahren zur Kunst erhoben hat und im Stile eines Künstlers betreibt. Es soll gezeigt werden, dass sein System bei aller theoretischen und architektonischen Brillanz zunächst auf erfolgreiche Praxis ausgerichtet war, und dass er es gründlich genug durchdacht hatte, um

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