Medea auf rheinische Art: Eine Niederschrift
Von G.M. Tripp
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Über dieses E-Book
G.M. Tripp
G.M. Tripp, geb. 1937 in Köln, lebt in Berlin. Seemann, Buchhändler, Philosophie-Dozent (Dr. phil. habil.) Autor von: "Medea auf rheinische Art", Berlin 2014
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Buchvorschau
Medea auf rheinische Art - G.M. Tripp
I
Kaum rollte der Zug den Bahnhof hinaus, überquerte er auch schon mit Vorsicht den Rhein. Im überfüllten Abteil horchte jeder gespannt, der Junge besonders. Die Hohenzollernbrücke war noch intakt. Selbst Schiffe hatten sich darunter wieder ausmachen lassen. Keine zehn Pferde hätten ihn von hier wegbringen können, ginge es einmal nach ihm. Ständig hatte sie mit ihm deswegen auf Kriegsfuß gestanden! Nur Kölnisch Wasser hatte ihr weitergeholfen. Auch jetzt hatte sie es wieder zur Hand, den Säugling, die jüngere Schwester, im Arm. Den Dom auf dem Etikett hatte er vom Küchenfenster täglich in der Ferne vor Augen gehabt. Das leere Fläschchen hatte leider nicht in seine Sammlung gepasst. Durch das winzige Loch ging nur wenig hinein.
Jetzt ging es hinaus. Die Westfront war längst näher gerückt und das Grollen der Geschütze immer stärker geworden. Wie ein gereiztes Tier in den Lüften, so hörte es sich seiner Ansicht nach an. Nur bei Dunkelheit und bedecktem Himmel wurde überhaupt noch gefahren. Ansonsten war jede Bewegung im Freien einer tödlichen Gefahr aus der Luft ausgesetzt.
Bei schlechtem Wetter waren alle wieder auf den Beinen gewesen und die Bahnsteige schnell überfüllt. Von Fahrplänen hatte keine Rede sein können. Erst nach Stunden ging es allmählich vom Fleck. Warten war überhaupt das Schlimmste gewesen. Nur den Soldaten schien das zu gefallen. Kompanieweise hatten sie singend und lachend auf der Bahnsteigkante gesessen oder waren übermütig auf die Gleise getreten. Meist waren es ganz junge gewesen. Niemand hatte dagegen einschreiten können. Wer hätte nicht auf der Stelle mit ihnen getauscht!
D-Züge waren sonst stets auf höchste Geschwindigkeit aus. Sein Herz hatte jedes Mal höher geschlagen, wenn sie zischend und fauchend herangebraust kamen. Fiel das Vorsignal aus, wurden sie selten rechtzeitig zum Halten gebracht. Auch von den schweren, eisernen Hemmschuhen nicht, die er selbst mit aller Kraft niemals hochheben konnte. Überall lagen sie zwischen den Gleisen herum. Zum Bremsen wurden sie von den Rangierern auf die Schienen gelegt und in brenzligen Fällen zusätzlich mit der roten Fahne gewinkt. Meist war es zu spät.
Häufig war etwas passiert, leider nicht immer zu sehen. Der Aufprall, das Krachen, Schreien und Splittern war überall zu hören gewesen. Die Erde hatte gebebt und die Wände gezittert. In den Schränken hatte das Geschirr mächtig geklirrt. Türen flogen auf, vieles ging auf der Stelle zu Bruch. Wie beim Einschlag der Bomben oder dem Schießen der Flak. Hatte er ein Behagen verspürt, die Welt aus den Fugen zu sehen?
Das Leben der Eisenbahn, mit seinen sieben Jahren war es ihm bestens vertraut. Vom Fenster aus konnte er das Geschehen in Ruhe verfolgen. Unzählige Waggons hatte er schon vorbeifahren sehen oder kippen und stürzen, wenn sie den Rangierberg hinabgesaust kamen. Stunden hatte er so wie im Fluge verbracht. Unbekannte Namen waren ihm geläufig geworden. Krakau, Tilsit, Ölmütz und Lemberg zum Beispiel. Auf dem Trittbrett hätte er tagelang dahinsausen können. Nach allen Seiten jauchzend und winkend.
Der Güterbahnhof Köln-Kalk lag dem Wohnzimmerfenster direkt gegenüber. Wer ahnte schon, dass jeder Eilzug eigentlich ein Bummelzug war. Es gab Dinge, die täuschten. Das behielt es für sich. Erwachsene hatten längst nicht immer alles gewusst. Am besten, er ließ sie im Dunkeln. Leicht waren sie aus allen Wolken gefallen, und er musste ihnen alles haarklein erklären. Das hielt ihn im Grunde nur auf. Kaum einen Schritt von den Gleisen entfernt lag das Haus. Es hatte einen weiten Blick über das Gelände erlaubt. Nirgends hatte es Nachbarn gegeben. Das Material-Magazin gleich nebenan. Starke Männer, die den Geruch von Tabak, Teer, Öl und Karbid an sich hatten, verluden hier schweres Gerät direkt in die Güterwagen hinein. Der Takt ihrer Hebekommandos und das rhythmische Schnaufen hatten er unbedingt nachahmen wollen. Ruckartig ging es dann los. Seine Dienste wurden bislang nicht gebraucht. Nach kurzem Bedenken hatten sie jedes Mal abwinken müssen und dabei merkwürdig die Augen verdreht.
Hier kam er zur Welt. Es hieß, sich Beine zu machen. Das Kindergeld wäre sonst verloren gewesen. So kurz vorm Monatsende hatte die Hebamme ein Auge darauf. Er schlug die seinen gleich auf. Aufgingen sie ihm beizeiten. Warum war er überhaupt da? Hatte er sich darüber einmal Gedanken gemacht? Statt Rede und Antwort zu stehen, war er verlegen von einem Fuß auf den anderen getreten. Sonst wurde von ihm doch das Blaue vom Himmel erzählt. Ein Grund, sich auf die Zunge zu beißen? Als Provisorium gerade noch geduldet zu werden, hatte nicht das Ziel aller Wünsche sein können!
Bei Tisch hieß es, gleichzeitig stillzusitzen und sich zu beeilen, jedenfalls nicht, das Geheimnis der Speisen ergründen zu wollen. Statt das Rätsel zu lösen, gab er selbst welche auf. Die Bereitschaft, Nahrung zu sich zu nehmen, wurde selten zum gebotenen Zeitpunkt verspürt. Die Änderung einer so tief greifenden Störung, trotz einschneidender Maßnahmen blieb sie aus. Am Anblick eines leeren Tellers war noch niemand gestorben. Sicher indes war es nicht.
»Grenzstraße ohne Nummer«, so hatte die Anschrift gelautet. Das wollte ihm immer gefallen. Jetzt wurden sie über Nacht evakuiert. Der Dom war von seinem Sitz im Gepäcknetz kaum mehr zu sehen gewesen. Eigentlich hatte sie ihn zurücklassen sollen. Unbekümmert zwischen den Linien herumzuspazieren, hätte ihm sicher gefallen. Vom amtlichen Räumungsbefehl wurde dem ein Strich durch die Rechnung gemacht. Günstige Ausnahmen hatte es selten gegeben. Nur aus Gnade von ihr ein letztes Mal noch mitgenommen zu werden, die Ausrede hatte er auf der Stelle durchschaut.
Ob er bei der Rückkehr noch etwas vorfinden würde? Bei Großangriffen war kein Stein auf dem andern geblieben. Lichterloh hatte es an allen Ecken und Enden gebrannt. Gerne hätte er das Spektakel aus nächster Nähe betrachtet. Stattdessen hieß es, sich nicht von der Stelle zu rühren. Wie hätte er mit dem Schlauch herumspritzen können! Mitunter waren Wände unter Wasserdruck zusammengefallen. Das hatte er sich auf immer gemerkt.
Die Schläge aus der Luft rissen mittlerweile nicht ab. Früher kamen die Maschinen in gewaltigen Geschwadern nur dröhnend des Nachts. Jetzt stürzten sie selbst am helllichten Tag einzeln heran und zielten auf alles, was sich bewegte. Hörte man sie, war es meistens zu spät. Am besten, er warf sich rechtzeitig hin und blieb eine Weile so liegen. Sich tot zu stellen war weniger gefährlich, als ihr mit verdreckter Kleidung unter die Augen zu treten.
Es war ihm eingeschärft worden, bei Alarm auf keinen Fall mit den anderen Kindern in den Keller der Schule zu gehen, sondern sich auf eigene Faust nach Haus durchzuschlagen. Das war das streng verboten gewesen. Was hätte er ihretwegen nicht alles in Kauf nehmen wollen! Beim Verlassen des Klassenzimmers wurden jedes Mal Reihen gebildet, die mehrfach abgezählt wurden. Für den Gang in den Luftschutzkeller galt ferner die Mahnung, einander fest an den Händen zu halten. Stattdessen oben noch schnell die Tafel abwischen zu wollen, die Ausrede konnte ihm niemand durchgehen lassen. Ständig musste er sich etwas Neues einfallen lassen. Bei Voralarm hatten Passanten noch eine halbe Stunde zur Verfügung gehabt, einen Unterstand aufzusuchen. Ein hastender Knabe mit Schultornister hatte nicht weiter auffallen können. Er lief die Häuser entlang, an der Kaserne vorbei dem Bahndamm entgegen. Seine Hand streifte die Fassaden entlang. Das hielt jetzt nur auf. Sich noch schnell in das verlassene Schilderhäuschen zu stellen, der Versuchung ließ sich indes kaum widerstehen.
Das Aufheulen der Sirene war ihm jedes Mal in die Glieder gefahren. Bei Hauptalarm waren noch zehn Minuten bis zum Angriff geblieben. Über eine Uhr verfügte er nicht. Hatte es die letzte Stunde geschlagen, war Pünktlichkeit nicht unbedingt von Vorteil gewesen. Zum Schluss musste er noch an einem Lager vorbei.
Lange hatte das Areal brach gelegen. Eines Tages war es planiert und eingezäunt worden. Angespitzte Pfosten wurden in den Boden gerammt. Wie große Bleistifte sahen sie aus. Auch Stacheldraht lag in großen Rollen herum. Mit Ösen wurde er an den Pfählen befestigt. Einige hatte er einstecken können. Dabei ertappt zu werden, war das Ende vom Lied.
Nach dem Errichten der Baracken waren über Nacht die Ukrainer gekommen. Vor dem Lagertor hatten deutsche Posten mit geschultertem Karabiner gestanden. In grauen Wattejacken schleppten sich die Insassen vor seiner Haustür wie Gefangene in langen Kolonnen vorbei. Unter Schreien, Stößen und Schlägen trieben die Bewacher sie ständig voran. Eigentlich hatte er nicht hinschauen dürfen. Bei Alarm war ihnen das Betreten der Bunker verwehrt. Kein Grund, dumme Fragen zu stellen. Wann war es damit bei ihm soweit!
Verlassen lagen tagsüber die Behelfsbauten da. Das Dröhnen der Bombergeschwader war inzwischen näher und näher gekommen. Die Flak schoss bereits. Er musste nur noch den Trampelpfad zum Bahndamm hinauf. Dort stand weit und breit das einzige Haus. Über einen Schlüssel verfügte er nicht. Ging der verloren, hatte allerlei Gesindel Tür und Tor offen gestanden. Was war seinetwegen nicht schon abhandengekommen! Wo hatte er überhaupt seine Gedanken gehabt? Nicht wo sie hingehörten. Ja, wo gehörten sie eigentlich hin?
Auf sein Klingeln war keine Antwort, die Einschläge umso näher gekommen. Die Erde bebte bereits. Half es, sich mit dem Rücken gegen die Türe zu stemmen? Unversehens fühlte er sich im Nacken gepackt. Wo kam er überhaupt her! Wurde wieder Firlefanz getrieben und herumgebummelt? Sein Hinweis auf ihre Weisung, sich bei Angriffen allein nach Haus durchzuschlagen, wurde ungerührt überhört. Nur aus Nachsicht wurde ihm noch einmal Einlass gewährt. Hatte er bei ihr wieder jene Enttäuschung bemerkt? Bald war es blankes Entsetzen gewesen.
Er hatte sich nicht unbemerkt nachhaus stehlen können! Als er nach der Entwarnung erschien, hatte sie ihn heftig ins Gebet nehmen müssen. War auf ihn je Verlass? Wenn es ihn im Schulkeller traf, dann zu Recht. Wusste er auf sie keine Rücksicht zu nehmen! Sie hatte ihn für immer abschreiben müssen. Sich an ihn erneut zu gewöhnen, wie stellte er sich das eigentlich vor! Er konnte noch so hoch und heilig versprechen, dass dergleichen nie wieder vorkommen würde. Kein Grund für sie, sich erweichen zu lassen. Wer sehnte da nicht den nächsten Angriff herbei!
Der Zug hatte inzwischen den Stadtrand passiert. Er musste an seine Sammlung der Bomben- und Granatsplitter denken. Schweren Herzens hatte er sie zurücklassen müssen. Eigentlich hätte er sie beim Einsammeln kriegswichtigen Buntmetalls an der Haustür abgeben sollen. Stattdessen war er in der Schule in einen dunklen Handel verwickelt gewesen. Drohte ihm bald kurzer Prozess?
Auf Zigarrenkistchen verteilt, lagen die Schätze inzwischen auf dem Abstellboden verstaut. Dort kam keiner heran. Außer den Bomben. Dass sie nicht ins Gepäck hineinpassten, hatte er schweren Herzens einsehen müssen. Wurden von ihm vielleicht die Koffer getragen? Er selbst musste ja ständig mitgeschleppt werden. Damit war ein für alle Mal Schluss! Ob er am Ziel seine Sammeltätigkeit wieder aufnehmen konnte? Die Ungewissheit hatte zu schaffen gemacht.
Bis zum letzten Augenblick wurde von ihr bei der Evakuierung gezögert. Dabei hätte der erstbeste Treffer sie hinwegfegen können. Das hatte der Klesper gesagt. Der hatte ein schweres Motorrad gefahren. Damit kam er überall hin. Und überall durch. Für den Klesper hatte es von ihr echten Kaffee gegeben. Seit der Abkommandierung des Vaters nach Russland war sie mit ihm und der älteren Schwester allein. Von der jüngeren war noch nicht die Rede gewesen. Der Klesper hatte hin und wieder nach dem Rechten gesehen. An dem Jungen hatte er einen Narren gefressen. Selbst Schilderungen seiner schweren Vergehen hatten am Klesper nur abprallen können. Er schmunzelte dann und hatte ihm ein Auge gekniffen. Mit dem Klesper hätte er durch dick und dünn gehen können. Leider musste er jedes Mal vorzeitig fort!
An der Maschine hatte er all die Griffe, Hebel, Leitungen, Knöpfe und Schalter nie genug bewundern und anfassen können. Der Klesper lachte dabei. Beim Drehen der Zigarette war seine Zunge langsam über Oberlippe und Schnurrbart gefahren. Nach sorgfältigem Rollen wurde das Papier angefeuchtet und Tabakreste in die Gegend gespuckt. In die Augen war ein Glimmen getreten, wurde gegen den Wind das Streichholz in das Innere der Jacke gehalten. Über das Gesicht war ein Lächeln gehuscht. Er hatte sich alles gemerkt, falls der Klesper ihm hinter ihrem Rücken eines Tags eine »Aktive« zustecken würde. Wie der Klesper zu sein, war sein grenzenloses Bestreben gewesen. Hätte er doch wie er die Stirn runzeln können! Falten hatten sich bei ihm nie lange gehalten. Fehlte ihm dazu der Ernst, Luftikus, der er war? Sich darüber Gedanken zu machen, war ihrer Ansicht nach längst an der Zeit.
Wenn der Motor abgeschaltet war, blieb er eine Zeitlang noch heiß. Das hatte er alleine herausfinden können. Er wartete dann, bis er den breiten, schwarzen Gummisattel bestieg, damit er sich wie ein richtiger Mann fühlen konnte. Um in die schwere Lederjoppe mit den breiten Revers und den doppelten Knopfreihen zu passen, verging noch viel Zeit. Wie er die überstand, hatte in den Sternen gestanden.
Ginge es nach ihr, lief er ständig in Mädchenkleidern herum. Den Kampf gegen die abgelegten Sachen der älteren Schwester, nicht zuletzt die langen, braunen Strümpfe mit den Strapsen am knöpfbaren Leibchen, hatte er mutterseelenalleine geführt. Es war ein Kampf auf Biegen und Brechen gewesen. Ständig wurde ihm in den Rücken gefallen. Auf ihren Befehl hatte er der älteren Schwester bedingungslosen Gehorsam zu leisten. Setzte er sich darüber hinweg, war handfeste Zurechtweisung fällig gewesen. Anschwärzen, das sowieso. Wo er ging oder stand, hatte er sich das Verhasste vom Leibe gerissen. Auf das Schlimmste gefasst zu sein, hatte ihm niemand einschärfen müssen!
Der Krieg kam ihm in mancher Hinsicht entgegen. Ohne den Krieg wäre er geradezu verloren gewesen. Dem Krieg hatte er manch unbeschwerte Minute verdankt. Kam es draußen ganz dick, hatte er drinnen aufatmen können. Tauchte sie unverhofft auf, war äußerste Vorsicht geboten gewesen. Warum bemerkte sie ihn immer zuerst? Selbst auf offener Straße war ernie gegen böses Erwachen gefeit. Was sollten die Soldaten in Russland von ihm denken? Ja, was dachten sie eigentlich von einem wie ihm! Ihrer Ansicht nach hatten sie sich seinetwegen längst in Grund und Boden geschämt.
Als wäre er für sie nicht mit Feuereifer dabei! Die Verarbeitung von Wollresten wurde in der Schule gelehrt. Kämpfen und Frieren vertrugen sich schlecht. Das hatte ihm niemand einbläuen müssen. Allein der Feind hatte sich bei Frost pudelwohl fühlen können. Ein Rätsel, das blieb. Die eigenen Truppen hatten warme Sachen gebraucht. Topflappengroß hatte jeder Beitrag zu sein. Eingesammelt, zu Decken vernäht und gefärbt, hatte ein Infanterist sich darin einmummeln können. Als Armeelieferant hatte er sich jede Mühe gegeben. Stalingrad war da schon verloren gewesen. Er häkelte unentwegt weiter.
Hätte er den Widerstand gegen ihr Kleiderregime aufgeben wollen, wäre er vollends zum Gespött der Kalker Jungen geworden. Sie trugen Hosen aus schwarzem Manchestercord sowie kragenlose, blauweiß gestreifte Hemden und breite Ledergürtel, wie bei der Bahn die Rottenarbeiter. Jedenfalls nicht gestrickte grüne Pumphosen mit Gummizug oben und unten. Vor Scham und Wut konnte er in den Boden versinken.
Nicht zu reden, wenn er an ihre genagelten Schnürstiefel dachte. Der Klang auf dem Pflaster hatte ihn verrückt machen können. Um die Lederschlaufe oben am Schaft, damit der Fuß mühelos hineinglitt, hätte er alles gegeben. In den braunen Halbschuhen mit Troddelbändern, die keinen Kratzer vertrugen, kam er sich geradezu lächerlich vor, auch wenn er darin besser weglaufen konnte. Wurde ein Hinterhalt nicht beizeiten gewittert, hatten sie ihn seiner Aufmachung wegen verprügelt. Als »Erika« verhöhnt zu werden, war schlimmer als all die Tritte und Schläge gewesen. Über das seltsame Wesen hatten sich reineweg kaputtlachen können.
Die Haarspange, damit er ordentlich aussah und die Strähne ihm nicht so frech ins Gesicht fiel, hatte er sie wieder verlegt oder heimlich zertrampelt? Ohne die kam er nicht aus dem Haus. Sonniges Wetter? Es wurde drinnen geblieben. Eigener Wille? Sie hatte nur auflachen können. Er war nach Belieben zum Stillstand zu bringen. Drang nach Bewegung? Die Flausen hatte er sich aus dem Kopf schlagen können. Ihre Hand zuckte, wo erging oder stand, erfolgreich heraus.
In der Küche hieß es, kerzengrade neben dem eisernen Ausguss zu stehen, das Gesicht zur Wand. Risse im Ölanstrich ließen sich so genauer betrachten. Sie hatten den Flüssen und Grenzen auf der Karte geähnelt, die über dem Volksempfänger aufgehängt war. Dort waren die Einflugschneisen der Bomber eingezeichnet gewesen. Mit den Himmelsrichtungen war er inzwischen vertraut. Für welche er sich am Ende entschied, blieb vorerst noch offen. Er war ja täglich »durch alle Ecken geflogen«, so dass ihm die Qual der Wahl im Grunde erspart blieb.
Worin hatte sich nicht hineinträumen lassen! Neben dem Tropfen des Wasserhahns war zwischendurch die Mahnung zu hören, pikobello geradezustehen. Sonst sah sie schwarz, vorher schon rot. Er befand sich ja längst auf der abschüssigen Bahn. Ihm selbst hatte ein Bruder gefehlt. Auf offener Straße gegen Überzahl immer allein, wäre es ein anderes Leben gewesen. Es sah nicht danach aus. Er selbst war ja bereits deutlich zuviel.
