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Die Sucht nach Verbrechen: Wie Internetdetektive in True-Crime-Fällen ermitteln
Die Sucht nach Verbrechen: Wie Internetdetektive in True-Crime-Fällen ermitteln
Die Sucht nach Verbrechen: Wie Internetdetektive in True-Crime-Fällen ermitteln
eBook348 Seiten3 Stunden

Die Sucht nach Verbrechen: Wie Internetdetektive in True-Crime-Fällen ermitteln

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Über dieses E-Book

Auf der Jagd nach Gerechtigkeit

Von den sensationshungrigen Polizei-Gazetten viktorianischer Gassen bis hin zum modernen Podcast-Storytelling: True Crime ist heute Ausdruck morbider Popkultur. In den letzten zehn Jahren boomt das Genre so gewaltig, dass Wissenschaftler von einer Obsession sprechen und die Nachfrage an Geschichten über realen Mord und Totschlag mit der steigenden Kriminalitätsrate in Verbindung bringen. Warum zieht True Crime vor allem das weibliche Publikum an? Kann uns die Auseinandersetzung mit wahren Verbrechen davor schützen, selbst Opfer zu werden? Sind die Grenzen der Geschmacklosigkeit erreicht, wenn Fans über ihre "Lieblings-Serienmörder" sprechen?

Aus der Faszination für True Crime erwächst inzwischen ein weiteres Phänomen: das Websleuthing. Internetdetektive machen sich zwischen Bits und Bytes auf die Jagd nach Gerechtigkeit und versuchen über sogenanntes Crowdsolving den Strafverfolgungsbehörden entscheidende Informationen zur Ergreifung eines Täters zu liefern. Erste Studien bilanzieren ein positives Bild, warnen aber auch vor Gefahren wie Falschverdächtigungen und Selbstjustiz. Beides veranschaulicht dieses Buch durch den Rückgriff auf eine Vielzahl von Fallbeispielen. Eine Detailanalyse bietet Hardinghaus anhand von 18 kuriosen Fällen: Mysteriöse Cold Cases, unauffindbare Personen und nicht identifizierte Tote – jeder Fall ist ein Puzzle, das darauf wartet, zusammengesetzt zu werden.

"Die Sucht nach Verbrechen" ist ein Pionierwerk, das nicht nur für eingefleischte Fans des Genres, sondern auch für jene, die sich für die Psychologie der Kriminalität und die Auswirkungen der digitalen Welt auf die Strafverfolgung interessieren, unverzichtbar ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Verlag
Erscheinungsdatum14. Aug. 2024
ISBN9783958905658
Die Sucht nach Verbrechen: Wie Internetdetektive in True-Crime-Fällen ermitteln

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    Buchvorschau

    Die Sucht nach Verbrechen - Dr. phil. Christian Hardinghaus

    KAPITEL 1

    TRUE-CRIME-BOOM UND WEBSLEUTH-PHÄNOMEN

    »True Crime is crime fact that looks like crime fiction.«

    Mark Seltzer

    Die Erkenntnis, dass Verbrechen sich nicht lohnen, mag zwar als moralischer Kompass in das kollektive Bewusstsein eingegangen sein und die Grundlage globaler Rechtssysteme bilden, doch paradoxerweise hat sie in der Unterhaltungsbranche eine ganz andere Resonanz gefunden. Die Faszination für echte Kriminalfälle ist tief in der menschlichen Natur verwurzelt, und ein Anstieg der Kriminalitätsraten korreliert oft mit einem erhöhten Konsum von True-Crime-Inhalten in den Medien. Dieser Trend, der sich in einem stetigen Aufschwung des Genres manifestiert, spiegelt möglicherweise die zunehmende Verunsicherung innerhalb der Gesellschaft wider. Die Anziehungskraft, die wahre Verbrechen auf Menschen ausüben, ist ein komplexes Phänomen, das sich einer einfachen Erklärung entzieht.

    Obwohl es an einer präzisen wissenschaftlichen Definition mangelt, besteht Konsens darüber, True Crime als ein literarisches Genre zu beschreiben: Es befasst sich mit authentischen Kriminalfällen, die in der Vergangenheit von realen Personen verübt worden sind. Im Zentrum dieser non-fiktionalen Erzählungen stehen oft die spektakulärsten, brutalsten oder außergewöhnlichsten Fälle, insbesondere Serienmorde, während Raubüberfälle, Entführungen und Vergewaltigungen, die nicht tödlich enden, seltener thematisiert werden. Natürlich können erzählte Geschichten und inszenierte Bilder aber nie eine tatsächliche Wahrheit abbilden, sondern sind immer dazu gezwungen, zu interpretieren oder aus dramatischen Gründen fiktionale Elemente einzubinden. Daher bezeichnet man True Crime auch als Hybridgenre, in dem einzelne Formate nah an der Realität sein können, andere sich mehr künstlerischer Freiheit bedienen. Zwingendes und gemeinsames Kennzeichen aller genrespezifischen Produktionen sind allerdings wahre Begebenheiten, die hauptsächlich dokumentarisch aufgearbeitet werden sollen, also nicht einfach mediale Nachstellungen der Realität sind. Die Gattung weist eine Nähe zu journalistischen Darstellungen auf, und die Glaubwürdigkeit einzelner Formate bemisst sich an tiefgründiger Recherche und Sorgfalt. True Crime gehört heute medienübergreifend und weltweit zu den beliebtesten Genres, und die Statistiken insbesondere der letzten zehn Jahre zeigen eine kontinuierliche Popularität. Die literarische Definition des auch so bezeichneten »amerikanischen Genres« haben maßgeblich die Literaturwissenschaftler Mark Seltzer und Jean Murly sowie der Radiomoderator und Podcaster Ian Case Punnett geprägt. In den USA ist das Interesse an Geschichten über realen Mord und Totschlag – historisch betrachtet – immer schon am ausgeprägtesten gewesen. Während sich True Crime auf dem US-Buchmarkt als das am schnellsten wachsende Genre des 21. Jahrhunderts etabliert hat, hat sich ab 2014, bedingt durch die zunehmende Nutzung von Podcastformaten und Streamingdiensten, ein regelrechter Boom innerhalb der neuen Medien entwickelt. Mittlerweile ist das Format Podcast das mit Abstand bevorzugte Medium für amerikanische True-Crime-Konsumenten.¹ Etwa 24 Prozent aller Top-Produktionen für Apple und Spotify entfallen 2022 laut Umfrage des Pew Research Centers auf Inhalte mit realen Verbrechen und machen diese damit zum häufigsten Thema.² Auch im Filmbereich kommt kein Streaming-Anbieter noch ohne entsprechende Angebote aus. Im Jahr 2022 geben US-Nutzer insgesamt 738510-mal den Begriff True Crime in die Suchmasken ihrer Bezahldienste ein.³ Fast die Hälfte der Amerikaner gibt an, das Genre zu mögen, ein Drittel, entsprechende Sendungen einmal wöchentlich zu konsumieren, und ein Viertel mehrmals in der Woche. Der Meinungsredakteur der New York Times Spencer Bokat-Lindell hat sich jüngst zu den Gründen des Genre-Booms geäußert:

    Seit dem Aufkommen des Buchdrucks haben die Menschen eine morbide Faszination dafür entwickelt, über die Fähigkeit der Menschheit zum Bösen zu lesen. Aber in den letzten zehn Jahren hat sich das wahre Verbrechen – dieses einst relativ nischenhafte Genre der Erzählung, das reale Berichte über Missetaten in erzählerisches Gold verwandelt – zu einem kulturellen Giganten entwickelt: Der Verkauf von Büchern über wahre Verbrechen ist in den Vereinigten Staaten sprunghaft angestiegen. In der Welt der Dokumentarfilme ist True Crime heute sowohl das gefragteste als auch das am schnellsten wachsende Genre. Als ich Ende letzter Woche meine Podcast-App überprüfte, drehten sich vier der fünf meistgehörten Sendungen um Mord.

    Im digitalen Zeitalter produzieren die amerikanischen True-Crime-Macher natürlich längst für den internationalen Markt, der mitwächst und nachzieht. Nach einer Studie der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse von 2023 erreichen in Deutschland Podcasts zu wahren Kriminalfällen mit 9,32 Prozent den zweitgrößten Marktanteil, knapp hinter Nachrichteninhalten mit 10,13 Prozent. Vier der zehn reichweitenstärksten Podcasts fallen in den Bereich True Crime.

    Eine überragende Besonderheit des Genres sticht weltweit heraus: Es ist weiblich. In den USA konsumieren 2022 laut YouGov-Umfrage Frauen mit 58 Prozent häufiger True Crime als Männer mit 42 Prozent und geben doppelt so oft an, dies sei ihr Lieblingsgenre.⁶ In Deutschland scheint das Gefälle noch erheblich größer zu sein. 93 Prozent der True-Crime-Hörer sind nach einer deutschen True-Studie von 2022 Frauen.⁷ Experten sprechen von einem weiblichen Phänomen, das Medienwissenschaftler und Psychologen gleichermaßen aufhorchen lässt, denn dies steht im Kontrast zu anderen gewaltzentrierten Genres, die allesamt signifikant von männlichen Konsumenten dominiert werden. Auch die Macher der Shows, die international als Hosts bezeichnet werden, sind mehrheitlich feminin: 8 der 15 beliebtesten True-Crime-Podcasts in Deutschland werden von einem weiblichen Duo gehostet, fünf von einem gemischten Doppel und nur zwei von Männern.⁸ Auch in anderen Formaten überwiegen die weiblichen Konsumenten auffällig deutlich. Die auflagenstärkste True-Crime-Zeitschrift Stern-Crime etwa wird zu 81 Prozent von Frauen gelesen.⁹ Es ist nicht ganz leicht, Erklärungen für diese Besonderheit zu finden; diskutiert werden aber die allgemein angenommene höhere Empathiefähigkeit von Frauen und ihr ausgeprägteres Interesse an Menschen, Schicksalen und Beziehungen. Dies erklärt auch, warum weibliche Leser in der gesamten Belletristik überrepräsentiert sind, während männliche generell Sachthemen bevorzugen. Nach den bisherigen Ergebnissen einer 2023 erhobenen True-Crime-Studie des Instituts für Psychologie der Universität Graz geben 75 Prozent der befragten Frauen an, das Genre zu mögen, weil sie dadurch verstehen wollen, was Menschen antreibt, grausame Dinge zu tun. Die Forscher, die die psychologischen Auswirkungen des True-Crime-Konsums auch mithilfe von EKG-Messung und MRI-Gehirnscans ergründen, finden aber noch eine andere, den Teilnehmern weniger bewusste Interpretation für die Geschlechterdifferenz. Studienleiterin Corinna Perchtold-Stefan sagt:

    Die Furcht davor, Opfer von Gewalt zu werden, ist weltweit bei Frauen deutlich ausgeprägter. Forschungsbefunde zeigen auch, dass Frauen eine grundsätzlich höhere Tendenz zum Aufsuchen von negativen und Krisenrelevanten Informationen haben. Eine Erklärung für den häufigeren True-Crime-Konsum ist demnach der adaptive Nutzen. Frauen wollen an Beispielen wahrer Verbrechen lernen, wie sie sich selbst am besten gegen Gewalt im echten Leben schützen können. Psychologisch spricht man vom Resilienzfaktor der defensiven Vigilanz. Damit ist eine verteidigende Wachsamkeit gemeint, die mit dem Erlernen von Sicherheitsstrategien im Alltag verknüpft ist. Etwas überspitzt könnte man den Nutzen von True Crime als eine Art weibliche Überlebensstrategie verstehen.

    Neben dieser Schutzfunktion gibt es eine Reihe weiterer psychologischer Faktoren, die erklären, warum wir uns so oft und gerne mit wahren Verbrechen beschäftigen. In Kapitel 2 sollen sowohl die individuellen Antriebe, die generell zum Konsum von True-Crime-Inhalten führen, als auch die soziologischen Entwicklungen, die das gesellschaftliche Interesse an realen Kriminalfällen fördern, untersucht werden. In Kapitel 3 werfen wir einen genauen Blick auf die geschichtliche Evolution der Gattung True Crime. Dabei werde ich nicht nur auf die Meilensteine und gesellschaftsbedingten Zusammenhänge eingehen, sondern die bedeutenden literarischen Werke, TV-Serien und Podcasts der USA und Deutschlands in den Blick nehmen. Zusätzlich habe ich in Anhang 1 eine Übersicht prägender Werke spezifischer Medienformate aufgelistet. Ich möchte auch auf ethische und moralische Aspekte eingehen und anschließend aufzeigen, dass die Faszination für True Crime maßgeblich das sich neu abzeichnende Phänomen des Websleuthings begünstigt hat – das zweite zentrale Untersuchungsobjekt dieses Buches, dem Kapitel 4 gewidmet ist.

    Beschrieben wird mit Websleuth eine Person, die selbstständig oder im Verbund mit Gleichgesinnten alle informationstechnologischen Möglichkeiten des Internets nutzt, um Verbrechen aufzuklären beziehungsweise um Ermittlern Hinweise oder Beweise zu liefern, die zur Lösung eines laufenden Kriminalfalles beitragen oder rechtfertigen, dass ein ungeklärter Fall (Cold Case) neu aufgerollt werden kann. Der Name geht vermutlich auf die 1999 gegründete Online-Detektiv-Community Websleuths zurück, die heute mit über 230000 Mitgliedern eines der größten auf ausschließlich wahre Verbrechens- und Vermisstenfälle spezialisierte Foren stellt.

    Eine wissenschaftliche Definition für den im Internet geprägten Begriff gibt es bis heute nicht. Noch schwieriger ist es, einen einheitlichen Namen für das Phänomen zu finden, so sprechen beispielsweise verschiedene Quellen auch von Internet Sleuths oder Online Sleuths. Der Teilbegriff Sleuth (Schnüffler) scheint sich allerdings etabliert zu haben, obwohl englische Medien auch weiterhin klassische Beschreibungen wie Armchair Detectives (Hobbydetektive) benutzen, die an die Figur des Sherlock Holmes angelehnt sind. Einige Organisationen sind bestrebt, die Arbeit der Sleuths zu professionalisieren, und versuchen, neue Begriffe einzuführen. So spricht etwa die True-Crime-Community Uncovered von Citizen Detectives (Bürgerdetektive).

    In Deutschland hat sich aus unterschiedlichen Gründen bislang kein passendes Pendant zu Websleuth etabliert. Zum einen ist der Begriff Privatdetektiv noch fest mit kommerziellen, nichtpolizeilichen Ermittlungsdiensten verknüpft. Zum anderen könnte eine wörtliche Übersetzung wie Internetschnüffler missverständlich sein, da sie nicht die positive Konnotation von Verbrechensbekämpfung trägt, die mit dem Websleuthing verbunden ist. Solange hier kein Name gefunden ist, kommen für den deutschen Begriff am ehesten die althergebrachten Bezeichnungen Hobbydetektive oder Hobbyermittler infrage. Allerdings fehlt hier die Anknüpfung an das digitale Zeitalter und die hauptsächliche Arbeitsweise der Websleuths mithilfe des Internets, was wiederum für die Benennungen Internetdetektive oder Online-Detektive spricht. Alle vier genannten Termini werde ich in diesem Buch synonym benutzen, um die Arbeitswelt der Websleuths zu beschreiben.

    Websleuths sammeln Presseerzeugnisse und Polizeimeldungen, überwachen soziale Medien und Foren, greifen auf forensische Datenbanken zurück und werten auch Leaks offizieller Strafverfolgungsbehörden aus. Websleuthing hebt sich deutlich ab von der Popkultur des True Crime. Betreibt man es richtig, bedeutet das vor allem eines: viel Arbeit, manchmal Monate und Jahre. Im Vordergrund steht kein Hype, sondern der Wunsch, Opfern zu helfen und Gerechtigkeit herzustellen. Internetdetektive ertragen es nicht, dass in den USA knapp 30000 Morde ungeklärt sind und einfach liegen bleiben. Im Gegensatz zum Genre True Crime, das häufig Täter und Tat ins Zentrum stellt, versuchen Websleuths, den Opfern ein Gesicht zu geben. Eines der größten und auch erfolgreichsten Betätigungsfelder, in der es enge Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden gibt, ist daher die Identifizierung unbekannter Toter. Dabei ist es durchaus Anspruch der Websleuths, sich auf die kleinen, namenlosen Kriminalfälle aus der Nachbarschaft zu stürzen, Opfern, die sich keine Hilfe leisten können, entgegenzukommen oder von offiziellen Behörden im Stich gelassene Angehörige in ihrem Anliegen zu unterstützen, ihre Fälle im öffentlichen Diskurs präsent zu halten. Aber natürlich arbeiten viele Websleuths auch an den »großen Fällen« und träumen davon, einem echten Serienkiller das Handwerk legen zu können.

    Ein weiteres Ziel der Online-Detektiv-Gemeinschaft ist es, auf Fehler der Behörden oder Lücken in Ermittlungen hinzuweisen und so eine Kontrollfunktion auszuüben. Außerdem wollen Internetdetektive in der Gesellschaft das Bewusstsein für Kriminalität und den Umgang mit ihr schärfen. Die Abgrenzung des Begriffs Websleuth ist ähnlich schwierig wie die des Journalisten, da sich prinzipiell jeder als solcher bezeichnen kann, der recherchiert und Medieninhalte erstellt. Vergleichbar damit können sich theoretisch alle Menschen, die sich auf irgendeine Weise an der Aufklärung von Verbrechen mittels Internetrecherche beteiligen möchten, als Websleuth ausgeben. Genauso wie bei den Eigenbezeichnungen als Journalist oder Redakteur wirft die eigenständige Betitelung als Websleuth notgedrungen immer wieder Fragen zu Professionalität und Verantwortung entsprechender Kreise auf und bedingt ihre gesellschaftliche Anerkennung.

    Im Verlaufe des Buches werde ich versuchen zu zeigen, wie dringend notwendig eine konkrete Namensfindung und Abgrenzung verschiedener Gruppen in Zukunft sein wird. Ersten wissenschaftlichen Ansätzen nach würde man nämlich Personen, die sich in Online-Foren im gesellschaftspolitischen Sinne über Straftaten austauschen oder True-Crime-Fans, die die letzte Folge ihrer Lieblingssendung diskutieren, nicht unter dem Terminus einordnen. Steht jedoch der feste Entschluss im Vordergrund, aktiv an der Lösung des Verbrechens mitzuwirken, wäre der Begriff schon angebrachter. Die Ermittlungsmöglichkeiten des modernen Internetdetektivs sind heute vergleichbar mit denen des professionellen Privatdetektivs. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass Websleuths ihre Arbeit unentgeltlich und ehrenamtlich verrichten und andererseits unabhängig von den zeitlichen Vorgaben und Anforderungen von Klienten agieren können. Wie bei Journalisten, die über ganz unterschiedliche Ausbildungen und Qualifikationen verfügen können, gibt es diese Abstufungen auch bei Hobbyermittlern, die im besten Fall zur Lösung des Verbrechens eigene fachliche, im Besonderen kriminalistische Expertise einbringen können. Der Maßstab für ihre Professionalität ist letztendlich die Umgebung, in der sie arbeiten. Internetdetektive haben beispielsweise auch das Doe-Network ins Leben gerufen. Dieses Freiwilligennetzwerk arbeitet heute eng mit den Ermittlungsbehörden zusammen, um vermisste Personen mit Profilen nicht identifizierter Personen, die kriminalistisch unter John Doe (männlich) und Jane Doe (weiblich) erfasst werden, miteinander zu verknüpfen.

    Der Ansatz aller qualifizierten Internetdetektivgemeinschaften ist es, Verbrechensaufklärung mittels Crowdsolving zu betreiben. Dabei gehen sie davon aus, dass sie durch eine Armee unendlich vieler kluger Köpfe und Experten den Strafverfolgungsbehörden über Schwarmwissen gesammelte Ressourcen zur Verfügung stellen können, die diese selbst nie aufbringen könnten.

    Der Fall der im Jahr 2004 in New Hampshire verschwundenen Krankenpflegestudentin Maura Murray zählt zu den frühesten und bekanntesten Mysterien der Plattform Websleuths. Der Vermisstenfall, der sich zugetragen hat, als die Geburtsstunde von Facebook gerade fünf Tage zurückliegt, gilt heute als das erste Krimimysterium der Ära sozialer Netzwerke und bereitet noch immer Internetdetektiven auf der ganzen Welt Kopfzerbrechen. Websleuthing als Phänomen etabliert sich 2013 durch zwei populäre Fälle. Nachdem die kanadische Touristin Elisa Lam am 1. Februar 2013 spurlos aus dem berüchtigten Cecil Hotel in New York verschwindet, stellt die Polizei ein Video der letzten Aufnahmen der Studentin aus dem Fahrstuhl des Hotels ein, rechnet aber wohl nicht im Ansatz mit der Wirkung, den die verstörenden Bilder hervorrufen. Allein auf der chinesischen Video-Sharing-Website Youku wird der Clip in den ersten zehn Tagen drei Millionen Mal aufgerufen und 40000-mal kommentiert. Bis heute ist er mehr als 34 Millionen Mal über Youtube abgerufen worden, und obwohl die Umstände von Elisas Tod inzwischen als geklärt gelten, lassen die Spekulationen kaum nach.

    Der zweite Fall macht Websleuthing als kollektives Phänomen vor allem auf der Diskussionsplattform Reddit sichtbar. Wenige Tage nach dem Attentat auf den Boston-Marathon am 15. April 2013, bei dem drei Menschen getötet und 264 verletzt worden sind, entsteht im Reddit-Unterforum »Reddit Bureau of Investigation« (RBI) ein Subreddit mit dem Namen »Find Boston Bombers«. Anhand von Foto- und Videomaterial wollen Internetdetektive die Täter, die ihre mit Sprengsätzen versehenen Rucksäcke in der Hauptstadt des US-Bundesstaates Massachusetts platziert haben, identifizieren und jagen. Das bis zu diesem Anschlag kaum beachtete RBI wächst auf 30000 Mitglieder an. Heute ist das Subreddit r/RBI das sich als verlängerter »Bürgerarm« des FBI versteht, mit 744000 Redditoren das größte Internetdetektiv-Forum weltweit.¹⁰ Aktuell beteiligen sich 3254056 Nutzer in Zigtausenden Subreddits der Plattform an Diskussionen über jedes erdenkliche Thema, wobei kein bedeutendes wahres Verbrechen fehlt. Der Fall des Boston-Marathons zeigt erstmals auch deutlich die Gefahren auf, die Websleuthing mit sich bringen kann. Spätestens aber die Suche nach der Reisebloggerin Gabby Petito und die Verfolgung ihres Verlobten Brian Laundrie auf Social Media verdeutlichen die bisher unterschätzte Tragweite des Phänomens. Zum ersten Mal wird ein Verbrechen in Echtzeit verfolgt, wobei Internetdetektive gleichzeitig zur Lösung beitragen und die Strafverfolgung beeinträchtigen.

    Die 21-jährige New Yorkerin Gabby verschwindet Ende August 2021 während ihres akribisch unter dem Hashtag Vanlife auf Instagram dokumentierten Roadtrips quer durch die USA. Als Brian allein und ohne den Van zurückkehrt und gegenüber der Polizei zum Verbleib seiner Freundin schweigt, springen Hobbyermittler ein. Sie durchleuchten Gabbys Accounts und erkennen, dass die zuletzt veröffentlichten Posts und Fotos nicht von ihr stammen können. Überzeugt davon, dass Brian in ihr Verschwinden verwickelt ist, durchkämmen sie Wanderkarten des Grand Teton Nationalparks in Wyoming und lokalisieren schließlich den abgestellten Van. In der Nähe entdecken Wanderer am 19. September 2021 die Leiche der 21-Jährigen, die erdrosselt worden war; gleichzeitig befindet sich Brian auf der Flucht. Nachdem die Polizei, die inzwischen wegen Mordverdachts fahndet, am 1. Oktober ein verstörendes Dashcam-Video veröffentlicht, das eine Kontrolle des Paares in Utah dokumentiert, erreicht die Suche nach der Vermissten unter dem Hashtag FindGabby über eine Milliarde Menschen auf der ganzen Welt. Das Video zeigt Befragungen der sich in einem Zustand des Nervenzusammenbruchs befindlichen Gabby und ihres abwiegelnden Verlobten. Die Analyse der Websleuths offenbart, dass Gabby Petito geschlagen wurde. Sie untersuchen die Aufnahmen Bild für Bild und decken auf, dass die Polizeibeamten, die später aufgrund einer Fehleinschätzung der Situation suspendiert und von Petitos Familie wegen unterlassener Hilfeleistung verklagt werden, die dokumentierten Verletzungen und die Lügen ihres Verlobten hätten wahrnehmen müssen. Die Social-Media-Hetzjagd auf Brian ist danach nicht mehr zu bremsen und endet damit, dass sich der 22-Jährige in einem Nationalpark in Florida versteckt. Nachdem er die Tat in einem Notizheft gesteht, richtet er sich selbst per Kopfschuss hin. Zwar können Internetdetektive helfen, den Fall aufzuklären, und auf Fehler in der offiziellen Polizeiarbeit hinweisen, behindern diese jedoch an anderer Stelle so massiv, dass die echten Ermittler Tausenden von Falschanschuldigungen und manipulierten Fährten nachgehen müssen. Der Fall verdeutlicht, dass Online-Detektivarbeit ganz unterschiedlichen Charakter hat und eine Differenzierung zwischen professionalisierten Gemeinschaften wie Websleuths und einer durch True-Crime-Hype und Medienberichterstattung aufgestachelten Social-Media-Meute, die sich in Windeseile über Facebook-Gruppen oder TikTok-Kanäle formieren kann, notwendig ist.

    Spezialisierte Internetdetektiv-Foren existieren heute in nahezu sämtlichen Ländern und in allen Sprachen. Die größte Diskussionsplattform für die deutschsprachige True-Crime-Community findet sich auf Allmystery, das als Forum für »grenzwissenschaftliche, mysteriöse, religiöse und gesellschaftspolitische Fälle« schon seit 1987 besteht und heute über 133000 Mitglieder verfügt. Nachdem sich die Diskussionen um wahre Verbrechen ohne einen paranormalen Bezug mehrten, richten die Macher 2010 eine separate Krimirubrik ein, die heute längst das Herzstück und die am stärksten frequentierte Diskussionskategorie ist. Das erste rein auf Verbrechensfälle konzentrierte Forum, das auch bemüht ist, mit polizeilichen Dienststellen zusammenzuarbeiten, ist das 2012 von zwei Privatdetektiven gegründete Hobbyermittler-Team.

    Dieses Buch wird die Struktur solcher Foren, ihre Funktionen und Angebote beleuchten sowie nützliche Werkzeuge vorstellen, die in der Welt der Internetdetektivarbeit zur Verfügung stehen. Die internationale Forschung zu Websleuthing hat erst vor wenigen Jahren begonnen, entsprechend überschaubar ist die Studienlage, die in die Disziplinen der Psychologie, Kriminologie und Medienwissenschaft fällt. Eine besondere Erörterung finden die Fragen, ob Websleuthing Gefahr oder Nutzen für die Gesellschaft darstellt beziehungsweise was Internetdetektive antreibt. In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen beziehe ich mich auf Erkenntnisse aus wichtigen wissenschaftlichen Studien der letzten Jahre. Es zeichnet sich bereits ab, dass das Interesse an Websleuthing aus der Faszination für True Crime erwächst und ähnliche psychologische Antriebe anspricht. Die Ausprägungen sind jedoch vielfältig: Sie reichen von einer sinnstiftenden Beschäftigung, die einen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann, bis hin zu einer intensiven Obsession, die in einigen Fällen sogar in Selbstjustiz münden kann. In Kapitel 4 werde ich anhand von sechs markanten Fallbeispielen sowohl die größten Erfolge als auch die verheerendsten Fehlschläge der Websleuths beleuchten.

    Im zweiten Teil des Buches wende ich mich direkt an die Spürnasen und detektivischen Fähigkeiten der Leserschaft. Ich werde insgesamt 18 ungeklärte Fälle präsentieren, die aufgrund ihrer Kuriosität und Komplexität über lange Zeiträume hinweg große Aufmerksamkeit in Websleuth-Kreisen erregt haben. Diese Fälle unterteile ich in die vier beliebtesten Kategorien der Websleuths. Anhand von Fallanalysen werde ich die tatsächlichen Ermittlungsergebnisse mit aufgestellten Online-Theorien vergleichen und darüber versuchen, die Faszination, die von True Crime und Websleuthing ausgeht, erfahrbar zu machen. Zeitlich verortet sind die vorgestellten Fälle von Verbrechen, vermissten oder nicht identifizierten Personen zwischen 1959 und heute. Bei der Auswahl habe ich darauf geachtet, dass es in den letzten Jahren neue Erkenntnisse gegeben hat, dass es sich also wirklich um »laufende Cold Cases« handelt. Für Leserinnen und Leser, die sich erstmalig mit dem Thema beschäftigen, könnten die überwiegend internationalen Fälle unbekannt sein, während sie True-Crime-Enthusiasten vermutlich bereits vertraut sind. Das ist kein Widerspruch, denn die deutsche Presse hat die Fälle kaum oder gar nicht aufgegriffen, wohingegen sie im Podcastbereich neben vielen anderen wahrscheinlich schon zu den Klassikern zählen. In diesem Buch geht es aber nicht darum, Inhalte zu reproduzieren, die bereits in zahlreichen Podcasts behandelt worden sind. Vielmehr lege ich den Fokus darauf, zu analysieren, was bei True-Crime-Fans gefragt ist und wie Websleuths mit den Geschichten verwoben sind.

    Um sowohl Neulinge als auch erfahrene Genre-Kenner anzusprechen, habe ich bei der Zusammenstellung der Fälle darauf geachtet, in die Tiefe zu gehen und darin alternative sowie neue Aspekte zu beleuchten, die in der oft

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