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Das Jubiläum
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eBook282 Seiten3 Stunden

Das Jubiläum

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Über dieses E-Book

Zunächst scheint Georg Langenbucher mit seiner penetranten Ehr- und Titelsucht recht gut zu fahren. Mit Hilfe seines Sekretärs, des Ich-Erzählers, gelingt es ihm, eine Scheinakademie aufzuziehen. Sie vergibt hochtrabende Schwindel-Ehrungen, und Rektor Langenbucher emp-fängt umgekehrt echte, solide Ehrungen von Universitäten und seriösen Institutionen. Im Übrigen kümmert sich die 'Akademie' um ein weltbekanntes Lied, das bald ein rundes Jubiläum feiern wird. Leider steht fast zeitgleich auch in Deutschland ein bedeutendes Jubiläum bevor: Luthers Thesenanschlag vor 500 Jahren. Die Akademie unternimmt groteske, skurrile An-strengungen, um in einer Art "Parallelaktion" zwischen Österreich und Deutschland (ähnlich einer, die Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften" beschrieben hat), die Feierlichkeiten in Thüringen zu übertrumpfen. Hier liegt ein höchst amüsanter Roman vor, der ein Feuerwerk an Absurditäten abzubrennen scheint, sich mit seiner Schilderung von Eitelkeit, Verblendung, Wahnsinn und Lächerlichkeit aber tragisch nah an der Grenze österreichischer Wirklichkeit bewegt. Er kann als Zukunftsroman, Zeitroman und Kriminalroman gelesen werden. Vor allem aber ist es ein Schelmenroman.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Feb. 2013
ISBN9783701362035
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    Buchvorschau

    Das Jubiläum - Werner Thuswaldner

    Jubiläum

    Ich sah halbwegs entspannt zum Fenster hinaus und beobachtete den Himmel. Das bedeutete nicht, dass ich mich langweilte, denn immer noch hätte mich eine Attacke meines Erzfeindes, Universitätsdozent Brauchwasser, treffen können. Ich musste ihn wenigstens am Rand meines Gesichtsfelds im Blick behalten. Jetzt brauchte ich aber nur noch zuzuhören. Meinen Bericht über die Mitteilungsblätter, die gerade in Druck gegangen waren, hatte ich bereits hinter mir. Das war stets ein Gang über dünnes Eis, denn Brauchwasser lauerte darauf, mir einen Fehler nachweisen zu können. Diesmal hielt er seinen Mund.

    Die Kumuluswolken türmten sich, wie von Riesenhand über den Himmel geschoben, blendend weiß, wo sie von der Sonne beschienen waren und tief schwarz an der Unterseite. Durch das bevorstehende Gewitter erhoffte ich mir ein Ende der Schwüle und der Spannung in der Luft. Ich spürte den atmosphärischen Druck leibhaftig auf meinen Schultern, und meine Atemnot nahm zu. Draußen im Gastgarten des Wirtshauses fuhr der Wind in die Kronen der Kastanienbäume.

    Noch immer war der Tagesordnungspunkt ‚Weihnachtsbriefmarke‘ an der Reihe. Die Frage, welches Motiv diesmal abgebildet werden sollte, musste entschieden werden. Der Streit zwischen dem Universitätsassistenten Kammerlander und dem Universitätsdozenten Brauchwasser drehte sich im Kreis. Nicht zum ersten Mal stellte ich mir vor, radikal Schluss zu machen, aufzustehen, den Raum zu verlassen, vor dem Haus ein Taxi zu rufen, zum Flughafen zu fahren und dann über den Wolken ein paar Mal durchzuatmen.

    Keiner der beiden Kontrahenten gab nach. Kammerlander pumpte sich mit den Armen auf wie ein Maikäfer, Brauchwasser, der zunächst nur an den Hirschhornknöpfen seines offenen Hemds drehte, aus dem schwarzes Brusthaar quoll, fing an, als seine Erregung zunahm, seine Frisur zu zerstören. Die ungewöhnlichen Knöpfe deutete ich so, dass Brauchwasser zu seiner Herkunft aus dem hintersten Kleinarlertal stand. Wenn er an ihnen drehte, setzte er vielleicht ein aus heidnischer Zeit stammendes Zauberritual in Gang. Stieg sein Zornpegel noch weiter an, zog er an seinem Kinnbart, wie um ihn zu verlängern. Manchmal war in seiner Aussprache ein Röchellaut zu hören, wie er typisch für den Dialekt im Kleinarlertal war.

    Der eine bestand darauf, dass die Kirche St. Nikola auf der Briefmarke abgebildet werden sollte, Brauchwasser beharrte auf der Wiedergabe eines Notenblatts. Er hatte das Faksimile, das Faksimile der Handschrift Nummer VII, dabei und wiederholte immer wieder:

    „Wir müssen präsentieren, was wir haben, und keine Fiktion. Wir müssen die Menschen mit der Nase auf die Wahrheit stoßen."

    Ich fragte mich, welche Vorstellung Brauchwasser davon hatte, wie im Allgemeinen Briefmarken angefeuchtet wurden.

    Kammerlander ereiferte sich:

    „Was sollen die Menschen mit Noten? Die Noten sagen ihnen gar nichts. Die Kirche St. Nikola ist wichtig. Wir müssen die Erinnerung an sie aufrechterhalten. Die Kirche darf nicht zu einer Idee verkümmern. Ohne Kirche wären wir nichts. Das leuchtet wohl allen ein."

    Er zielte damit in eine Wunde, das wurde mir später klar, als mir Dora Lintschnig einen Blick in Brauchwassers vertracktes Seelenleben tun ließ.

    Kammerlander ließ bewusst offen, ob er die konkrete Kirche meinte, die vor hundert Jahren abgerissen worden war, oder ob er auf die alles beherrschende katholische Kirche anspielte. Kammerlander führte Diskussionen meist um ihrer selbst willen und kämpfte aus purem Vergnügen oft für eine Sache, hinter der er gar nicht stand. Brauchwasser dagegen verfocht seine Meinung mit vollem Ernst.

    Ich musste mich strikt neutral verhalten und durfte ja nicht durch meinen Gesichtsausdruck verraten, was ich von den Beteiligten dachte. Wäre das an den Tag gekommen, sie hätten mich von jetzt auf gleich hinausgeworfen.

    Präsident Stockklausner mischte sich nie in den Streit zwischen Kammerlander und Brauchwasser ein. Ich war sicher, dass er mit den Gedanken anderswo war. Wenn überhaupt. Er trug nämlich stets eine dunkle Brille, die es ihm ermöglichte, zwischendurch ein kleines Schläfchen einzulegen. Ich konnte mir auch denken, dass Stockklausner, während die Kontrahenten übereinander herfielen, sich der Vorstellung hingab, er säße, erfüllt von der eigenen Bedeutung, im Bundesrat und verfolge eine lebhafte Debatte. Stockklausner gelang es stets schon allein mit seiner imposanten Erscheinung Präsenz zu beweisen und als ein Mann zu gelten, der wichtig war und immer mitdachte. Inzwischen freilich hatte seine Körperfülle bedrohliche Ausmaße angenommen. Er wurde von einigen, die es an Respekt vor ihm mangeln ließen, gerade heraus dick genannt. Offenkundig aß er viel zu viel. Er hatte sich mit seiner Verabschiedung aus dem Bundesrat noch nicht abgefunden. Jedenfalls schien er mir noch immer nicht als Ganzer in der Gesellschaft angekommen zu sein, obwohl er schon zwei Jahre ihr Präsident war. Stockklausner, so vermutete ich, betrachtete in seinem konkreten Fall die Bezeichnung ,Präsident‘ als einen Scherztitel. Auf seinem Briefpapier stand daher nicht ,Präsident‘, sondern ,Bundesrat‘, allerdings mit demwenn auch sehr klein gedruckten – Zusatz ,a. D.‘. Keiner konnte übersehen, dass er sich mit dem Posten, den seine Partei für ihn als Trostpflaster ausgesucht hatte, unterfordert vorkam. Jedenfalls war er unglücklich. Dora Lintschnig hatte es mir erklärt: Hätte man Stockklausners Unglück anhand einer Statistik-Torte dargestellt, wäre daraus hervorgegangen, dass zwei Drittel aus dem Schmerz über seine Entfernung aus dem Bundesrat herrührten und ein Drittel vom Tod seiner Frau vor einem Jahr.

    Dora Lintschnig, die einmal ein Volkskundemuseum voller Trachten und heidnischem Krimskrams geleitet hatte, sorgte in den Sitzungen stets für Stabilität. Es wäre völlig falsch gewesen, sie wegen ihres rosa Gesichts und dem präzise geflochtenen Zopf, der ihren Kopf zusammenhielt, für bieder zu halten. Sie strahlte Autorität aus, die aus einer mir unerklärlichen Quelle kam. Ich ahnte, dass sie möglicherweise Zugang zu einer Anderswelt hatte, von der ich nicht das Geringste wusste. Wenn sich die Situation in den Sitzungen zuspitzte und der Streit zwischen Brauchwasser und Kammerlander zu eskalieren drohte, sagte sie leise ,Kinder, Kinder‘ vor sich hin und schon schalteten die Kontrahenten ihre Emotionen um einen Gang zurück.

    Alle Bewegungen Stockklausners hatte sie genau im Blick. Es war für jeden offensichtlich, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Ihr Mitgefühl schien sich immer dann zu vergrößern, wenn Präsident Stockklausner aus einem Röhrchen eine Tablette nahm, sie in den Mund steckte, schluckte und gehörig viel Bier hinterher goss. Dora Lintschnig sagte nie viel. Sie ließ, wie sie betonte, der Wissenschaft den Vortritt. Und die Wissenschaftler nützten ihre Narrenfreiheit in vollen Zügen aus. Aber Dora Lintschnigs Position in der Gesellschaft war dennoch unangefochten, weil die Gesellschaft außer der Wissenschaft auch jemanden brauchte, der einerseits vertraut mit Bereichen der Spiritualität war und andrerseits die Verbindung zu einem großen Publikum aufrecht erhielt, das gemeinhin als ,Volk‘ bezeichnet wurde. Von Dora Lintschnig wurde angenommen, sie wisse aufgrund lebenslangen Trainings, was das Volk von je her gedacht und gewollt habe.

    Der Platz links von Präsident Stockklausner war leer wie so oft. Hier sollte Manfred Zwicker sitzen. Manfred Zwicker war von Beruf Philanthrop und Mäzen, außerdem Ehrenmitglied vieler Vereine. Nie fiel ein Wort der Kritik über seine nicht selten unentschuldigte Abwesenheit, denn er schaffte für die Gesellschaft Geld herbei. Keiner fragte, aus welchen Quellen. Wenn Manfred Zwicker anwesend war, fühlte ich mich an jene Stunden in der Schule erinnert, während denen wir vom angereisten Inspektor als stummem Beobachter kontrolliert wurden. Diese Sitzungen verliefen ungewöhnlich diszipliniert. Jeder versuchte, sich von der besten Seite zu zeigen. Sogar Präsident Stockklausner strengte sich dann an, nicht nur einen wachen Eindruck zu machen, sondern wirklich munter in die Runde zu blicken.

    Manchmal nahm auch der stets braun gebrannte, auf sportliches Aussehen Wert legende Hans Harreiter an den Sitzungen teil. Er wurde von der offiziellen Tourismus-Organisation des Landes entsandt und war ein ehemaliger Schirennläufer, dessen Bild die meisten von seiner Werbung für eine Bank her kannten. Harreiter war einst, wie sich das für Sportgrößen eingebürgert hatte, für seine herausragenden Leistungen auf der Schipiste mit einem Hotel beschenkt und zusätzlich mit einem Posten in der amtlichen Touristik versorgt worden. Freilich musste er vorher einen dreiwöchigen Betriebswirtschaftskurs machen. Und die Lehrsätze, die er da eingetrichtert bekommen hatte, ersparte er uns in keiner Sitzung. Er sprach von Marketingstrategien, davon, wie die Touristenströme gelenkt werden müssen, von Statistiken, von tausenden Hotelbetten, die er derart intensiv belegen wollte, dass sie während einer Wintersaison möglichst nie auskühlen sollten. Eines seiner Lieblingswörter war ,Effizienzsteigerung‘. Die anderen hörten sich seine Ausführungen mit gesenktem Kopf an, so als würden sie den Lärm eines vorbeifahrenden Güterzugs abwarten, und machten sich zum Schein Notizen. Für sie begann die eigentliche Sitzung erst, wenn Harreiter gegangen war. Zum Glück kam er immer zu spät, sonderte seinen Sermon ab und ging dann wieder – zum nächsten dringenden Termin, wie er betonte.

    In den Gesprächspausen war das penetrante Summen einer Fliege zu hören. Wenig später lief sie auf dem Tisch umher. Sie nahm ihren Weg von Kammerlander zu Präsident Stockklausner, der an der Stirnseite saß, wo sie kurz ihren Rüssel in eine kleine Bierpfütze steckte, und von dort weiter zu Brauchwasser. Sie war gewiss als eine Art Vermittlerin mit chiffrierten Botschaften zwischen den Kontrahenten unterwegs. Mich und Dora Lintschnig sparte sie aus. Ich versuchte, sie mit einer weit ausholenden Handbewegung zu fangen, doch Brauchwasser hielt mich zurück, indem er seine Hand beschwichtigend auf meinen Arm legte. Damals wusste ich noch nichts über seine spezielle Beziehung zu Fliegen.

    Auf einem Zettel vor mir standen nur die Wörter ,Kirche St. Nikola‘ und ,Handschrift VII‘. Brauchwasser legte bedrohlich seine Stirn immer wieder in Falten. Er konnte es so extrem, dass ich dachte, er wolle uns diese Begabung absichtlich vorführen. Seine Faltenstirn erinnerte an Waschbretter, wie sie die Frauen früher zum Schrubben verwendet hatten.

    Wenn sich die Sitzung in die Länge zog, ließ meine Aufmerksamkeit nach, und ich fing an, auf das Papier vor mir zu kritzeln. Es reizte mich immer wieder, die Unterschrift Franz Xaver Grubers, des Komponisten unseres Lieds, nachzumachen. Das war nicht ganz einfach, weil sich nach dem Namen ein eigenwilliges Gebilde anhängte. Der Schreiber wollte offensichtlich der biederen Signatur im letzten Moment sichtlich Individualität verschaffen.

    Präsident Stockklausner tat so, als ginge ihn der Streit zwischen Kammerlander und Brauchwasser, weit über den Dingen stehend, nicht das Geringste an. Er drückte aus, dass er für banales Gezänk nicht erreichbar war und vermied es, sich zu bewegen, weil dies bei dieser Hitze unweigerlich mit einem Schweißausbruch verbunden gewesen wäre. Sichtlich von Dora Lintschnig angeregt, fing auch ich an, mich um Stockklausner zu sorgen, beobachtete, in welchen Abständen er eine Tablette in den Mund schob und fürchtete, dass er tatsächlich einschlafen könnte. Die Lautstärke der beiden Kontrahenten nahm zu. Jetzt warteten sie nicht mehr darauf, bis einer sein Argument zu Ende formuliert hatte. Sie redeten gleichzeitig und immer schneller.

    Als Kreibich, der Wirt, seinen Kopf zur Tür herein steckte und fragte, ob alles in Ordnung sei, verstummten die beiden sofort. Kreibich wechselte leere Biergläser gegen volle aus und verschwand wieder. Er bestand darauf, dass Bier getrunken wurde. Wie selbstverständlich schien er uns alle für Trunkenbolde zu halten. Niemand sträubte sich dagegen. Mir war das viele Bier zuwider. Gegen seinen Übereifer war ich aber machtlos.

    Ich sah Dora Lintschnig an, mit einem Blick, der sie ermuntern sollte, in dieser Pattsituation ihre Chance zu nützen, sich entweder auf die eine oder auf die andere Seite zu schlagen, um so eine Entscheidung zu erzwingen. Aber Dora Lintschnig fürchtete sich viel zu sehr davor, Partei zu ergreifen. Dass sie litt, drückte sie mit gelegentlichen Seufzern zur Decke aus, als erwarte sie die Lösung von oben.

    Präsident Stockklausner schien aufzuwachen. Er nahm kurz seine Brille ab und sagte leise:

    „Übrigens, das Motiv für die nächste Weihnachtsmarke wird das Schulhaus von Arnsdorf sein."

    Brauchwassers Gesicht verzerrte sich und seine rechte Hand erstarrte im Krampf.

    Dora Lintschnig stimmte sofort zu:

    „Ja, das Schulhaus von Arnsdorf ist ein gutes Motiv. Es ist so wichtig für unser Lied. Gerade jetzt, wo dort drei neue Busparkplätze für Besucher dazugekommen sind."

    Man konnte bei ihr nicht sicher sein, ob sie es ernst oder ironisch meinte.

    „Aber vergessen Sie nicht", sagte Präsident Stockklausner zu mir, „dass der Schriftzug Friedenslied für die Welt unbedingt drauf stehen muss."

    Ich nickte. Im Raum war es dunkel, fast finster geworden. Auf einmal wurde er durch einen Blitz grell erhellt, und im selben Moment krachte ein Donner so stark, dass das Haus zitterte.

    „Noch etwas?", fragte Präsident Stockklausner. Er nahm die gewaltige atmosphärische Entladung gleichsam als überirdische Bestätigung und freute sich darüber. Zugleich mit dem Donner fing es an zu schütten.

    „Allfälliges, sagte ich. Dora Lintschnig meldete sich. „Wir müssen über den gemeinsamen Ausflug der Gesellschaft sprechen. Eine Busreise, schlage ich vor. Am liebsten nach Fügen in Tirol.

    Ich wusste, dass der gemeinsame jährliche Ausflug schon mehrmals nach Fügen gegangen war. Niemand, nicht einmal Brauchwasser, meldete sich zu Wort.

    Dora Lintschnig zuliebe waren diese Ausflüge stets Busreisen, die nicht länger als zwei Tage dauerten. Sie saß immer vorne beim Chauffeur und gab Erklärungen zu den Bräuchen in der betreffenden Gegend ab. Mit dem Arm zeigte sie auf versteinerte Ritter, auf Höhlen in Felswänden und auf Abgründe, die meist ,Teufelsgraben‘ oder ‚Jungfernsprung‘ hießen.

    „Fügen wird vorgemerkt. Der Ausflug kommt auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung, weil auch die anderen befragt werden müssen", entschied Stockklausner, zündete sich eine Virginia an und hob die Zusammenkunft auf.

    Von Stockklausners Gelassenheit hätte ich lernen können. Denn es kam vor, dass meine Geduld in den Sitzungen zu Ende ging, und dann spürte ich, wie rasch der Unmut in mir zunahm. Wenn ich dann in der Runde von einem Gesicht zum anderen sah, spürte ich eine unbändige Lust, auf Kammerlander loszugehen und womöglich mit der Faust in sein Gesicht zu schlagen. Jedes Mal erschrak ich über meine Aggression. Hätte sie auf Brauchwasser gezielt, wäre sie zu erklären gewesen. Brauchwassers knochige Visage eignete sich jedoch nicht dafür. Aber warum Kammerlander, der mir viel harmloser als Brauchwasser erschien? Es lag wohl an der Art des Gesichts. Kammerlanders Kopf war von einem dichten Gewusel aus Locken bedeckt, er hatte runde Brillen und runde Bäckchen. Bei seinen Augen fiel mir der gute alte Basedow ein. Doch so genau ich Kammerlander auch studierte, ich fand nicht heraus, was mich immer wieder maßlos gegen ihn aufbrachte. Vielleicht war es nur die Neugier darauf, welches Geräusch der Vorgang auslösen würde. Ein wenig besorgt fragte ich mich, wie es um die Kontrolle über mich selbst bestellt sei.

    Ich hatte mir auf den Zettel ,Schulhaus von Arnsdorf‘ notiert und den Namen eingerahmt. Dazu schrieb ich das Wort ,Fügen‘ mit einem Fragezeichen. Außerdem fügte ich hinzu: ,Friedenslied für die Welt‘. Dieser Slogan war der ganze Stolz Präsident Stockklausners, die wichtigste Hervorbringung während seiner Amtszeit. Er glaubte, ihn selbst geprägt zu haben. In Wirklichkeit habe ich ihn ihm suggeriert, zwei Wochen nach meiner Anstellung als Sekretär. Dazu auch noch das Schlagwort ,Globalisierung‘. Es war meine Art, mich bei ihm dafür zu bedanken, dass er mir, gegen Brauchwassers Widerstand, den Dienstvertrag gegeben hatte.

    Brauchwasser wurde abgeholt. Seine Frau wartete nach jeder Sitzung draußen vor der Tür, wie um ihn abzufangen, wie aus Sorge, er könnte ihr entwischen. Sie war eine vorzeitig gealterte, knochige, bleiche, ausgezehrte Frau mit tiefliegenden Augen. Hätte jemand gesagt, sie sei Brauchwassers Mutter, ich hätte es geglaubt; eine jener überfürsorglichen, strengen Mütter, die ihren Söhnen nichts durchgehen lassen und sie gnadenlos an sich binden. In dem schlecht beleuchteten Vorraum hätte man sie auf den ersten Blick auch für einen Mann halten können.

    Mir fiel ihr bohrender Blick auf. Gewiss forderte sie damit widerspruchslosen Gehorsam. Wahrscheinlich fixieren auf diese Weise Schlangen das Kaninchen. Dieser Blick dürfte Roland Brauchwasser vor fünfzehn Jahren getroffen und bis auf den Grund seiner Seele durchdrungen haben. Mit der Folge, dass er, wie mir Dora Lintschnig später erzählte, aus seiner geistlichen Bahn geworfen wurde. Sein Schicksal folgte nicht dem Klischee, nach dem ein Priester abweicht, weil er der Sinnlichkeit einer Frau erliegt. Von Sinnlichkeit nämlich konnte im Fall dieser Frau keine Rede sein. Aber vielleicht hatte ich, wie ich einräumen musste, nicht die entsprechenden Antennen dafür. Jedenfalls brachte sie ihn dazu, dass er abtrünnig wurde und aus dem Priesterseminar floh.

    Kammerlander blieb nach der Sitzung auf seinem Platz. Er hatte wie so oft ein feines, spöttisches Lächeln aufgesetzt und schien mit dem Verlauf der Zusammenkunft recht zufrieden zu sein. Jetzt wartete er auf ein Wort der Anerkennung, wie gut er sich auch diesmal mit Brauchwasser geschlagen habe. Ihm ging es immer darum, sich ein wenig zu produzieren. Er betrachtete die Sitzungen als willkommene Auftrittsgelegenheit. Sein Interesse, seine Empörung, sein Engagement, alles war vorgetäuscht, und die Auseinandersetzungen mit Brauchwasser bloße Scheingefechte. Ich hielt ihn für phäakisch veranlagt. Er war einer, der seine Tage mit dem kleinstdenkbaren Energieaufwand gestaltete.

    Aus dem Fenster sah ich, wie Präsident Stockklausner mit seinem breitkrempigen Strohhut gelassen durch die herabstürzenden Wassermassen zum Auto ging. Im heftigen Wind bogen sich die jungen Bäume, doch er schien es nicht nötig zu haben, seinen Strohhut festzuhalten. Ich dachte, er nützt die Windstöße so geschickt aus, dass ihm der Hut nur noch fester auf den Kopf gedrückt wird. Die Blitze zuckten jetzt fast pausenlos hintereinander, und ein Donnerkrachen ging ins nächste über. Präsident Stockklausner folgte seinem Weg so unbekümmert, als würde die Sonne scheinen. Ähnlich mag Moses beim Auszug aus Ägypten seinem Volk voran geschritten sein. Stockklausner holte mit seinen Beinen aus wie ein Patriarch, dachte ich, allerdings einer, der ein letztes Gefecht führte, um seine Position als Patriarch zu behaupten.

    Neben mir stand Dora Lintschnig. Auch sie blickte Stockklausner nach. Sie seufzte. Ich wusste damals schon, wie dieser Seufzer zu deuten war. Als die Frau Stockklausners vor einem Jahr gestorben war, hatte sich ihm die Lintschnig angeboten, zweimal die Woche bei ihm vorbeizuschauen, um nach dem Rechten zu sehen und ihm zu helfen, über das Ärgste hinwegzukommen. Sie habe, wie sie mir einmal anvertraute, dezente Signale ausgesandt, die leicht so zu deuten gewesen seien, dass sie gegen eine vertraulichere Partnerschaft nichts einzuwenden gehabt hätte. Aber Präsident Stockklausner habe sich zu keiner klaren Antwort durchringen können. Der massige Mann und die zarte Frau hätten ein bizarres Paar abgegeben. Aber wäre Dora Lintschnig der Depression Stockklausners gewachsen gewesen? Hätte er sie nicht mit sich in die Tiefe gezogen? Dora Lintschnig schwankte in ihrem Fürsorgedenken für Stockklausner nicht und hoffte, dass die wechselseitige Zuneigung eines Tages doch noch deutlichere Formen annehmen würde.

    Als ich mich um die Stelle bewarb, wusste ich nicht, worauf ich mich einließ. Es war nicht mehr als ein Versuch ohne großes Risiko. Ich war neugierig, ob ich den Anforderungen einer regelmäßigen Beschäftigung gewachsen sein würde und wollte wissen, was es hieß, in einer Hierarchie meinen Platz zu finden. Das Inserat war aber auch zu vage formuliert: Gesucht war ,ein(e) Sekretär(in)‘. Ich brauchte eine Beschäftigung und konnte nicht mit Qualifikationen glänzen, die den herkömmlichen Berufsschemata entsprachen. Dazu musste einer Betriebswirtschaft studiert haben oder besser noch Jura, denn Juristen fühlten sich zu jeder Zeit fähig, sofern es nicht um medizinische Aufgaben ging, sämtliche Spitzenpositionen in der Gesellschaft zu besetzen. Das Staunen über diese Art von Universalismus hatte ich mir damals schon abgewöhnt.

    Die Ausschreibung stammte von einer Gesellschaft, die sich mit dem Weihnachtslied Stille Nacht! Heilige Nacht! befasste. Es machte mich neugierig, weil das Inserat von den üblichen Stellenangeboten abwich. Im Internet fand ich heraus, dass es der Gesellschaft um ,das populärste Lied der Welt‘ ging, gesungen in dreihundertdreißig Sprachen, ferner um die beiden Urheber, den Textdichter Joseph Mohr und den Komponisten Franz Xaver Gruber. Außerdem liege es der Gesellschaft am Herzen, über die Umstände der Entstehung des Lieds und über seine Verbreitung zu informieren.

    Die Angaben im Inserat klangen so, als sollte ich mich von ihnen angesprochen fühlen. Sie waren aber zu rudimentär. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu und wie das populärste Lied der Welt noch populärer gemacht werden sollte. Was konnte ein Sekretär dazu beitragen? Das Lied lag ja bereits seit zweihundert Jahren fix und fertig vor. Wie sollte man tagaus, tagein, das ganze Jahr über mit einem einzigen Lied das Auslangen finden können? Oder war das eine Anstellung

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