KOMMISSAR LAVALLE UND DIE VERSCHWUNDENEN KINDER: Historischer Roman aus der Zeit der Französischen Revolution – nach wahren Fällen
Von Karla Weigand
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Über dieses E-Book
Beruflich sieht es anders aus. Etliche Fälle von verschwundenen Kindern – einige werden nur noch als Leichen gefunden – geben Lavalle Rätsel auf. Es handelt sich um Sprösslinge aus bitterarmen Familien, die ihren Nachwuchs vermögenden Leuten gegen Geld überlassen und sie gut aufgehoben wähnen. Als Vermittler dienen dabei ein Nonnenkloster und dessen dubioser Hausmeister.
Lavalle fehlen jedoch die Beweise, um gegen diese Praxis des »Menschenhandels« vorzugehen. Die Frage, wer die Kinder auf dem Gewissen hat, interessiert allerdings Lavalles Vorgesetzte kaum. Nach der Absetzung des Königs herrschen einigermaßen »normale« Verhältnisse und auch der Adel braucht den Volkszorn nicht mehr zu fürchten.
Neuerdings jedoch werden vermögende Herren der oberen Stände ermordet aufgefunden – und diese Taten zügig aufzuklären, hat natürlich Vorrang … So bleibt Kommissar Lavalle wenig Zeit, um sich um den Fall »Verschwundene Kinder« zu kümmern. Lange Zeit tappt er daher im Dunkeln.
Aber zuletzt erhält er Hilfe –von einer Seite, mit der er keineswegs gerechnet hat …
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KOMMISSAR LAVALLE UND DIE VERSCHWUNDENEN KINDER - Karla Weigand
Kommissar Lavalle
und die verschwundenen Kinder
Historischer Roman aus der Zeit der Französischen Revolution – nach wahren Fällen
Karla Weigand
KOMMISSAR LAVALLE
UND DIE VERSCHWUNDENEN KINDER
Historischer Roman aus der Zeit der Französischen Revolution – nach wahren Fällen
Zwischen den Stühlen 17
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: November 2025
Zwischen den Stühlen @ p.machinery
Kai Beisswenger & Michael Haitel
Die Urheberrechtsinhaber behalten sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.
Titelbild: Jean-Pierre Louis Laurent Houël (1735–1813), Blick in eine Zelle der Bastille zum Zeitpunkt der Entlassung der Gefangenen am 17. Juli 1789
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat: Kai Beisswenger
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Zwischen den Stühlen
im Verlag der p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.zds.li
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 484 7
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 674 2
Prolog
2. Januar 1792
»Dem HERRN sei’s gedankt! Endlich wieder einmal ein Neuzugang! Ich befürchtete schon, diese wunderbare Quelle unserer Einnahmen könnte versiegen, Ehrwürdige Mutter! Wenn Ihr Euch erinnert, hatte ich vorausgesagt, dass es mal eine Flaute geben könnte, dass aber der Brunnen nie gänzlich versiegen würde! In der letzten Zeit hatte ich jedoch gewisse Bedenken!«
Schwester Philomena, eine kleine dicke Nonne in mittleren Jahren, ihres Zeichens Finanzverwalterin des Klosters »Zur Guten Hirtin«, am Ende der »Rue de Bretagne«, wieselte um ihre Vorgesetzte, Mater Maria Immaculata, herum, wobei sie heftig mit ihren Patschhändchen gestikulierte, um das Gesagte zu unterstreichen.
»Und Ihr hattet Recht, Schwester! So Gott will, werden wir unser dem HERRN wohlgefälliges Werk weiterführen können – dank Eurer brillanten Idee!«
Die Äbtissin dieses altehrwürdigen Klosters, das im 14. Jahrhundert im damals noch sumpfigen, nahezu unbewohnten Marais-Viertel erbaut worden war, war sichtlich erleichtert. Innerlich frohlockend beglückwünschte sie sich zu ihrem Entschluss: Sie hatte der derb-plumpen Klosterfrau, die allerdings gut rechnen konnte, eine schöne Schrift hatte und über großen Arbeitseifer verfügte, ansonsten aber nicht durch übergroße Intelligenz, dafür eher durch raffinierte Skrupellosigkeit auffiel, die Verwaltung des Klosters mit allem, was dazugehörte, übertragen.
Schrieb man seit den politischen Unruhen in Paris rote Zahlen, hatte sich dies nach Philomenas Dienstantritt nun grundlegend geändert; das Kloster »Zur Guten Hirtin« stand geradezu prächtig da!
Wodurch die Sanierung der reichlich desolaten finanziellen Schieflage so überzeugend gelungen war, darüber wollte die Ehrwürdige Mutter gar nicht allzu genau Bescheid wissen.
Es hatte etwas mit Kindern zu tun – war demnach unter dem schönen christlichen Begriff »gutes Werk« zu verbuchen – und die Verwalterin der Ein- und Ausgaben des Klosters genoss das vollste Vertrauen ihrer Äbtissin.
Die war keineswegs naiv und traute ihrer Mitschwester durchaus zu, »krumme Dinger zu drehen«. Aber wenn sie nichts davon wusste, konnte man sie im Fall, dass unappetitliche Details offenkundig würden, keiner Mitschuld verdächtigen.
So könnte sie guten Gewissens in aller Unschuld bei allen Heiligen schwören, von Unkorrektheiten nichts gewusst zu haben, und kriminelle Machenschaften aufs Schärfste verurteilen. Alles bliebe demnach an Schwester Philomena hängen …
7. Januar 1792
Das vergangene Jahr hatte sich mit eisigem Wind und beißender Kälte verabschiedet. Und das neue hatte nicht besser angefangen – im Gegenteil: Am Tag der Heiligen Drei Könige waren Unmengen Schnee auf die Stadt Paris herniedergefallen.
Die weiße Pracht bedeckte alles Schmutzige, Verrottete und Halbverfallene mit einem blütenweißen Überzug. Als sich gar noch die Wintersonne blicken ließ, schmerzte der gleißende Panzer beinahe in den Augen und erlaubte einen geradezu märchenhaften Blick auf Gebäude, Straßen und Plätze.
Die Bürger von Paris genossen das seltene Schauspiel, indem sie aus den Fenstern lugten; ins Freie wagte sich nur, wer unbedingt musste. Für erholsame Spaziergänge war es einfach zu kalt; jeder Atemzug erzeugte weiße Dampfwolken und die Kälte biss in Nasen und Wangen.
Nicht einmal Diebe, Einbrecher, Räuber und revolutionäres Gesindel aller Art wagten sich auf die Straße, sondern warteten in diversen warmen Schlupfwinkeln auf Tauwetter, um ihrer jeweiligen »Profession« erneut nachgehen zu können.
Für die Police de Commune de Paris bedeutete das ebenfalls eine Atempause und der oberste Chef der Behörde, Commandant Général Guy Laroche, hatte über die Hälfte seiner Männer in den Urlaub geschickt. Auch Kommissar Armand Lavalle gehörte zu den Glücklichen, sodass er sich die nächste Zeit seiner kleinen Familie voll und ganz widmen konnte.
Etwas, das er sehr genoss – hatte er doch lange Zeit auf Frau und Kind verzichten müssen. Denn seine Ginette war gegen seinen Willen mit dem Baby Lucille-Marie zu ihrer Tante Claire-Sophie auf deren Weingut in der Champagne geflohen. Verbrecher hatten am helllichten Tag versucht, ihr Töchterchen zu entführen.
Die Kleine, die sich an Lavalle natürlich nicht mehr erinnern konnte, würde in einem guten Vierteljahr bereits ihren zweiten Geburtstag feiern und sollte nun endlich ihren Vater richtig kennenlernen.
Die Eheleute Armand und Ginette mussten auch wieder zueinanderfinden. Die Trennung hatte ziemlich lange gedauert; für beide hatte es Versuchungen gegeben – denen sie auch prompt erlegen waren. Nun galt es, den Faden der Liebe an der Stelle wieder festzuknüpfen, an welcher er durchtrennt worden war.
Wie der Kommissar beglückt feststellte, schien es ihnen auch zu gelingen, denn beide waren guten Willens, ihrer einstigen großen Liebe eine zweite Chance zu gegeben. Armand blühte geradezu auf in seinem Bemühen, seine schöne Frau erneut zu umwerben und zu erobern.
Zum Glück hatten beide darauf verzichtet, ihren Neuanfang durch »Geständnisse« zu belasten, die zu nichts führten – außer zu Schmerz, Verletzung, Eifersucht und dauerhaftem Misstrauen.
Der Kommissar hatte von sich aus nicht den Drang verspürt, über seine Liaison mit Claudine, einem hübschen jungen Schankmädchen, zu plaudern. Ginette hingegen hörte auf den vernünftigen Rat ihrer Großmutter, die sie ernsthaft davor gewarnt hatte, der Versuchung, »reinen Tisch zu machen«, nachzugeben. Das möge sich zwar gut und edel anhören, sei aber völliger Blödsinn, weil nachträgliches Eingestehen ehelicher Verfehlungen noch nie Gutes bewirkt hätte – im Gegenteil!
»Deckel drauf und ein für alle Male Schwamm drüber!«, hatte die lebenskluge alte Frau gesagt.
In Lavalles Wohnung in der Rue Dauphine war es während und nach den Weihnachtstagen recht lebhaft zugegangen. Zu den momentanen Bewohnern gehörte im Augenblick auch Ginettes Großmutter, Grandmère Céléstine Madrier, die bei der lausigen Kälte ihren Blumenstand auf dem Marché aux Fleurs, wie die meisten anderen Händler auch, geschlossen hielt und bei den winterlichen Temperaturen in der eigenen Unterkunft die Heizung sparen wollte …
Und über Weihnachten und Neujahr war noch Ginettes jüngerer Bruder Luc, siebzehn Jahre und Lehrling bei Maître Philippe Danube, einem renommierten Rechtsanwalt und Notar, dazu gestoßen. Sein Chef hatte nach Weihnachten für einige Wochen die Kanzlei geschlossen, weil er die ungemütlichen Pariser Wintertage hinter sich lassen und mit seiner Frau lieber die um vieles angenehmere Wärme des französischen Südens genießen wollte und nach Cannes gefahren war.
Wenn dann noch Nachbarn vorbeischauten, um Glückwünsche fürs neue Jahr auszusprechen und Lucs junge Freunde ihn besuchten, dann ging’s richtig rund bei der Familie.
»Was für ein Leben in der Bude!«, freute sich Armand Lavalle.
»Ohne dich, mein Schatz, so ganz allein, war’s meistens furchtbar öde! Da bin ich lieber im Kommissariat geblieben, habe noch spät nachts über den Akten gesessen, oder bin freiwillig wie ein einfacher Gendarm in den Straßen Streife gelaufen. Daheim hat mich ja niemand vermisst!«
»Dann hast du dir jetzt die paar freien Tage aber wahrlich verdient, mein Lieber!« Grandmaman Céléstine sah das Ganze sehr pragmatisch und Lavalle stimmte der alten Frau zu.
In den Nächten holten er und Ginette das allzu lang Versäumte voll Temperament und mit zärtlicher Hingabe nach und der Kommissar rechnete jeden Tag damit, dass seine Liebste ihn mit der frohen Botschaft überraschen würde, erneut schwanger zu sein.
Beide fanden, es wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für weiteren Nachwuchs. Lucille-Marie sollte nicht als verzärteltes Einzelkind aufwachsen und der zeitliche Abstand zu einem Geschwisterchen nicht zu groß werden.
Aber das Beste und Wichtigste war: Lavalles Gehalt erlaubte eine Vergrößerung seiner Familie. Nach der Aufklärung der schrecklichen »Mädchenmorde« hatte ihm sein oberster Chef eine weitere ordentliche Gehaltsaufbesserung zugebilligt.
Alles stand zum Besten; jeder in der Familie war gesund. Auch die mit fast sechzig schon ziemlich betagte Großmutter erfreute sich eines tadellosen Allgemeinzustandes, Luc hatte endlich »die Kurve gekriegt«, indem er eine vernünftige Ausbildung machte, von seinem Lehrherrn gelobt wurde und sich mit anständigen jungen Kerlen herumtrieb und nicht mit irgendwelchen Strolchen, deren es in Paris leider zu viele gab.
Lavalle selbst fühlte sich, als wäre er in einen »Jungbrunnen« gefallen, seine schöne Ginette strahlte wie ein junges Mädchen und Lucille-Marie war ein wahrer Sonnenschein, ein Schätzchen, das auf strammen Beinchen durch die Gegend stapfte, mit wachen Augen alles in sich aufnahm, schon recht gut sprechen konnte, genau wusste, was es wollte, seinen Papa um den Finger wickelte und in Kürze jedermann, und sei er auch der größte Griesgram, für sich einzunehmen verstand.
»Den Charme hat die Kleine von meiner Enkelin Régine geerbt«, ließ Grandmaman alle wissen, die das niedliche Kind bewunderten.
Bei der ärgsten Kälte blieben die Frauen zu Hause im Warmen und Armand und Luc erledigten, dick eingemummelt, die nötigen Einkäufe.
Dem Kommissar war klar, dass die Idylle nicht mehr sehr lange von Dauer sein würde. In einigen Tagen war erneut Dienstbeginn und dann würde wieder »ein anderer Wind wehen …«
Teil 1
12. Januar 1792
Vor zwei Tagen hatte Tauwetter eingesetzt und das viele Eis und die Schneemengen lösten sich in Wasser auf, das nun durch die Straßen schwappte, weil der Rinnstein gar nicht alles aufnehmen konnte und allerhand Dreck und Unrat mit sich riss, der nach dem Abfließen am Rand der Geh- und Fahrwege in eklig schmutzigen Haufen liegen blieb.
Der Abtransport würde Tage dauern. Weil sich unter all dem Müll neben verfaulten Gemüseresten auch tote Tiere befanden – Mäuse, Hühner und Katzen – würde es in Kürze bestialisch stinken und jeder wäre darauf bedacht, die Fenster geschlossen zu halten.
»Ausgerechnet jetzt, wo wir alle uns danach sehnen, wieder frische Luft zu atmen und ein paar Sonnenstrahlen zu genießen, müssen wir uns wieder in den Häusern verschanzen, weil man es vor lauter widerlichem Gestank im Freien kaum aushält!«
Hubert Aubriac, Armand Lavalles Freund und Sekretär seiner beiden Chefs – Commandant Général Guy Laroche, wie auch ihres direkten Vorgesetzten, Capitaine Émile Béguin – schaute missmutig aus dem natürlich geschlossenen Fenster in Lavalles kleinem Büro auf die Gasse.
»Reg dich nicht auf, mein Lieber! Sei froh, dass du nicht raus musst in das Schmuddelwetter und du dir die Schuhe nicht nass machen brauchst!«, tröstete ihn sein Freund Armand. »Mir ist grade mitgeteilt worden, dass über die Weihnachtsfeiertage mehrere Anzeigen über verschwundene Kinder bei der Polizei eingegangen sind.
Eins dieser armen Geschöpfe ist jetzt leider tot aufgefunden worden. Es lag bestimmt schon Wochen begraben unter einem der riesigen Schneehaufen und ist jetzt erst durch das Tauwetter wieder zum Vorschein gekommen. Ich werde mit Jacques oder, falls der noch in Urlaub sein sollte, mit Jean-Baptiste in die Salpêtrière gehen und mir das arme Würmchen anschauen müssen!«
Jean-Baptiste Morlais und Jacques Fanfan waren seine besten Mitarbeiter, die er am häufigsten mitnahm, falls er außer Haus zu tun hatte.
»Oh, mein Gott! Schon wieder so ein Fall, der einem ans Herz geht, Armand! Bestimmt handelt es sich um das Kind armer Leute!«
Hubert schüttelte betrübt den Kopf und ging zurück in sein kleines Arbeitszimmer, das sich zwischen dem edel ausgestatteten Büro des Commandant Général und dem des einfacheren, aber immer noch recht noblen Arbeitszimmers des Polizeichefs, befand.
Das Gebäude am Quai des Orfèvres, dem ehemaligen Kai der Goldschmiede, mochte zwar alt und verwinkelt sein, aber das einstige königliche Palais war zumindest sehr solide gebaut, trotzte Sturm und Regen und war – in aller Regel – einigermaßen gut heizbar. Letzteres konnte man weiß Gott nicht von allen städtischen Ämtern behaupten. In einigen zog es im Winter sehr stark; in manchen musste man Kübel aufstellen, um das Regen- oder Schmelzwasser aufzufangen, das durch das schadhafte Dach tröpfelte …
Armand Lavalle und Jacques machten es recht kurz in der Salpêtrière, einer früheren Salpeterfabrik und jetzt größtes Krankenhaus der Stadt. Der zuständige Mediziner, der die armselige Kindsleiche untersucht hatte, konnte ihnen leider zur Todesursache nichts mehr Konkretes sagen. Der kleine, extrem magere Körper des Jungen war bereits stark verwest. Immerhin konnte man zumindest vermuten, der Tod wäre durch Unterernährung eingetreten.
»Das einzige Auffallende ist«, meinte der Doktor, »dass der Kleine, den ich, mit aller Vorsicht auf fünf oder sechs Jahre schätze, von Geburt an unter einem verkürzten rechten Bein gelitten hat!«
»Er hat demnach beim Gehen stark gehumpelt«, stellte Lavalle fest. »Das könnte uns dabei helfen, ihn zu identifizieren. Soviel ich weiß, wurde das Kind nicht als vermisst gemeldet!«
Der noch sehr junge Arzt schüttelte angewidert den Kopf. »Unglaublich! Was sind denn das für Eltern?«
»Wahrscheinlich bitter Arme, die froh waren, einen Esser weniger am Tisch zu haben!«, gab ihm Jacques Fanfan trocken zur Antwort. Worauf ihm der Doktor einen empört ungläubigen Blick zuwarf. Er wandte sich an den Kommissar: »Sehen Sie das etwa genauso, Monsieur le Commissaire? Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
Lavalle hatte gleich erkannt, dass es sich bei dem jungen Mediziner um einen etwas naiven Sprössling wohlhabender Leute handeln musste, der bisher noch wenig Kontakt zu den ärmeren, geschweige zu den allerärmsten Schichten der Bevölkerung gehabt hatte. Sollte er länger in diesem Krankenhaus, das vorwiegend die Unterprivilegierten aufsuchten, tätig sein, würden ihm die Illusionen bald vergehen …
»Nun, Monsieur le Docteur, es ist nicht unüblich, dass sich Eltern mit wenig Geld und vielen Kindern dazu entscheiden, eines oder mehrere ihrer Sprösslinge in die Obhut von reichen Wohltätern oder Klöstern zu geben. Sie tun dies, weil sie möchten, dass ihre Kinder es besser haben und gut ernährt, gekleidet und überhaupt versorgt werden, als sie es ihnen aufgrund ihrer eigenen Mittellosigkeit ermöglichen könnten.
Ich vermute, dass die Eltern dieses armen toten Knaben gar keine Kenntnis vom Ableben ihres Kindes haben. Sie verlassen sich wahrscheinlich darauf, dass es ihm gut geht. Bei diesem armen Jungen ist offenbar irgendetwas gewaltig schief gegangen!«
Das schien den entsetzten Arzt ein wenig zu beruhigen, wenngleich er trotz allem nicht verstehen konnte, dass Eltern es fertigbrachten, ihr Kind an Fremde abzuschieben.
Draußen auf der Straße schüttelte Fanfan den Kopf. »Was für ein Naivling dieser Arzt doch ist!«
»Naja, er ist noch jung, vermutlich wohl behütet aufgewachsen und noch recht unerfahren. Das wird sich aber bald legen. Du darfst nicht vergessen, Jacques, wir in unserem Beruf haben Kontakt zu ganz anderen Schichten, auch zum Bodensatz der Bevölkerung; und von daher wurde uns schon gleich zu Beginn unserer Polizistentätigkeit jegliche Naivität ausgetrieben!«
»Ja, du hast recht, Armand!«, gab Jacques nach kurzem Nachdenken zu. »Wenn ich mir überlege, mit wie viel Elend, Not, Schlechtigkeit und Verbrechen ich in kurzer Zeit schon konfrontiert wurde, bin ich gelegentlich versucht, die ganze chose hinzuschmeißen! Es deprimiert mich manchmal zutiefst. Vor allem, weil es nie aufhört und ich mich oft frage, warum wir uns überhaupt darum kümmern!«
Ein Gefühl, das Armand Lavalle leider nur zu gut kannte.
15. Januar 1792
Bisher war man mit der Recherche nach der Identität der Kindesleiche noch keinen Schritt weitergekommen.
Der Junge blieb namenlos, keiner vermisste ihn …
Da niemand Anspruch auf die Leiche erhob, um sie ordentlich zu bestatten, erhielt der kleine Tote das übliche Armenbegräbnis auf dem »Cimetière Père Lachaise«. Dort gab es eine separate Ecke für Fälle, in denen keine Verwandten ausfindig gemacht werden konnten, um auch diese Verstorbenen ohne jeglichen Aufwand und ohne Blumenschmuck, nur im Beisein eines Armenpriesters und des Totengräbers, rasch unter die Erde zu bringen.
Ganz gegen seine Gewohnheit hatte Lavalle darauf bestanden, persönlich der kümmerlichen Zeremonie beizuwohnen; außerdem nahm er Jean-Baptiste Morlais mit. Sein Vorgesetzter, Emile Béguin, hatte zwar die Nase gerümpft, aber dann doch achselzuckend zugestimmt: »Wenn es Sie glücklich macht …«
Beide Kommissare empfanden die Trostlosigkeit der ziemlich schnell und lieblos abgespulten Angelegenheit als geradezu niederschmetternd. Morlais fragte auf dem Rückweg ins Kommissariat seinen Freund und Vorgesetzten, warum ihm dieses Mal so viel daran gelegen war, dem traurigen Spektakel beizuwohnen.
»Ganz ehrlich, mon Ami, ich weiß es selbst nicht! Aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, als ob gerade dieses vermutlich verhungerte Kind, dessen Existenz oder Nichtexistenz offenbar keinen Menschen schert, uns einen kleinen Schritt weiterbringen könnte. Wenngleich ich keinen Schimmer habe, wie das zugehen mag!«
»Ja, du und deine Gefühle!« Morlais musste unwillkürlich grinsen. »Na gut! Meistens liegst du dabei ja richtig. Lassen wir uns also überraschen!«
Keine Überraschung war hingegen, dass sich Jean Paul Marats Skandalblättchen »Ami du Peuple« (»Volksfreund«) geradezu mit Feuereifer auf die alarmierenden, aber noch spärlichen Nachrichten über derzeit abgängige Kinder stürzte.
Obwohl in keinem Fall ein Verbrechen vorlag – soweit bekannt jedenfalls – erregten die Fälle, in denen Kinder einfach von der Bildfläche verschwanden, allmählich auch bei der daran eher uninteressierten Pariser Bevölkerung Aufsehen.
Es hatte ein Weilchen gedauert, bis die Tiraden eines Marat in seinem »Ami du Peuple« oder Hébérts (Letzterer war der Herausgeber des üblen Hetzblattes »Père Duchesne«), den Nerv der Leute trafen, die eigentlich genügend eigene Sorgen zu bewältigen hatten.
Kindern und den Umständen, unter denen sie aufwuchsen, wurde im Allgemeinen nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt; vor allem die Sprösslinge aus der Unterschicht wurden kaum beachtet. Es gab ja genügend von ihnen …
Allein die Tatsache sprach Bände, dass bisher die Anzeigen über abgängige Kinder nicht von den Eltern, sondern von aufmerksamen Nachbarn bei der Polizei eingegangen waren …
Denen mochte gelegentlich aufgefallen sein, dass sie eines der Kinder längere Zeit nicht mehr gesehen hatten. Aber sie nahmen in aller Regel an, man habe sie zu Verwandten aufs Land geschickt, um sie von der heimischen Suppenschüssel fernzuhalten und verloren kein Wort darüber.
»Durch Marat und Hébért scheint sich da neuerdings etwas zu ändern«, meinte Lavalle. »Auf einmal vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine oder mehrere Anzeigen über verschwundene Kinder bei uns eintrudeln. Ich werde mich mal zu den Markthallen aufmachen, um mich dort umzuhören!«
Die Idee war nicht schlecht; tatsächlich hatte der jüngste Leichenfund eines unbekannten Knaben und die Tatsache, dass allmählich mehr Leute über plötzlich verschwundene Kinder redeten, einige aufgerüttelt, sodass sie genauer hinschauten oder nachfragten.
Zum Glück waren sie auch bereit, mit einem Polizeibeamten über gewisse einschlägige Vorkommnisse zu sprechen. Mord an einem Kind, »das bereits denken konnte«, wurde allgemein verabscheut; damit wollte man nichts zu tun haben! Anders verhielt es sich bei in der Seine entsorgten Säuglingen. Da überwog das Mitgefühl mit der offensichtlich überforderten und verzweifelten Mutter, die sich ein Kind nicht leisten konnte.
»Ich finde es gut und richtig, dass die Polizei sich dieser Sache annimmt!«, sagten viele der in Les Halles tätigen Händler und Händlerinnen. Bereitwillig packten sie aus und der Kommissar erfuhr eine Reihe Namen von Familien, bei denen unerwartete Abgänge von Sprösslingen aufgefallen waren. Aber mehr wussten die von Lavalle Angesprochenen auch nicht.
Von Mère Brassens, der ehemaligen Hure »mit dem goldenen Herzen«, die ihm schon oft mit Hinweisen bei der Aufklärung von Straftaten hatte helfen können, erfuhr er dieses Mal leider auch nichts Konkretes. Außer vagen Berichten über arme Familien, die eines oder zwei ihrer Kinder aus der Schar ihrer Nachkommen »zu Onkel und Tante aufs Land« geschickt hatten, damit sie wenigstens besseres Essen bekamen, hatte die alte Frau nichts Erhellendes beizutragen.
»Na ja, einen Versuch war’s wert«, murmelte Lavalle vor sich hin.
Interessanter waren da die Ausführungen zweier Hausfrauen an einem Käsestand gewesen, die von sich aus an den Kommissar herangetreten waren, »um dem Monsieur von der Polizei Wichtiges mitzuteilen«.
»Mir und meiner Freundin Laurette ist aufgefallen, dass bei einer unserer Nachbarinnen, die jedes Jahr Nachwuchs kriegt, obwohl sie und ihr nichtsnutziger Kerl von Ehemann kaum selber genug zum Beißen haben, ungefähr ein halbes Jahr nach der Geburt von dem zur Welt gekommenen bébé nichts mehr zu sehen und zu hören ist!« Die Frau redete ohne Punkt und Komma.
»Da haben wir mal energisch nachgefragt, wohin die kleinen Kinder denn gebracht worden wären, denn gestorben wäre ja keines. Das hätten wir in der Nachbarschaft ja wohl mitbekommen!
›Und erzähl’ uns nix von Verwandten auf dem Land‹, hab' ich ihr gesagt. ›Wir wissen, dass du keine hast! Und dein Mann auch nicht.‹
Da ist die Mutter mit der Wahrheit rausgerückt!«
Erwartungsvoll sahen die biederen Hausfrauen den Kommissar an. Der tat ihnen den Gefallen und fragte ganz aufgeregt: »Nun, Mesdames, machen Sie es bitte nicht so spannend! Die Polizei ist für jeden Hinweis dankbar! Was hat denn nun Ihre Nachbarin geantwortet und wie heißt diese Frau überhaupt?«
»Die angeblich verschwundenen Kinder von Louise Murat, so heißt sie nämlich, werden jeweils einem Mann übergeben!« Triumphierend blickten die Frauen auf Lavalle.
Den beschlich prompt ein mehr als ungutes Gefühl. Ehe er weiter bohren konnte, fiel die zweite Freundin ein: »Non, non, Monsieur le Commissaire! Nicht, was Sie jetzt denken! Dieser Mann ist sehr respektabel und steht in Diensten eines hiesigen Nonnenklosters!
Es heißt ›Zur Guten Hirtin‹ und nimmt Kinder im Alter von sechs Monaten bis zu zwölf Jahren auf, versorgt sie ordentlich, unterweist sie im Glauben, bringt ihnen Lesen, Schreiben und etwas Rechnen bei und vermittelt sie später an wohlhabende Bürger- oder Adelsfamilien. Dort werden sie dann als Zofen, Gärtner, Erzieherinnen oder gar als Verwalter angestellt.«
»Ja, und angeblich reißen sich die gut betuchten Leute um diese Zöglinge aus dem Kloster, denn sie seien besonders gut erzogen, gebildet und fleißig. Und die nicht ganz so schlauen finden immerhin Anstellungen als Dienstmädchen oder Stallburschen. Jedes findet seinen Weg, jedes ist raus aus dem armseligen Milieu, in welches es hineingeboren worden ist, und muss keine Angst vor der Zukunft haben!«
»Wahre Wohltäterinnen, diese Klosterfrauen!«, stellte Lavalle mit leiser Ironie fest. Er bedankte sich höflich bei den Bürgerinnen und beschloss, sich in diesem Konvent ›Zur Guten Hirtin‹ selbst ein Bild von den famos-vorbildlichen Zuständen zu machen.
Sein Besuch in diesem Kloster in der Rue de Bretagne im Stadtviertel Marais musste indes leider warten. Straßenkrawalle mit Verletzten und einem Toten beschäftigten die Kommissare und ihre Polizeikollegen noch die ganze folgende Woche.
Jeden Abend nahm er sich (zunehmend halbherziger) vor, den Besuch dieses ominösen Klosters nicht länger hinauszuschieben, obwohl er mittlerweile mehr oder weniger davon ausging, dass ihm der Ausflug in das ehemalige Sumpfgebiet – jetzt aber nach seiner Trockenlegung ein sehr gefragtes Wohnviertel – auch nichts Neues bringen würde …
Wie so oft schon, war es dann wieder einmal »Kommissar Zufall«, der ihm den entscheidenden Anstoß gab, den frommen Frauen dann doch energisch auf die Pelle zu rücken.
22. Januar 1792
Ginettes Bruder Luc hatte sich wieder mal selbst zum Abendessen eingeladen, worüber sein Schwager Armand wie seine Schwester keineswegs traurig waren, sondern sich im Gegenteil ehrlich freuten. Der junge Bursche hatte sich prächtig entwickelt, nachdem es eine ganze Weile so ausgesehen hatte, als würde er eher in Richtung »Taugenichts« abdriften.
Sein Lehrherr, bei dem sich der Kommissar nun regelmäßig nach ihm erkundigte, war nach wie vor voll des Lobes über ihn.
»Wenn Ihr junger Schwager so weiter macht, Monsieur le Commissaire, könnte er in wenigen Jahren vom einfachen Anwaltsgehilfen aufsteigen, sofern er sich dem Studium der Jurisprudenz zuwenden würde. Und, vielleicht in späteren Jahren, wenn ich selbst mich zur Ruhe setzen möchte, könnte er sogar meine Kanzlei übernehmen! Einen eigenen Sohn oder Neffen habe ich ja nicht, der einmal in meine Fußstapfen treten würde!«
Das waren immerhin großartige Aussichten, aber bisher eben nur Zukunftsmusik.
»Anwaltsgehilfe zu bleiben, ist ja auch nicht das Schlechteste«, meinte Ginette. »Grandmaman und ich sind jedenfalls froh, dass der Junge sich anscheinend gefangen hat!«
Am Abendbrottisch wurde natürlich auch neben Lavalles Fällen die verworrene politische Lage diskutiert. Wie es den Anschein hatte, brachten auch die illustren Mitglieder der »Nationalversammlung« nichts Rechtes zustande.
Nachdem die Menschenrechte, die für alle gelten sollten, verkündet waren, ein Verwaltungssystem mit Départements eingeführt wurde, alle Standesvorrechte (angeblich) beseitigt waren, das Kirchengut vom Staat eingezogen worden war und der Klerus eine Zivilverfassung erhalten hatte, war nichts Wesentliches mehr geschehen. Der Unmut in der Bevölkerung wuchs.
»Außer heißer Luft ist da wenig, was dem französischen Volk dienlich sein könnte!« Darin waren sich alle Erwachsenen am Tisch einig, zu denen jetzt auch der siebzehnjährige Luc Madrier zählte.
Natürlich waren auch »die verschwundenen Kinder«, wie die Presse neuerdings reißerisch titelte, ein Thema bei den Lavalles.
Ginette und ihre Großmutter konnten allerdings die riesige Aufregung darüber nicht so ganz nachvollziehen.
»Endlich macht die Kirche mal etwas, das sinnvoll ist!«, sagte die alte Frau und Ginette meinte: »Wenn die Nonnen den armen Familien die überzähligen Kinder abnehmen, um diese gut zu versorgen, ist das doch sehr löblich. Ja, eigentlich nur folgerichtig! Die Kirche ist es doch, die jede Art von Geburtenbeschränkung verbietet. Dann soll sie auch den armen Leuten helfen, die darunter leiden, dass ihre Familien von Jahr zu Jahr größer werden!«
Armand vermochte dieser logischen Argumentation wenig entgegenzusetzen. Immerhin, gab er zu bedenken, dass eins dieser Kinder, vermutlich verhungert, kürzlich tot aufgefunden worden wäre und …
Ginette widersprach sofort. »Soweit ich mich erinnere, mein Schatz, hast du selbst gesagt, man wisse nicht, um wen es sich handele und wer die Eltern dieses armen Jungen gewesen seien. Der Hinweis, der Knabe habe vermutlich stark gehinkt aufgrund eines verkrüppelten Beins, hat die Polizei doch auch nicht weitergebracht!«
Das Letztere ließ Luc aufhorchen.
»Das Kind hat demnach gehumpelt? Oh, dann weiß ich vielleicht etwas, das weiterhelfen könnte bei der Frage, um welchen Kleinen es sich gehandelt hat!«, sagte er aufgeregt. »Mein Freund Pierre Dupont hat gemeint, dass er die Leute, zu denen der Knabe vielleicht gehört, vermutlich kennt! Sie sind quasi die nächsten Nachbarn seiner eigenen Familie und bitterarm.« Herr im Himmel, darauf hatte ihn doch der junge Mediziner in der Salpêtrière hingewiesen! Er hatte das glatt vergessen, weil so viele andere ungelösten Fälle zu bearbeiten waren. »Weißt du noch etwas mehr darüber?«, wandte er sich an seine Frau Ginette, nachdem Luc nichts weiter zu sagen hatte.
»Einer Bekannten von mir ist angeblich schon im vergangenen November aufgefallen, dass man den kleinen Jeanot Meuron schon länger nicht mehr gesehen hatte. Also hat sie nachgefragt, ob der Junge womöglich krank geworden wäre. Madame Meuron, im Augenblick mit dem neunten Kind schwanger und völlig verzweifelt, hat meiner Bekannten dann anvertraut, dass die frommen Schwestern des Klosters ›Zur Guten Hirtin‹ ihr den Kleinen mit dem Hinkebein abgenommen hätten, um ihn im Kloster aufzuziehen. Worüber sie und ihr Mann ungeheuer froh gewesen wären.
›Bei den Klosterfrauen ist er gut versorgt und das ist uns das Wichtigste! Aufgrund seiner starken Gehbehinderung hätte er niemals für sich selbst den Lebensunterhalt verdienen können‹, meinte sie. ›Drum waren wir glücklich, als man ihn uns abgekauft hat!‹«
Lavalle riss es beinahe vom Stuhl. »Abgekauft?«, rief er aus. »Hat die Mutter des Jungen das tatsächlich so gesagt?«
»Ja! Es sei zwar nicht viel gewesen, aber immerhin ein paar Scheinchen und sie wären doch für jeden einzelnen Sou dankbar!«
»Also, ich will ja nicht unken«, murmelte der Kommissar. »Aber für mich hört sich das irgendwie verdammt nach Kinderhandel an!«
Da widersprachen ihm jedoch alle anderen am Tisch. Es sei doch nicht
