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Das Schattenveilchen
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eBook208 Seiten

Das Schattenveilchen

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Über dieses E-Book

Der plötzliche Tod ihres Geliebten beraubt eine junge Frau aller persönlichen und beruflichen Zukunftsaussichten. Unerwartet findet sie Aufnahme im selben Stadtviertel, wo der Verstorbene aufgewachsen ist. Ein Stadtteil aus verwilderten Gärten, bröckelnden Mauern und freundlichen Sonderlinge. In der alten Villa des geheimnisvollen Morillon bewohnt sie ein Zimmer. Im Museum findet sie eine Anstellung. Und dort wird sie Zeuge einer mysteriösen Zerstörung, die sich unter den berühmtesten Gemälden in aller Welt auszubreiten beginnt: An Stelle gemalter Blumen klaffen dort verwischte graue Flecken wie von einem Säureattentat. Haben Morillons ständige Reisen damit zu tun. Und hat die Lilie auf dem Grab ihres Liebsten, die nicht welkt, etwas mit der Blüte zu tun, die aus der Hand des Verkündigungsengels verschwunden ist? Aber vor allem fürchtet sie die beiden unheimlichen Fremden, mit denen sie Morillons Haus teilen muss.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Dez. 2023
ISBN9783967632675
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    Buchvorschau

    Das Schattenveilchen - Dorothea Renckhoff

    Table of Contents

    KM-Dorothea_Renckhoff_Das_Schattenveichen

    Impressum

    Widmung

    Als ich die ersten Schritte ...

    Als ich in die schmale Allee einbog ...

    Doch aus all dem Unheimlichen ...

    Vor Morillons Haus begegnete mir ...

    Dorothea Renckhoff

    Das Schattenveilchen

    Roman

    KM_Logo_Titel_CMYK_450dpi.tif

    Originalausgabe April 2023

    Kulturmaschinen Verlag

    Ein Imprint der Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt)

    Freiburg

    www.kulturmaschinen.com

    Die Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt) gehört allein dem Kulturmaschinen Autoren-Verlag e. V.

    Der Kulturmaschinen Autoren-Verlag e. V. gehört den AutorInnen.

    Und dieses Buch gehört der Phantasie, dem Wissen und der Literatur.

    Umschlaggestaltung: Sven j. Olsson

    Umschlagabbildung: Otto Marseus van Schrieck, ›Stillleben mit blauen Winden, Kröte und Insekten‹

    Eingestellt bei BoD

    978-3-96763-265-1(kart.)

    978-3-96763-266-8(geb.)

    978-3-96763-267-5(.epub)

    Dank an Fedora Wesseler für die phantasievoll-kritische Begleitung

    Als ich die ersten Schritte in die schmale Allee hinein tat, glaubte ich einen Augenblick lang, ich wäre in eine andere Zeit, vielleicht sogar in eine andere Welt geraten. Die altertümlichen Häuser in den dunklen Gärten schienen einen schwachen Geruch auszuströmen, den ich nicht zuordnen konnte; keins der verwitterten Gebäude glich dem ­anderen, und merkwürdig geschwungene Balkone und Erker erinnerten mich an die Märchenbücher meiner Kinderzeit. Schief hingen schmiedeeiserne Parktore zwischen ragend hohen und schon bröckelnden Mauern, und hinter verschnörkelten Türen und bleiverglasten Fenstern vermutete ich eine Gemeinschaft fremdartiger Wesen ihrem unverständlichen Tun hingegeben.

    Nur wenige Meter trennten mich vom grellen Licht und Lärm einer belebten Hauptstraße, doch hier war es so still, als sei ein unsichtbarer Vorhang in meinem Rücken nieder­ge­gangen. Ein leichter Nebel schwebte zwischen den Bäumen, und nur wenige Straßenlaternen schimmerten durch den Dunst. Ein paar Autos parkten dicht an dicht, im Lampenschein aneinandergedrängt. Der Fahrweg war leer. In einer ganz sanften Biegung wand er sich vor mir in die Dämmerung, und ich musste ihm folgen, bis hin zur Villa Furlány, wo ich heute zum ersten Mal Einlass finden sollte, doch ganz anders, als ich mir das lange Zeit erträumt hatte.

    Im Institut erzählte man, dass der Turm des pompösen Baus seit dem Tod unsres Literaturpapstes einem ­Museum gleiche; sein Arbeitszimmer im obersten Stockwerk sei ­völlig unverändert, vom Kissen im Sessel bis zum gespitzten Bleistift und zum Grimmschen Wörterbuch im Hand­regal. Seine Witwe wachte über dem Nachruhm des großen Wissenschaftlers genau so unerbittlich, wie sie vorher über seiner Karriere gewacht hatte, und auch den einzigen Sohn hatte sie auf ein Leben eingeschworen, das unter Verzicht auf eigenen Ehrgeiz nur dem Glanz des väter­lichen ­Namens gewidmet sein sollte. Ich hatte gehofft, András träte irgendwann aus dem langen Schatten dieses Vaters heraus, aber er hatte keine einzige grundlegende Arbeit begonnen oder gar zu Ende geführt, vielleicht, weil er seine ganze Aufmerksamkeit den Belangen des Instituts widmete, das einmal das Königreich von Professor ­Furlány gewesen war. Vielleicht auch, weil seine Mutter bei all ­ihrer zärtlichen Liebe zu ihm nicht daran glaubte, dass er zum Nachfolger des genialen Literaturforschers geschaffen sein könnte. Sie kam nicht einmal auf die Idee, ihm in der weitläufigen Villa ein paar angemessene Räume zum Leben und Arbeiten einrichten zu lassen, und als wir uns kennenlernten, bewohnte er noch immer sein altes Kinderzimmer.

    Ich hatte auch gehofft, er übernähme bald die berühmte Turmstube der Villa und werde sie mit Eigenem erfüllen. In Gedanken war ich oft an seiner Hand die Treppe dort hinauf gestiegen, hatte ihm am Schreibtisch gegenüber gesessen oder mich auf dem Sofa in ihn verschlungen. Aber in der Wirklichkeit war es dazu nicht gekommen. Ich hatte die Villa nie betreten.

    Nur ganz selten waren wir überhaupt zusammen gewesen. Kurze Spaziergänge in der sinkenden Dunkelheit, in hässlichen Vorstadtstraßen, am Rand übel riechender Gewerbe­gebiete, wo kein Bekannter uns sah; ein paar Stunden im Flughafenhotel oder in einer Pension auf dem Land, die zu schäbig oder zu spießig war, als dass jemand vom Institut dort Quartier genommen hätte; hastige Küsse auf einem ärmlichen Friedhof zwischen kahlen Gräbern. In meine kleine Souterrainwohnung hatte er sich nur ein einziges Mal gewagt. Meine glücklichste Erinnerung war die an eine gemeinsame Fahrt im Schlafwagen. Zurück hatte ich allein fahren müssen.

    András hatte sich verhalten wie ein verheirateter Mann. Aber es war seine Mutter, die von uns nichts hatte erfahren dürfen, und wegen ihrer regen Beziehungen zum Institut hatte auch sonst niemand von uns wissen sollen. Die ­Baro­nin, sagte András, habe den Verlust ihres Mannes noch nicht verwunden, und wenn sie zu früh erführe, dass ihr Sohn sich etwas oder jemand anderem widme als dem Nachruhm seines Vaters, wäre ihr totaler Zusammenbruch die Folge, ja, vielleicht ihr Tod. Er glaubte das wirklich, und schon der leiseste Versuch, ihm zu widersprechen, versetzte ihn in unglückliche Erregung. Ich konnte es nicht aushalten, ihn in einem derartigen Zustand zu sehen, und so machte ich den ganzen Unsinn mit.

    Und doch bedeutete unser kurzes Beisammensein jedes Mal ein Aufschäumen von Glück mitten in lebenleerer Öde. Mir war sehr schnell seine intellektuelle Überlegenheit klar geworden, und ich war fassungslos, als ich begriff, dass dieser überragend kluge Mann meine Art zu denken liebte, dass er meine Assoziationsketten, mein gedankliches Hakenschlagen und meine geistigen Winkelzüge genoss wie ein Streicheln. Und so bewegten wir uns, fast ohne es zu merken, auf Fragen und Probleme zu, mit deren Lösung er sich dann doch als eigenständiger Wissenschaftler erwies. Beim Schaukeln einer Schlafwagenkoje erwachte sein beruflicher Ehrgeiz, und das vermüllte Brombeergestrüpp am Bahn­damm stachelte den Forscher in ihm auf. Ich war die Einzige, die sich nicht wunderte, als er eines Tages plötzlich doch noch mit einem epochalen Werk vor die Fakultät trat.

    Dann geschah etwas, was es in der langen Geschichte dieser Universität erst ein einziges Mal gegeben hatte: Sein Buch wurde gleichzeitig als Dissertation und als Habilitation gewertet. Wenig später bewies ein ehrenvoller Ruf auf einen Schweizer Lehrstuhl, dass die Welt sich für András geöffnet hatte. Endlich konnte er entkommen aus dem Kinder­zimmer der Villa Furlány. Ein neues Leben würde beginnen, und ich sollte mit ihm gehen. Wir waren verabredet für den gemeinsamen Aufbruch. Die Zeit der Heimlichkeiten würde vorbei sein.

    Wir hatten uns bewusst für eine Reise mit dem Zug entschieden; ein Flug war zu kurz und zu prosaisch, um den kompletten Wandel in unserem Leben einzuleiten. Nach den ersten gemeinsamen Tagen in der Schweiz und nach seiner Antrittsvorlesung sollte ich zurückkehren und das große Gepäck nachholen. Er hatte alles vorbereitet, seine Sachen standen gestapelt in seinem bisherigen Büro und auf den Gängen des Instituts, und vor der Abfahrt würde er seiner Mutter endlich von mir erzählen.

    Plötzlich erkannte ich den schwachen Geruch, den die ­alten Häuser ausatmeten, es war Holzrauch, und sofort sah ich den großen Kamin in der Halle der Villa Furlány vor mir, so wie András mir den Raum beschrieben hatte, der ihn seit der Kinderzeit jeden Tag bei seiner Rückkehr empfangen hatte. Die hohen Türen mit den dunklen Rahmen, die breite Treppe zur Beletage, der Ständer mit Schür­haken und Schaufel am Feuer, der Widerschein der Flammen auf dem Parkett, auch an kühlen Sommerabenden. Die Stehlampe in der Ecke, vor der er sich als kleiner Junge gefürchtet hatte. Der Schirm aus Pergament begann in der Wärme zuweilen in unverständlichen Tönen zu reden, und voller Grauen hatte er sich gefragt, von wem diese Haut stammte, von einem Zicklein? Einem Kälbchen? Oder doch von einem Menschen?

    Niemand hatte mir gesagt, dass András gestorben war. Ich stand mit meinem Rollköfferchen auf dem Bahnsteig und wartete, und er kam nicht. Zu unseren seltenen Verabredungen war er immer frühzeitig erschienen, um keine Minute unsres Zusammenseins zu versäumen, auch wenn das manchmal bedeutete, dass er in kleinen Buchhandlungen Neuerscheinungen kaufte, die er schon besaß, oder sich in Vorstadtkneipen Schnäpse geben ließ, die er nicht mochte – nur, um nicht auf der Straße stehen zu müssen, wo jeder ihn sehen konnte.

    Doch die Abfahrtszeit des Zuges näherte sich, und An­drás erschien nicht. Ich versuchte ihn anzurufen, und nur der Geist seiner Stimme bat mich, eine Nachricht zu hinter­lassen.

    Der Zug fuhr ein, und András war nicht da. Ich blieb stehen, ich wartete noch immer; der Zug fuhr ab, und noch lange stand ich auf dem Bahnsteig und starrte abwechselnd nach links und nach rechts zu den Treppen, aber András kam nicht, und kam niemals mehr.

    Es hat wohl Stunden gedauert, bis ich meinen Posten zu verlassen wagte. Ganz langsam kehrte ich in meine Wohnung zurück, von der ich mich schon verabschiedet hatte. Der Mietvertrag war gekündigt, alle persönlichen Sachen weggeworfen, verschenkt oder verpackt. Aber es war der einzige Ort, wo ich noch auf András warten konnte. Wenn überhaupt, würde er dorthin zu mir zurückkommen. Doch ganz tief in meinem verwirrten Innern hockte ein winziges Stückchen von mir, das bereits wusste, dass ich ihn nie wieder sehen würde.

    Ich saß die ganze Nacht auf einem Karton. Es klingelte nicht an der Tür, und mein Mobiltelefon blieb stumm. Am frühen Morgen legte ich mich mit dem Kopf auf meiner Handtasche auf den Boden und schlief ein bisschen.

    Danach stand ich benommen auf und fuhr zur Universität. In dem langen Flur zwischen den Büros unserer Fakultät reihten sich die Bücherkisten von András, und reglos daneben, mit gesenktem Kopf, sah ich eine hohe Gestalt, es war Dr. Kilian Tumpe, der Geschäftsführer des Instituts, »was soll aus all dem nun werden«, sagte er und meinte damit nicht nur die verpackten Besitztümer. Ich starrte ihn ratlos an, und zusammenhanglos begann er den plötzlichen Tod eines lange verkannten Hoch­be­gab­ten zu beklagen. Ich begriff nicht gleich, von wem er sprach, und erst nach und nach entnahm ich seinen Worten, dass András schon seit zwei Tagen tot war.

    Man hatte ihn in seinem alten Kinderzimmer gefunden. Wahrscheinlich ein Sekunden-Hirntod, hatte der Hausarzt erklärt. Ohne Obduktion ließe sich nichts sagen. Das hatte die Mutter abgelehnt. Ich war der Feindin dankbar dafür.

    Niemand hatte mich benachrichtigt. Also hatte noch ­immer niemand etwas von András und mir gewusst, und sein Gespräch mit der Mutter hatte nicht stattgefunden. Ich war froh darüber, denn sie hätte mir mit Recht die Schuld an seinem Tod gegeben. Meine verfluchte Zunge hatte ihn zu dem epochalen Werk verlockt, das ihm die Welt geöffnet und ihn aus der heimischen Höhle losgerissen hatte. Dass der Befreiungsversuch ihn umbringen würde, hatte ich nicht geahnt.

    Ich war nun tiefer in die stille Allee eingedrungen, und als ich einen Blick zurück warf, war die Einmündung in die Hauptstraße nicht mehr zu sehen. Auch die schweren Abgaswolken schienen dort zurückgeblieben; die Luft um mich her atmete die frische Feuchtigkeit der Bäume am Wegrand. Und doch wäre ich am liebsten umgekehrt. Aber dann hörte ich Schritte auf dem Kopfsteinpflaster, und als ich mich noch einmal umschaute, sah ich Kilian Tumpe hinter mir auf dem Bürgersteig. Er ging ganz ruhig, aber die mühelosen Schritte des großen Mannes brachten ihn erstaunlich rasch näher. Der Besuch bei der Baronin war seine Idee gewesen, »es ist der erste Geburtstag der Witwe seit dem Tod ihres Sohnes,« hatte er gesagt, »wir dürfen sie nicht allein lassen, sie hat nur noch uns,« und nicht einer von uns hatte seinem Vorschlag widersprochen, nicht einmal ich.

    Er begrüßte mich mit der Zugewandtheit, die er für ­jeden hatte, selbst für eine studentische Hilfskraft, die nicht mehr dazu gehörte. Ich versuchte, mich seinem Tempo anzupassen. Denn Alles war etwas leichter in seiner Gegen­wart, das wusste ich schon lange. Ohne Nach­zu­denken nahm er Anderen ab, was sie Überwindung gekostet hätte, und so läutete er auch am Portal der Villa, wovor ich mich gefürchtet hatte; er grüßte den alten Herrn, der uns die feuchten Mäntel abnahm, er führte mich in den kleinen Saal, in dem die Baronin Furlány empfing. Er stellte mich vor, und während sie ihn neben sich auf das Bieder­meier­sofa zog, stahl ich mich beiseite und suchte nach einer ruhigen Ecke. Eine stetig wachsende Zahl von Menschen drängte sich in einem weiten Kreis um die alte Dame. Die Türen zu den angrenzenden Salons standen offen, und viele der Gratulanten wanderten hinüber und ließen sich dort an kleinen Tischen nieder; andere kamen zurück geschlendert; es war, als würden die Bewohner verschiedener Aquarien durch aufgezogene Schleusentore aus dem einen in den anderen Bereich geschwemmt.

    Langsam streifte ich durch die belebten Räume; ich nickte denen zu, die ich kannte, und es gelang mir, in kein Gespräch gezogen zu werden. Am Ende der Zimmerflucht lockte ein stilles Kabinett, erleuchtet nur von einer einzigen Wandlampe und von den Flammen eines Kamins, vor dem ein paar tiefe Sessel in ein stummes Gespräch versunken schienen. Auf einer Kredenz an der Schmalseite des Raumes stand ein Samowar, mitten in einem Oval aus Teetassen mit Rosenmuster. Ehe ich eintrat, nahm ich ein Glas Sherry von einem Tablett, das mir von einem jungen Mann angeboten wurde. Mit seinen Kelchen und Schalen sah er aus wie eine lebendig gewordene Jugendstilfigur an einem steinernen Brunnen, und ich fragte mich, ob die langen schwarzen Schürzen all dieser überschlanken Mädchen und Knaben der Trauer des Hauses geschuldet oder eine übliche Tracht waren.

    Ich saß eine Weile allein am Kamin. Immer mächtiger quoll in mir ein Empfinden, dass es völlig gleichgültig war, ob ich mich hier aufhielt oder woanders, völlig gleich­gültig, was ich tat. Seit András gestorben war, begleitete mich dies Gefühl überall, aber nirgendwo war es so stark ge­wesen wie hier, in seinem alten Zuhause.

    Ein Herr kam herein. Hinter ihm lief ein magerer gelber Hund. Der Herr grüßte und bediente sich aus dem Samowar; er näherte sich dem Feuer und setzte sich. Der Hund legte sich neben den Sessel und hielt den Kopf wachsam erhoben. Er hatte merkwürdig runde Ohren, wie kupiert. Ohne hinüber zu schauen sah ich von der Seite, dass der Fremde die Untertasse mit der linken Hand gefasst hielt und zum Trinken mit der rechten nach dem Henkel der Schale griff. Dann hörte ich einen unterdrückten Seufzer, ich wandte mich zu ihm hin, und jetzt lief ein tief dunkelroter Blutfaden über seine Finger. Er hatte die Tasse sofort wieder abgesetzt; ich dachte, sie sei angeschlagen, und er habe sich an der scharfen Bruchkante geschnitten. Aber das feine Geschirr war unversehrt, kein Splitter, keine Scherbe zu sehen, kein Tropfen Tee verschüttet, nur das Blut rann ihm über die Finger und befleckte die gemalten Blüten auf dem Porzellan. Sie schienen sich leise zu regen, wie unter einem Windhauch. Vielleicht zitterte dem unbekannten Gast die Hand. Der Hund war aufgesprungen und lief im Raum auf und ab.

    »Ja«, murmelte der Fremde und warf mir einen kurzen Blick aus tiefschwarzen Augen zu, »diese alten Rosensträucher haben manchmal Dornen wie Messer«, und dann stand schon eine der jungen Damen mit den langen Schürzen ­neben ihm; sie nahm ihm die ­Tasse ab und reichte ihm eine kleine Stoff­serviette, und er legte sie um die blutende Hand. Die Serviererin verließ den Raum.

    Wir schwiegen Beide. Nur das Feuer plauderte und warf einen rosenfarbenen Schimmer über uns. Darunter saßen wir wie unter einer gemeinsamen Decke und blickten auf die verhüllten Finger. Ein roter Streifen drängte durch das weiße Tüchlein. Er weitete sich, und Augenblicke später füllte er das gesamte Leinenviereck aus. Nur die gestickten Buchstaben in der Ecke nahmen die Farbe nicht an. Plötzlich zog der fremde Herr das Stück Stoff mit einer raschen Bewegung weg und warf es in den Kamin.

    »Man bringt den Flecken doch nicht mehr heraus«, sagte er, als er meinen Blick bemerkte. Die Flammen duckten sich rund um das feuchte Tuch, und aus dem Dunkel begann es blau zu flackern, als habe man zerbrochene Glasblumen hineingeworfen. Glockenblumen.

    Ich starrte auf das rinnende Blut und fragte mich, woran er sich verletzt haben konnte. Ich habe mich das seitdem noch oft gefragt; heute glaube ich es zu wissen, aber sicher bin ich mir nicht.

    Das Feuer wurde wieder heller und gewann seine Farbe zurück, und schließlich verschlang es den Stoff. Eine Leinen­­serviette aus den Truhen der Villa Furlány, handbestickt mit den Initialen der Baronin. A und F. Es ­waren auch die von András gewesen. Man hätte die gesamte ­Wäsche samt Buchstaben und Hohlsaum verbrennen können, denn András war tot, und die Familie ging mit ihm zu Ende.

    Der Hund lief immer noch auf und ab und bewegte den Schwanz dabei unruhig hin und her wie einen tastenden Arm. Der Schwanz endete in einem dunklen Haarbüschel, es glich beinahe einer Vorhangquaste.

    »Morillon«, sagte sein Besitzer und neigte den Kopf, als wolle er eine Verbeugung andeuten. Ich zog mir den Schal vom Hals und reichte ihn hinüber zu dem fremden Mann. Nur ein fragender Blick, und dann nahm er ihn ohne Wider­rede. Aus dem dunklen Gewebe würde das Rot nicht so schreien wie auf der weißen Serviette. András hatte sein Gesicht so gern in dem weichen

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