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Reis & Asche: Roman
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eBook265 Seiten3 Stunden

Reis & Asche: Roman

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Über dieses E-Book

Meena Kandasamy erzählt von dem Massaker in Kilvenami (Süd-Indien), bei dem 1968 vierundvierzig Dorfbewohner - landlose Dalit (›Unberührbare‹) - in einer Hütte verbrannt wurden. Sie hatten sich der Kommunistischen Partei angeschlossen und das Undenkbare gewagt: die Stimme zu erheben für eine halbe Portion Reis mehr am Tag. Der Roman bezeugt den Justizskandal, in dem Polize, Politiker und Richter zum Erhalt der Macht der Grundgesitzer beitrugen.
Aber was heißt, Kandasamy erzählt? Kann sie das, die 16 Jahre nach dem Massaker Geborene, der die Geschichte nur durch mündliche Berichte, Zeitungsartikel und Gerichtsakten zugänglich ist?
Kandasamy zerstört lustvoll alle Erwartungshaltungen an Form und Sprache, kokettiert nicht mit Exotismus oder geübtem Storytelling.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Apr. 2016
ISBN9783884235218
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    Buchvorschau

    Reis & Asche - Meena Kandasamy

    Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen

    Amts unterstützt durch Litprom - Gesellschaft zur Förderung der Literatur

    aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.

    Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e.V. für ein

    Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und

    Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.

    Titel der Originalausgabe:

    The Gypsy Goddess

    © 2014 Meena Kandasamy

    Originalausgabe 2014 bei Atlantic Books Ltd.

    © 2016 Verlag Das Wunderhorn GmbH

    Rohrbacher Straße 18

    D-69115 Heidelberg

    www.wunderhorn.de

    Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche

    Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung

    elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    eISBN 978-3-88423-521-8

    Meena Kandasamy

    Reis und Asche

    Aus dem Englischen und mit einem Glossar

    von Claudia Wenner

    Wunderhorn

    Für Amma, Appa und Thenral, die mich zusammenhalten

    Mord und Terror konnten sie nicht aufhalten. Wie kann man einem Manne Angst machen, dessen Hunger nicht nur in seinen eigenen verkrampften Gedärmen rumort, sondern auch in den armseligen Bäuchen seiner Kinder? Man kann ihm nicht Angst machen – er hat eine Angst durchlebt, die jede andere überwiegt.

    John Steinbeck, ›Früchte des Zorns‹

    [Deutsch von Klaus Lambrecht, München: dtv, 16. Aufl. 2007, S. 275]

    PROLOG

    Lang lebe die Landwirtschaft! Die Landwirtschaft ist Dienst an der Nation!!

    Wir werden die Reisproduktion steigern!

    Wir werden die Hungersnot an der Wurzel beseitigen!!

    DER REISERZEUGERVERBAND NAGAPATTINAM TALUK

    42/2, Mahatma Gandhi Salai, Nagapattinam, Tanjore Distrikt

    MEMORANDUM EINGEREICHT AN DEN

    MINISTERPRÄSIDENTEN VON MADRAS

    MIT DER BITTE UM SOFORTIGE BEHEBUNG DER

    MISSSTÄNDE IN DER REISLANDWIRTSCHAFT

    Seien Sie gegrüßt!

    Schweren Herzens ersucht der Bittsteller Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Ihre gütige Aufmerksamkeit auf das Leid der Reisanbauer von Nagapattinam zu lenken, das diese infolge der bösartigen Politik und falsch aufgefassten Propaganda, die die Kulis ergriffen hat, durchgemacht haben.

    In den letzten zehn Jahren haben Kulis in der Landwirtschaft ständig höhere Tageslöhne gefordert. Immer wenn man sie ihnen verweigerte, organisierten sie Streiks und lähmten das Leben in unserem Distrikt. So genannte Kommunistenführer, selbst ziemlich wohlhabend, sind auch verantwortlich für illegale Landnahmen. Sie missachten nicht nur die Rechte der Grundbesitzer, sondern verfahren wie militante Naxaliten, indem sie die Arbeiter dazu anzetteln, dieses widerrechtlich angeeignete Land zu bebauen. Es reicht, festzuhalten, dass sie faktisch die Felder anderer Leute abernten und die landwirtschaftlichen Erzeugnisse mitnehmen, von denen ein Großteil bei ihren Führern landet.

    Die zunehmende Pein der Land besitzenden Mirasdars hat uns gezwungen, den Reiserzeugerverband ins Leben zu rufen, von dem wir zweierlei erwarten: die Kulis in der Landwirtschaft aus der schlimmen Gesellschaft dieser fragwürdigen Führer zu befreien, und eine Beziehung des gegenseitigen Wohlwollens und Verständnisses zwischen Grundbesitzern, Pachtbauern und den Kulis in der Landwirtschaft, die beim Reisanbau eine äußerst wichtige Rolle spielen, herzustellen.

    Die Kommunistenführer tauchen immer nur mit einer Liste von Forderungen auf und stacheln ihre Anhänger zum Streik an. Wenn ihren unvernünftigen Forderungen nicht nachgegeben wird, treten sie an die Regierung heran, die Gespräche mit den sich bekriegenden Grundbesitzern und Arbeitern führt, woraufhin vorübergehend eine Einigung erzielt wird. Der Bittsteller ist wie die anderen Landwirte der Meinung, dass jedes Treffen die Privilegien der Kulis in der Landwirtschaft vergrößert hat, wodurch die Kommunistenführer bestärkt und ermutigt wurden, eine Hungersnot zu schaffen, um dieses Land in eine Brutstätte für den Maoismus zu verwandeln.

    Als Bittsteller möchte ich darauf hinweisen, dass die Kulis weiterprotestieren werden, damit neue Abkommen zustandekommen. Alle diese Abkommen waren bisher eine Bedrohung für den Frieden und Recht und Ordnung. Immer wenn die Regierungsbeamten beschlossen haben, Dreiergespräche zu führen, erscheinen diese Führer mit einer Liste unmöglicher Forderungen. Der Bittsteller, selbst Grundbesitzer aus Irinjiyur und Vertreter der Mirasdars, ist stur geblieben und hat sich geweigert, auf irgendeine dieser Forderungen einzugehen, und dies mit der Nichtumsetzbarkeit dieser Forderungen begründet, wobei er dieselbe Hartnäckigkeit zeigte wie seine unbeugsamen Gegner. Die Kompromisslosigkeit des Bittstellers und seine Entschlossenheit, sich nicht von ein paar Kommunisten erpressen zu lassen, hatten zur Folge, dass er als ihr größter Feind betrachtet wird. Sie meinen, irreparablen Schaden anrichten und alle ins Elend stürzen zu müssen und haben mehrmals gedroht, den Bittsteller und seine Verwandten umzubringen. Damit diese Drohungen Früchte tragen, haben sie zudem vor dem Haus des Bittstellers gewaltsame Agitationen organisiert. Da der Bittsteller seinem Selbsterhaltungsinstinkt gefolgt ist und sich niemals von ihnen hat provozieren lassen, ist es ihm gelungen, sich vor körperlichem Schaden zu bewahren. Mit ihren kindischen Aktionen und politischen Tricks vermochten die Kommunisten weder die Entschlossenheit noch die Weltanschauung des Bittstellers zu erschüttern. Folglich haben die verzweifelten Kommunisten auf eine andere schockierende und gefährliche Strategie umgeschwenkt.

    Zurzeit haben ihre Führer einen ihrer pflichtgetreuen Handlanger namens Chinnapillai an einen geheimen Ort geschickt und Anzeige erstattet, der Bittsteller habe diesen Mann umgebracht und alle Beweismittel für diesen Mord vernichtet. Aus sicherer Quelle wurde in Erfahrung gebracht, dass dies am 15. Mai 1968 auf dem Polizeirevier von Keevalur, Nagapattinam, als ›Vermisstenanzeige‹ abgeheftet wurde, und wegen dieser Falschmeldung momentan von der Polizei ermittelt wird. An dieser Stelle ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass vor drei Jahren eine ähnliche Verschwörung ausgeheckt worden war, in die der Bittsteller damals verwickelt war. Ein Mann namens Sannasi ging in ein Dorf bei Karaikkal und sofort ging das Gerücht um, dass dieser Mann von den Grundbesitzern ermordet worden sei. Doch bevor diese Geschichte die Gestalt einer böswilligen Anzeige annehmen konnte, wurde bekannt, dass Sannasi in jenem Dorf an Alkoholvergiftung gestorben war, weil er schwarzgebrannten Arrak getrunken hatte. Die obengenannte Anzeige offenbart die böse Absicht der Kommunistenführer, die verbissen versuchen, den Bittsteller ins Gefängnis zu bringen, weil er für ihre schändlichen Aktivitäten die größte Bedrohung darstellt.

    Sie haben nicht nur wie beschrieben Anzeige erstattet, sondern auch öffentliche Versammlungen abgehalten und die sofortige Festnahme des Bittstellers verlangt. Als die Führer trotz größter Mühen nicht das gewünschte Resultat erzielten, änderten sie ihren Angriffsplan. Als Teil dieser neuen Strategie organisieren sie Aufmärsche direkt vor dem Haus des Bittstellers, skandieren provozierende Parolen und verurteilten den Bittsteller auf höchst diskreditierende Weise. Sie überhäuften ihn mit Flüchen und haben insgeheim erwartet, er würde vor sein Haus treten, damit sie mit ihm machen konnten, was sie wollten. Unter solch bedrohlichen Umständen blieb der Bittsteller aus Vorsicht hinter abgeriegelten Türen und bewahrte sich so vor einem verhängnisvollen Schicksal.

    Ohne geringsten Zweifel glaubt der Bittsteller, dass die Kommunisten ihn zum Ziel ihrer Agitation erkoren haben und dass sie dieses Ziel erreichen werden. Falls die Kommunisten nicht in Schranken gehalten werden, falls keine dauerhaften rechtlichen Maßnahmen ergriffen werden, um dieses Problem zu lösen, dann wird kein Grundbesitzer mehr in Sicherheit sein. Der Bittsteller ist der Meinung, dass, falls dieses Ärgernis nicht im Keim erstickt wird, es in Nagapattinam zu noch nie dagewesenen Problemen kommen wird.

    Obwohl die Kommunistenführer und ihre leichtgläubige Gefolgschaft unser Land widerrechtlich betreten haben, unsere Frucht unbefugt geerntet haben und uns hierdurch immenses Leid zugefügt haben, sehen wir uns als Mitglieder des Reiserzeugerverbands einer Politik des strikt gewaltlosen Widerstands verpflichtet. Um uns in Zukunft vor einer solch organisierten Erpressung und unsinnigen Angriffen zu schützen, obliegt es dem Bittsteller, Sie, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, inständig zu bitten, für Gerechtigkeit zu sorgen. Der Distrikt Ost-Tanjore braucht ganz dringend Schutz, um seiner ehrenvollen und traditionellen Aufgabe als Korn- und Reisspeicher des Landes weiterhin nachkommen zu können. Wenn den Kommunisten freie Hand gelassen wird, droht eine Hungersnot, die sich für das Volk als Katastrophe erweisen wird.

    In Ihrem geschätzten Buch Thee Paravattum haben Sie, verehrter Herr Ministerpräsident, geschrieben, dass das Feuer der Vernunft das Dogma des Aberglaubens zerstören würde. Es ist nun an der Zeit, das Dogma des Kommunismus zu zerstören, das die Menschen in Klassen spaltet und gegeneinander aufhetzt. Wenn wir dieses Unkraut in unserer Gesellschaft weiter gedeihen lassen, wird es die Hoffnung auf zukünftige Ernten ersticken.

    Es wird respektvoll darum gebeten, dass Eure Exzellenz sich als Ministerpräsident schnellstmöglich mit dieser ernsten Angelegenheit befassen und die nötigen Schritte veranlassen wird, um den vom Terror heimgesuchten und in ständiger Furcht lebenden Grundbesitzern das verlorene Vertrauen zurückzugeben und Nagapattinam auf diese Weise aus den Klauen der Kommunisten zu befreien, damit Gewalt und Blutvergießen verhindert werden.

    Mit vorzüglicher Hochachtung bin ich, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, Ihr ergebenster und gehorsamster Diener

    - Erster Teil -

    HINTERGRUND

    1.Über das Geschichtenerzählen

    In einem Land, in dem despotische Barden über tausend Jahre dafür sorgten, dass nur die Dichtung als Literatur galt – Alliteration unter der Achselhöhle, Algebra um reimende Versfüße –, ist es schwierig, einen Roman zu schreiben. Das Versmaß war alles, worauf es ankam. Doch jede Sprache bringt ihre Luthers und Linden und so weiter hervor , die tamilische Prosa war geboren. Als Schauspielerin im Kindesalter trat sie zuweilen hier und da öffentlich auf, doch da es damals noch kein Reality-TV gab, wurde die kleine Rebellin zur Einsiedlerin, die bald jegliches Sprechen und Singen verweigerte und sich stattdessen für die Einzelhaft entschied. Ein paar Jahre später zeigten sich die ersten Barthaare und Brüste, und Haar kräuselte sich spiralig nach unten, ohne großes Tamtam kam die Prosa in die Pubertät. Von Teenagerängsten geplagt und mit einer androgynen Stimme belastet, merkte dieses Kid sehr bald, dass sich die Dichtung nie würde verdrängen lassen. Die Prosa, die sich selbst verurteilt hatte, tauchte aus einer von Fledermäusen heimgesuchten Bibliothek auf, und brach, Lob als Vorwand benutzend, auf krummen Wegen ins System ein. Ausführliche kritische Kommentare wurden zu den Werken der oben erwähnten tyrannischen Dichter geschrieben und, schlimmer noch, auch gelesen. Dichtung wurde zum multiversalen Megastar; die Prosa begann ihre bescheidene Laufbahn als dubiose philologische Kommentatorin. Hinterhältigkeit und Verrat gehörten in eine andere Zeit, griffbereit, aber verborgen. Jahrhunderte später würden Dedestruktivisten dieses Phänomen studieren und ihre Entdeckungen twittern – die Dichtung: versaut durch schmeichlerische Schönfärberei; die Prosa: bewies, den Wert ungebundener Rede, lief rot an und wurde den Hang zum Kommentar nie los.

    Zurück zum Roman: tamilisch im Geschmack, englisch auf der Zunge, frei von Poesie und Prosodie, aufgetischt als prima Prosa. Vergeben Sie diesem Text den quälenden Hang zu Erklärungsversuchen und die Neigung, jeder Formulierung eine Meinung anzuhängen. Verstehen Sie bitte, dass Weitschweifigkeit zur Prosa gehört. Und verstehen Sie bitte auch, dass dieses Unterwertverkaufen klarer Beweis meiner Verpflichtung zu absoluter Selbstsabotage ist.

    Und jetzt erlauben Sie mir einen verheißungsvollen Anfang. Amen und Bismillah ir-Rahman ir-Rahim. Und so weiter und so fort. Und sechsmal, aus Liebe zu meiner vom biologischen Geschlecht bestimmten Muttersprache Murugamurugamurugamurugamurugamuruga.

    Es war einmal eine alte Frau, die lebte in einem winzigen Dorf.

    Da ich im Sommer nach dem Arabischen Frühling schreibe, rechne ich damit, dass jeder erste Satz eine Enttäuschung sein muss, sofern er keine indirekte Anspielung auf eine Granate, einen Kreuzzug oder das Lieblings-Tabuthema ›Genozid‹ enthält. Hausgemacht wie der Sklavenhandel und betont klischeehaft, will dieser Anfang bewusst enttäuschen und den übertriebenen Wert in Frage stellen, der großen Eröffnungen beigemessen wird.

    Über eine Romanschriftstellerin der ersten Generation aus einem Dritte-Welt-Land, die ganz offensichtlich nicht in ihrer Muttersprache schreibt, werden die Literaturkritiker vielleicht die Nase rümpfen und mich nach der Lektüre einer solch biederen Zeile mit dem Tort des Orange-Prize einsortieren und nichts weiter erwarten als eine dramatisch-traumatische Familiengeschichte. Sollen sie in Frieden buhen.

    *

    Es war einmal eine andere alte Frau, die lebte in einem anderen winzigen Dorf.

    Diese Transplantation fällt flach aufs Gesicht, fatalerweise zuerst auf die Stirn. Solch eine strategische Ortsverschiebung und die Einführung neuer Personen haben keinerlei Auswirkung auf die Wahrnehmung einer Geschichte. Meine Facebook-Freunde, die sich um mich geschart und gespannt auf die entscheidende Anfangszeile gewartet haben, sind bereits gegangen. Meine Familie scheint bereit zu sein, mich zu verstoßen, Freunde fliegen ab, und ehemalige Liebhaber verschwinden. Allmählich wird mir klar, dass niemand die Geduld aufbringt, altbekannte Geschichten oder gemeinsam Erlebtes zu lesen. Und wie soll ich weiterschreiben, wenn die Anfangszeile nicht sofort hunderttausend Gefälltmir-Klicks bekommt?

    Den meisten Menschen hängt Geschichte zum Hals heraus, vor allem dann, wenn Geschichte sich wiederholt, und deshalb bin ich gezwungen, mir etwas Neues auszudenken und ihrer Langeweile ein Schnippchen zu schlagen. Weil es im Roman vor allem darum geht, eine anonyme Leserschaft zu erreichen, will ich versuchen, meine Geschichte in den ersten tausendundacht Erzählungen mit Unspezifischem zu überschwemmen.

    *

    Es war irgendwann einmal eine alte Frau, die lebte in einem recht großen Dorf.

    Die englische Sprache, die die Welt so gekonnt verwaltet hat, verlangt nach mehr Effizienz. Nicht nach diesen dauernden Unterbrechungen. Vielleicht sollte die Anfangszeile den Konflikt formulieren und die Leserinnen und Leser mit der Enthüllung fesseln, dass die alte Frau am Ende ihre gesamte Großfamilie in einem Massaker verliert. Oder aber in der Anfangszeile sollte überhaupt keine alte Frau vorkommen, sondern über ein strittiges Thema nachgedacht werden: über Unberührbarkeit oder Klassenkampf. Vielleicht sollte die Anfangszeile sich weder mit einer Figur noch mit einem Konflikt befassen, sondern von einem Landstrich reden, der die Welt ernährte, jedoch vergaß, das eigene Volk zu ernähren.

    Soweit ich weiß ist es immer gut, mit dem Ort der Handlung zu beginnen: Nagapattinam, Schauplatz der tränenreichen, feuerheißen Geschichte der Alten Frau. Tharangambadi, das Dorf, in dem sie geboren wurde, Land der singenden Wellen. Kilvenmani, das Dorf, in das sie hineinheiratete, das Dorf, das sich mit dem Kommunismus verheiratete. Um mit einem derart überfrachteten Anfang zurechtzukommen, muss ich sehr viel Geschichte ausgraben.

    *

    Ein Land weckt bekanntlich nur dann Interesse, wenn ein Weißer dort landet, Freundschaft mit ein paar Einheimischen schließt, die Regionalküche probiert, viele unverschämte Fragen stellt, massenhaft Notizen in sein Moleskine-Notizbuch schreibt und nach seiner Rückkehr über dieses Land schreibt.

    Ptolemäus – halb Grieche, halb hellenisierter Ägypter und wie andere Weiße von zweifelhafter Herkunft – war sehr stolz auf sein Wissen über abgelegene Orte, kapitulierte vor dem Druck der Verlagshäuser und seiner sich türmenden Rechnungen und ging daran, einen Lonely-Planet-Reiseführer zu schreiben, in dem er die tamilische Hafenstadt Nigamos ein einziges Mal beiläufig erwähnte. Das auf so verzweifelte Art in die Geschichte geschleuderte Nagapattinam wartete daraufhin geduldig, bis eine Tamilin vorbeikam und, beschloss, einen halbwegs ordentlichen Roman zu schreiben, der in dieser Gegend spielt.

    Zwischen dem sechzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert gelangte Nagapattinam von den schneeweißen Händen der Portugiesen in die der Holländer und dann in die der Briten. Dass die Stadt mit all diesen Varietäten und jedem zweiten Vellaikkaaran schäkerte, tangierte ihre Verbindung zu Arabern und Chinesen nicht im geringsten. Alle stahlen ihren Reis und hinterließen als Andenken ihre Religion. Wie viele alte Frauen lebte auch sie mit den hinterlassenen Göttern. Und weil es ihr gelang, deren Geschichten zu verstehen und sich anzueignen, erhob sie sich bald über die anderen Städte und verwandelte sich von einer verschlafenen kleinen Hafenstadt in einen autarken Wallfahrtsort.

    In diesem von Legenden überbordenden Land verspricht ein Tempel, dass ein Gott zum Ender des Todes werde; in Sikkal empfängt Murugan von seiner Mutter den Speer und kämpft danach gegen repressive Dämonen; ein Bad im Tempelteich von Thirunallaru rettet jedermann vor Saturns siebeneinhalbstem verflixten Jahr. Die Religion ist keine entzweiende Unruhestifterin mehr: Alle strömen in Scharen zur Nagore Sufi Dargah; alle verzweifelten Beter rutschen auf Knien zu Unserer Lieben Frau von Velankanni. Auch lässt sich über Geschmack nicht streiten: Hier wird die sonst blutdürstige Kali mit Sakkarai Pongal zufrieden gestellt, einem süßen Festmahl aus Jaggeryreisbrei, während Einheimische ein Stück weiter genau auf die Stelle zeigen können, an der Buddha mit seiner Lampe erschien, sich unter einen Baum setzte und dann verschwand. Sogar der Heilige Antonius, darauf spezialisiert, verlorene Gegenstände wiederzufinden, wurde während einer Überschwemmung in ihre Mitte getrieben. Berühmt für seinen großen Triumphwagen und seine drallen Devadasis, gewährleistete der Tempel von Tiruvarur einst, dass Götter und Menschen eine gute Fahrt hatten. Dann gibt es den Tempel für die pubertierende Neelayadakshi, die einzige tamilische Göttin mit blauen Augen. Aus dem steten Strom weißer Männer, die zu Besuch kamen, hatten zweifelsohne einige ihren Samen verstreut.

    *

    Pfarrer Baierlein, den ein gewisser J.R.B. Gribble aus dem Deutschen übersetzt hat, berichtet in seinem Buch, dass die Dänen in Nagapattinam anlegten und dann in den Norden nach Tharangambadi reisten, das Dorf, in dem die Alte Frau eines Tages geboren werden würde. Sie nannten es prompt Tranquebar und machten sich daran, statt des kursierenden Klatschs das reinste Evangelium zu predigen. An diesem von Gott vorherbestimmten Kommen der Dänen waren ein Schiffbruch, die Begegnung mit dem König und andere aus Hollywooddramen bekannte Besonderheiten beteiligt. Doch machte die Rollenbesetzung der Opferhelden eine Weile lang Probleme. Während Händler und Matrosen der Geschäfte wegen aus Dänemark anreisten – und der zutraulichen Blicke der Tamilinnen –, war kein Geistlicher Manns genug, in einem fremden, heidnischen Land das Amt eines protestantischen Missionars zu bekleiden. Stattdessen wurden zwei Deutsche entsandt, mit leeren Händen, wie Gott und sein Sohn es verlangten. Ohne jeden Anspruch auf Missionsgelder oder Krankenversicherung hielt

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