FILM-KONZEPTE 40 - Milena Canonero
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Rezensionen für FILM-KONZEPTE 40 - Milena Canonero
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Buchvorschau
FILM-KONZEPTE 40 - Milena Canonero - edition text kritik
Autorinnen
[2|3] Auge fürs Detail
Ein Vorwort
Kostüme sollen den Eindruck erwecken, dass sie selbstverständlich getragen werden, so als seien sie geradewegs der Garderobe der Figuren entnommen und nicht eigens für den Film geschneidert, geliehen oder gekauft. Dabei haben Kostüme vieles zu leisten: Sie unterstützen die Schauspieler in der Findung und Entfaltung ihrer Rollen, verleihen ihnen Persönlichkeit und Stil, Haltung und Kontur. Sie enthüllen und verbergen die Identitäten und Absichten, Gefühle und Stimmungen von Figuren. Und sie erwecken eine Epoche, ein Milieu, ein Genre zum Leben.
Kostüme bilden das ästhetische Gewebe des Films, die Textur seiner Mitteilungsgestalt. In dieser Hinsicht sind sie immer schon im Hinblick auf Bilder gestaltet, auf das kompositorische Zusammenspiel von Farbe und Licht, Material und Muster, Figur und Grund. Niemals wirken Kostüme daher nur für sich. Ihre Einbindung in das visuelle Gesamtkonzept des Films erfordert ihre enge Abstimmung nicht nur auf die Maßgaben von Drehbuch und Regie, sondern darüber hinaus auf die Ausstattung und Lichtsetzung im Dialog mit den Verantwortlichen für Szenenbild und Kamera. In ihrer dienenden Funktion wird den Kostümen und ihren Designern nur ausnahmsweise besondere Aufmerksamkeit zuteil, zumeist im Rahmen opulent ausgestatteter Historienfilme, die den Roben eine Bühne bereiten, auf der sie gesehen und bewundert werden.
Bereits als junge Kostümbildnerin, die von Italien nach England kam und dort von Stanley Kubrick engagiert wurde, konnte sich Milena Canonero auf dem Feld des Historienfilms profilieren. Für ihre Entwürfe für BARRY LYNDON (1975) erhielt sie ihren ersten Academy Award, den sie sich mit Ulla-Britt Søderlund teilte. Ein in altrosa Tinte geschriebener Brief von Søderlund an Kubrick, den das Stanley Kubrick Archive in London verwahrt, zeugt nicht nur vom Unmut seiner Verfasserin angesichts eines Zeitungsartikels, der Canonero den alleinigen Credit für das Kostümbild zusprach, sondern auch von der Aufgabenteilung, die ihre Zusammenarbeit grundierte: »During the work on BARRY LYNDON I was contracted as costume designer and Milena your personal assistant, taking care of historical research on make-up, hair and costumes, taking pictures and being your ›sharp eye‹, as you didn’t have time to follow every detail in costumes.« Während Søderlund die Herstellung der Kostüme in einer eigens dafür gemieteten Flugzeugfabrik in einem großen Team überwachte, verantwortete Canonero vor allem deren Entwürfe auf der Grundlage von historischen Recherchen in europäischen Bibliotheken, Museen und Archiven, aus denen sie einen reichen Fundus kostümbildnerischer Ideen generierte.
[3|4]
Milena Canonero (rechts) am Set von BARRY LYNDON, The Stanley Kubrick Archive at University of the Arts London, Licensed By: Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved
Jenseits der handwerklichen Ausführung ist es die gedankliche Konzeption, die Canoneros Kostümentwürfe auszeichnet. Sie zeugt vom vertieften Studium historischer und zeitgenössischer Moden, die im Blick auf die jeweiligen Anforderungen des Films neu gestaltet und variiert werden. In Canoneros Verantwortung fallen auch Schminke und Frisur, die sie ihrer Konzeption einverleibt, ausgehend von dem Diktum, dass das Kostümbild zuallererst beim Kopf beginnt. Selbst dort, wo Canonero vom Scheitel bis zur Sohle die getreue Rekonstruktion einer Epoche oder eines Milieus anstrebt, greift sie nur teilweise auf die originalen Bestände aus den Kostümverleihen und Auktionshäusern zurück. Meistens handelt es sich um ihre eigenen Entwürfe nach historischen Modellen und Mustern, in die Versatzstücke originaler Kleider und Stoffe als Spuren gelebter Geschichte einfließen.
[4|5]
Milena Canonero (von hinten) am Set von BARRY LYNDON, The Stanley Kubrick Archive at University of the Arts London, Licensed By: Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved
Was zunächst ins Auge fällt, sind die ironischen Akzente und Extravaganzen, die sich Canonero gelegentlich im Bruch mit dem Gesamtbild erlaubt. Avantgardistische Straßenkleider in dämonischem Weiß mit über der Hose getragener Schamkapsel, Springerstiefeln, Melone und Wimpernkranz (A CLOCKWORK ORANGE/UHRWERK ORANGE, 1971), Trenchcoats und Nadelstreifenanzüge in den bunten Grundfarben des Comicstrips (DICK TRACY, 1990), französische Hofmode in den Pastellfarben der Macarons von Ladurée (MARIE ANTOINETTE, 2006), Hoteluniformen in Lila und Mauve, dazwischen ein Kleid aus goldenem Seidensamt mit handgemalten Ornamenten wie aus einem Gemälde von Klimt (THE GRAND BUDAPEST HOTEL/GRAND BUDAPEST HOTEL, 2014) – dies sind nur einige der denkwürdigen Kreationen, die Milena Canonero für die Filmleinwand geschaffen hat. Selten halten sich ihre Kostümentwürfe diskret zurück. Eine Annäherung an ihre Arbeit verlangt jedoch stets ein genaueres Hinsehen, bei dem sich Canoneros Blick fürs Detail in all seiner Subtilität erst erschließt.
Die Reihe Film-Konzepte widmet sich mit diesem Heft dem vielgestaltigen Werk einer herausragenden Kostümbildnerin. Es versammelt Beiträge zu Milena Canoneros Entwürfen für Stanley Kubrick und Wes [5|6]Anderson. Es fragt nach dem Bezug der Filmkostüme zur Modegeschichte in MARIE ANTOINETTE und betrachtet den Einf luss ihrer Filmkostüme auf die Gothic-Kultur in THE HUNGER (BEGIERDE, 1983) sowie auf den Safari-Look in OUT OF AFRICA (JENSEITS VON AFRIKA, 1985). Und es wirft Seitenblicke auf ihre Arbeiten für die Opernbühne in der Zusammenarbeit mit Otto Schenk und Luc Bondy. Damit werden die Kostüme von Milena Canonero erstmals in einer umfassenden Darstellung gewürdigt.
Ein großer Dank gilt den Autoren, die sich auf das Abenteuer der Besprechung eines kaum erschlossenen Werks eingelassen haben. Danken möchte ich in diesem Zusammenhang auch dem Stanley Kubrick Archive in London, das uns im Rahmen der Kostümrecherchen Zugang zu der dort beherbergten Sammlung gewährt hat, sowie Warner Bros. Entertainment Inc., Fox Searchlight Pictures, dem Deutschen Filmmuseum, dem Royal Ontario Museum, den Metropolitan Opera Archives und der Lipperheideschen Kostümbibliothek für die Bereitstellung von Bildmaterial für den Druck. Rebecca Boguska hat den gesamten Prozess der Bildrecherche und -beschaffung für dieses Heft mit unermüdlichem Engagement begleitet und damit entscheidend zu dem vorliegenden Ergebnis beigetragen. Ein herzlicher Dank gebührt außerdem Ulrike Brandt und Jerome Schäfer für das Lektorat sowie Michelle Koch für ihre redaktionelle Unterstützung.
[6|7] Daniela Sannwald
Kampfmonturen, Subkulturen
Milena Canonero und Stanley Kubrick
In der Mitte der 1960er Jahre, als Milena Canonero nach London kam, galt die britische Metropole als »swinging«, als Zentrum kultureller, modischer und vor allem popmusikalischer Entwicklungen – wo also sollte eine junge Italienerin Anfang 20, die soeben ein Modestudium absolviert hatte, sonst reüssieren?¹ Schon bald lernte sie Stanley Kubrick kennen, der sich ein paar Jahre früher in London niedergelassen hatte. Und so kam sie zu ihrem ersten Filmauftrag. Man kann sich vorstellen, dass die junge Modedesignerin von dem fast 20 Jahre älteren, zu der Zeit bereits arrivierten Regisseur viel lernen konnte: »Kubrick gave me a lot of guidance. He took me along to check out sites and sent me to photograph certain things. He wanted me to understand what he was looking for. He told me that the head is the most visible part in film and I should start from there.«² Später allerdings behauptete Canonero, dass Kubrick sich überhaupt nicht für die Kostüme interessiert habe.³
Jedenfalls arbeiteten die beiden an zwei aufeinanderfolgenden Romanadaptionen zusammen: Die Dystopie A CLOCKWORK ORANGE (UHRWERK ORANGE, 1971) war das Debüt für die junge Kostümbildnerin, danach kam der Historienfilm BARRY LYNDON (1975), für den sie mit dem ersten ihrer inzwischen vier Academy Awards ausgezeichnet wurde, während Kubrick selbst zwar in drei Kategorien nominiert war, aber leer ausging. Die kongeniale Zusammenarbeit zwischen Kubrick und Canonero sollte sich fünf Jahre später, bei THE SHINING (SHINING, 1980), noch einmal wiederholen. Angeblich hätte Canonero auch für Kubricks letzten Film EYES WIDE SHUT (1999) die Kostüme entwerfen sollen, musste aber wegen anderer Produktionen absagen.⁴ Dass alle Filme von Kubrick sich aufeinander beziehen, hat eine große Zahl seiner Apologeten immer wieder beschrieben.⁵ Weniger war die Rede davon, dass diese Referenzen bis in die Kostüme hineinreichen, was so verwunderlich nicht ist, wenn man der Arbeit der Kostümbildnerin einen ähnlichen individuellkreativen Status zugesteht wie der des Regisseurs. Abgesehen von der persönlichen Handschrift der Designerin führen die Kostüme auch, zumindest im Fall von A CLOCKWORK ORANGE und BARRY LYNDON, den sozial-kulturellen Kontext vor Augen, in dem diese Kostüme entstanden [7|8]sind. Die Filme sind damit im doppelten Sinne period pictures: Sie bilden neben der im Film erzählten Zeit – einer nahen, aber unbestimmten Zukunft in A CLOCKWORK ORANGE bzw. der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in BARRY LYNDON – die Londoner Jugendkultur in den Swinging Sixties ab, also die Zeit unmittelbar vor Beginn der Dreharbeiten.
I. A CLOCKWORK ORANGE
1. Weiß für Gewalt: Die Droogs
In dem 1962 veröffentlichten Roman von Anthony Burgess beschreibt Alex, der jugendliche Erzähler, gleich zu Anfang den extravaganten Kleidungsstil seiner Gang, der Droogs: »The four of us were dressed in the height of fashion, which in those days was a pair of black very tight tights with the old jelly mould, as we called it, fitting on the crotch underneath the tights, this being to protect and also a sort of a design you could viddy clear enough in a certain light, so that I had one in the shape of a spider, Pete had a rooker (a hand, that is), Georgie had a very fancy one of a flower, and poor old Dim had a very hound-and-horny one of a clown’s litso (face, that is). (…) Then we wore waisty jackets without lapels but with these very big built-up shoulders (›pletchoes‹ we called them) which were a kind of a mockery of having real shoulders like that. Then, my brothers, we had these off-white cravats which looked like whipped-up kartoffel or spud with a sort of a design made on it with a fork. We wore our hair not too long and we had flip horrorshow⁶ boots for kicking.«⁷
[8|9]
Die Droogs in Weiß, mit Schamkapseln, Hosenträgern, Militärstiefeln, Hüten und Spazierstock in A CLOCKWORK ORANGE
Es ist erstaunlich, dass sich von diesem eindrücklich geschilderten Outfit nur wenig in den Filmkostümen wiederfindet, die zu Ikonen des Films selbst geworden sind. Übrig geblieben sind die Suspensorien, die allerdings über den weißen, in die Stiefel gesteckten Hosen getragen werden, und die Stiefel selbst. Die bizarren Plastikverzierungen auf Suspensorien und Krawatten sind auf die Manschetten der weißen Hemden oder die Hosenträger gewandert. Marisa Buovolos Beschreibung der »Uniform« ist präzise und bereits interpretierend: »Sie besteht aus einer raffinierten Kombination von Versatzstücken aus der Mode der Vergangenheit und der Zukunft. Die kragenlosen Hemden, die Hosenträger, die Hüte und die codpieces als archaische und unverkennbar männliche Attribute einer vergangenen Epoche stehen im scharfen Kontrast zu ihren ›futuristisch‹ wirkenden weißen Hosen. Alle tragen eine Art auffälligen Ritualschmuck aus Plastik, der als makabere Kampftrophäe bereits das Gewalttätige in ihnen erahnen lässt: ein herausgeschnittenes Auge mit seiner blutigen Spur. Ihre weiten Hosen sind in Militärstiefel hineingesteckt. Sie erscheinen dadurch wie aufgeblasen und verleihen den Droogs ein durchaus bedrohliches Aussehen, zugleich signalisieren sie ihre Gewaltbereitschaft.«⁸ Außerdem tragen