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Die vergessenen Kinder
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eBook130 Seiten1 Stunde

Die vergessenen Kinder

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Über dieses E-Book

Die Lebensgeschichte eines ehemaligen Heimkindes, das in einer Psychiatrie lebte, wird aus heutiger Sicht nach "erlebt". Dabei kommt es immer wieder zu überraschenden Begegnungen der Vergangenheit mit der Gegenwart.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. Apr. 2012
ISBN9783844868487
Die vergessenen Kinder
Autor

Helmut Fahle

geb. 1945, nach Erlernen eines Handwerksberufes habe ich wegen des "sicheren" Arbeitsplatzes eine 2. Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht und mit 50 Jahren die Qualifikation zum Fachkrankenpfleger für Psychiatrie erreicht. Fast 40 Jahre war ich in der "Anstalt" - einer psychiatrischen Klinik -tätig. Nach der aktiven Arbeitszeit wurden viele persönliche Erfahrungen, aber auch Nachforschungen in Kellern und Dachböden der Klinik zur 125-jährigen Geschichte in einer Chronik, die gemeinsam mit der Kollegin Sonja Mertin verfasst wurde, zusammengetragen. Vieles, was dort nicht gesagt worden ist, soll in Form eines Romans dem interessierten Leser nahe gebracht werden.

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    Buchvorschau

    Die vergessenen Kinder - Helmut Fahle

    begann….

    Die Mauer

    Der alte Mann in der altmodischen dunklen Kleidung starrte seit einer viertel Stunde die Mauern aus roten Ziegelsteinen an. Er hatte sich in dieser Zeit kaum bewegt, nur unentwegt auf das große Gebäude aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts gestarrt.

    Bernhard beobachtete die Szene die ganze Zeit. Er begleitete einen jungen Patienten bei dessen Ausgang im Gelände der psychiatrischen Klinik. Dieser machte gerade eine Zigarettenpause auf der Bank vor dem kleinen Park in der Nähe des alten Hauses.

    Bernhard hatte sozusagen Zeit, den alten Mann zu beobachten. Dabei beobachtete er auch sonst alle ungewöhnlichen Vorkommnisse in seiner Umgebung.

    Es war bei ihm zur Routine geworden, seit er vor mehr als 30 Jahren den Beruf des Krankenpflegers hier in der Psychiatrie erlernt hatte.

    „Das war von 70 bis 73, dachte er laut und erntete einen erstaunten Blick seines jungen Weggenossen. Dieser war Patient in der „Anstalt – wie die psychiatrische Klinik inoffiziell heute noch genannt wurde, Selbstgespräche kannte er nur von Mitpatienten.

    „Ja, 1970 habe ich hier angefangen zu arbeiten", beeilte sich Bernhard zu erklären, „da war alles noch ganz anders. Dort drüben das Haus, wo der alte Mann steht, das war ein Krankengebäude mit 3 Stationen und insgesamt 60 Betten.

    Da liefen zeitweise bis zu 100 Menschen herum, da war immer richtig was los. Heute sind in dem Haus nur noch 15 Patienten, die zur Beschäftigungstherapie gehen. Nächstes Jahr soll das Haus abgerissen werden."

    Der Patient hatte überhaupt nicht zugehört, er hatte sich schnell noch eine Zigarette gedreht und bat Bernhard um Feuer.

    „Na, auch gut", knurrte dieser.

    Der alte Mann hatte seinen Standort verlassen und kam mit schlurfenden Schritten auf die Bank zu. Er sah müde aus, mit aschfahlem Gesicht und hängenden Schultern.

    „Es geht ihm nicht gut, er ist sicher auch schon weit über 70 Jahre alt und ziemlich krank", dachte Bernhard. Er bot ihm seinen Sitzplatz auf der Bank an.

    Erfreut, ja erstaunt, bedankte sich der alte Mann.

    „Sind Sie schon lange hier in der Anstalt?, begann dieser jetzt ein Gespräch mit Bernhard. „Früher waren in dem Haus dort drüben doch drei, nein eigentlich vier Abteilungen, weil auf dem Dachboden auch noch Betten aufgestellt waren.

    „Also, ich kenne das Haus seit 1970, sagte Bernhard, „damals gab es drei Stationen, früher sagte man dazu wohl Abteilungen. Dann haben sie viele Patienten, die nach den 80er Jahren in Behinderte umbenannt wurden, in andere Einrichtungen verlegt und die Stationen geschlossen. Nächstes Jahr soll das Haus abgerissen werden. Es schluckt zuviel Heizungsenergie und wird für Behandlungszwecke nicht mehr gebraucht. Dann gibt es wieder ein Haus weniger und eine Rasenfläche mehr im Gelände der Klinik.

    „Ist mir auch sofort aufgefallen, als ich durch die Pforte gegangen bin. Es fehlen eine Menge Häuser. Die Pforte ist ja auch nicht mehr, wie sie früher war.Damals gab es ein großes eisernen Schiebetor und den Pförtner in seiner Pförtnerloge. Ja, die Welt hat sich verändert, auch hier in der Anstalt. Und wie lange sind Sie schon hier?"

    Der alte Mann freute sich, einen Gesprächspartner gefunden zu haben, der sich auskannte.

    „Sie müssen wissen, ich bin seit 1961 nicht mehr hier gewesen, seit mehr als 40 Jahre. Und ich war 15 Jahre hier. Ich wollte schon eher wieder her kommen, aber ich konnte es einfach nicht.

    Als ich eben die alten Mauern angeschaut habe, hatte ich das Gefühl, dass die Steine mir die alten Geschichten neu erzählen wollten. Jetzt bin ich froh, dass ich hier bin."

    „Mal von jemandem zu hören, wie es hier früher war, finde ich sehr interessant", sagte Bernhard. „Wie lange haben Sie denn hier gearbeitet? Waren Sie als Arzt hier oder als Kollege im Pflegedienst? Ich habe schon von meinem Onkel so manches aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg gehört. Der hat als Pfleger fast 40 Jahre hier gearbeitet, ist seit 10 Jahren in Rente.

    Vielleicht kennen Sie meinen Onkel Heribert Meier? Man kann sich das ja kaum vorstellen".

    Bernhard war nicht mehr zu bremsen. Endlich bot sich ihm eine Gelegenheit, von einem Zeitzeuge vielleicht etwas aus der Vergangenheit zu erfahren. Deshalb fuhr er schnell fort: „Damals, im Kriege und in den ersten Jahren danach sollen hier mehr als 1500 Menschen gelebt haben. Heute sind es gerade noch 200 Patienten. In der Nachkriegszeit sind in einem Gebäude, das heute noch inoffiziell Lazarettgebäude heißt, verwundete ehemalige Soldaten behandelt worden. Und dort drüben in dem Gebäude mit dem Spitzgiebel war eine im Krieg ausgebombte Kinderklinik bis Anfang der 50er Jahre untergebracht. Hier sind demnach zeitgleich Babys und alte Menschen gesund gepflegt worden. Das müssen sehr schwierige Zeiten gewesen sein. Vielleicht können Sie mir etwas aus dieser Zeit erzählen. Ich schreibe gerade an Geschichten für eine kleine Chronik über die Klinik. Die „Idioten – Anstalt, wie sie früher hieß, wird 100 Jahre alt. Wenn sie mir etwas von den damaligen Zeiten erzählen wollen, könnte ich diese Geschichten in die Chronik aufnehmen. Ich habe schon ein paar Geschichten von Pflegepersonen, die mir als Zeitzeugen von früher berichtet haben. Dabei schreibe ich nur das auf, was auch nachprüfbar ist. Sie sind sicher ein Zeitzeuge, der am besten aus der Vergangenheit berichten könnte.

    Der alte Mann nachdenklich: „Also, gearbeitet habe ich in der Anstalt, schwer gearbeitet, aber nicht als Arzt oder Pfleger.

    Nein, ich war ein Patient.

    Ich war ein Idiot, wie der eine oder andere auch sagte. Geschichten kann ich genug erzählen, aber will die denn jemand hören? Interessiert sich denn einer für die vergangenen Zeiten? Glaubt mir denn einer, ich bin doch ein ehemaliger Patient? Ich habe schon einige Geschichten von ehemaligen Patienten aus psychiatrischen Kliniken angesehen, die diese im Fernsehen geschildert haben. Was war da meist zu sehen: die Skepsis der Filmemacher und die Dementis der Einrichtungen.

    Die heute Verantwortlichen konnten immer belegen, dass ihre Häuser gut geführt wurden und dass die Berichte der ehemaligen Insassen übertrieben waren. Uns glaubt man nicht!"

    Der junge Patient hatte während des Gespräches unbeteiligt dabei gesessen und seine Zigarette geraucht.

    Jetzt stieß er Bernhard an: „Wir müssen zurück zur Station, meine nächste Therapiestunde fängt gleich an und ich darf heute in der Musiktherapie Schlagzeug spielen. Das will ich auf keinen Fall verpassen."

    Bernhard verabschiedete sich eilig von dem alten Mann.

    „Tut mit Leid, Herr…, jetzt weiß ich leider nicht mal Ihren Namen. Ich hätte gerne noch einiges von Ihnen gehört. Wissen Sie was: Schreiben Sie mir doch mal oder wir können ja mal telefonieren. Hier, ich schreibe Ihnen meine Adresse auf, dann können Sie mich erreichen. Ich würde mich freuen, wenn ich etwas von Ihnen höre. Oder schreiben Sie an die Klinik, die werden bestimmt Ihren Brief an mich weiterleiten. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen gelernt zu haben. Weiterhin Alles Gute und Auf Wiedersehen."

    Bei den letzten Worten fühlte sich Bernhard unwohl, weil er den alten Mann einfach so auf der Bank sitzen ließ. Aber er musste seine dienstlichen Aufgaben erfüllen. Deshalb ging er schnellen Schrittes in Richtung seiner Station.

    Bevor er im Klinikgebäude verschwand, drehte sich Bernhard noch einmal um. Der alte Mann saß weiterhin auf der Bank und schaute ihm nach.

    Dann hob er grüßend die Hand.

    Der Brief

    „Sehr geehrter Herr Bauer,

    ich habe lange gebraucht, um diesen Brief zu schreiben…"

    Bernhard ließ den Brief sinken. Er war ziemlich verwirrt. Da fand er auf dem Schreibtisch im Dienstzimmer einen an ihn gerichteten Brief. Dieser war ihm über die Poststelle der Klinik zugestellt worden.Kein Absender auf dem Umschlag, keine Unterschrift unter dem Brief, Poststempel von irgendeinem Briefzentrum!

    Sehr merkwürdig das Ganze, hatte Bernhard zunächst gedacht, sollte er den Brief nicht besser sofort wegwerfen. Anonyme Schreiben hatte er noch nie ernst genommen.

    Aber dann siegte seine Neugier und er las weiter:

    „Ich war mir nicht sicher und bin es auch jetzt noch nicht, ob es sinnvoll ist, wenn ich für Sie meine Lebensgeschichte aufschreibe. Es ist besser, wenn wir nicht an „alten Zeiten rütteln und dabei den „Staub der Geschichte aufwirbeln. Ich gehöre zu der Gruppe Menschen, die alle ein ähnliches Schicksal erlitten haben und die von der Gesellschaft vergessen worden sind.

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