Zur Situation der Couchecke: Martin Warnke in seiner Zeit
Von Matthias Bormuth
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Über dieses E-Book
»Martin Warnke war ein ungeheuer empfindsamer Mensch, der selbst in jenem ›Denkraum der Besonnenheit‹ lebte, den Aby M. Warburg als Bedingung aller Kultur bestimmt hatte.«
Horst Bredekamp, Süddeutsche Zeitung
Matthias Bormuth
Matthias Bormuth, geb. 1963, Professor für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg. Veröffentlichungen u. a.: Editionen zu Hannah Arendt, Erich Auerbach, Karl Jaspers und Max Weber. Zuletzt: »Hannah Arendt und Karl Jaspers. Versuch über die geistige Situation« (2023); Das Geisterreich. Kant und die Folgen (2021); Die Freiheit zum Tode. Versuch über Wolfgang Herrndorf (2021); Werner Tübke, »Wer bin ich?« (Mithg., 2021); Wir modernen Menschen. Über Max Weber (2020); Erich Auerbach - Kulturphilosoph im Exil (2020); Werdegänge. Ideengeschichte in Gesprächen (2019); Offener Horizont. Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft (2014ff.).
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Buchvorschau
Zur Situation der Couchecke - Matthias Bormuth
Der Geist ist ein Wühler —
Prolog
I.
Als Martin Warnke im Jahr 2014 seine Berichte zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen erstmals gesammelt veröffentlichte, war das Publikum erstaunt.¹ Diejenigen, die den Kultur- und Kunsthistoriker kannten, hatten nicht geahnt, dass er Mitte der 1960er diese Artikel für die Stuttgarter Zeitung geschrieben hatte; und wer von Martin Warnke wenig wusste, konnte in einem den Band ergänzenden Gespräch mit Barbara Welzel und Pablo Schneider seine intellektuelle Biographie in Umrissen nachlesen. Meine Neugierde war geweckt. Ich lud ihn zu einer Veranstaltung ins Oldenburger Karl-Jaspers-Haus ein, bei der Martin Warnke Rede und Antwort stand und mir die Chance eröffnete, Genaueres über seine Vorstellung einer Kritischen Kunstgeschichte zu erfahren. Dem schloss sich bald eine Einladung seitens Warnkes zu sich nach Hamburg an, wo er bis zu seiner Emeritierung 2003 am Kunsthistorischen Institut gelehrt und das Warburg-Haus geleitet hatte. Eine private Notiz vom 18. August 2015 hielt meine Eindrücke fest: »Ein historischer Tag, zu Besuch bei Martin Warnke, der mir das Warburg-Haus zeigte und mich nach Hause zum Kaffee einlud. Später sahen wir noch das Archiv der DDR-Kunst, das er für das Kunsthistorische Institut der Universität Hamburg mit den Geldern des Leibniz-Preises erstanden hatte. Am 12. Oktober wird er 78 Jahre alt, sein Arzt teilte ihm vor einiger Zeit mit, er habe […] nur mehr eine Lebensspanne bis zum 80. Geburtstag.«² Wir blieben seitdem in Kontakt, bis Warnke am 11. Dezember 2019 starb. An jenem Tag schrieb mir Horst Bredekamp, sein engster Schüler und Freund: »Mit Warnke ist heute eine Epoche zu Ende gegangen.«³
Die Bücher und Essays Martin Warnkes begann ich erst zu lesen, als wir persönlich ins Gespräch kamen. Zentral waren das berühmte Hauptwerk Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers⁴ sowie die frühen Kommentare zu Rubens,⁵ die sein andauerndes Erkenntnisinteresse an der Kunst der Verhüllung begründeten. Die späteren Studien zu Rubens und Velázquez, die jeweils dem Leben und Werk galten, faszinierten mich in ihrer eleganten Schreibart. Seine kleineren Essays ließen zudem in den ironischen Pointen erkennen, wie sehr es Martin Warnke auf eine kulturphilosophisch grundierte Nachdenklichkeit ankam. Dass diese großartigen Texte, die verstreut über vier Jahrzehnte in großen Tages- und Wochenzeitungen erschienen waren, verdienten, in gesammelter Form ein neues Publikum zu finden, war offensichtlich. Und so brachten wir drei Auswahlbände auf den Weg, die mit autobiographischen Texten und Gesprächen zum intellektuellen Werdegang angereichert waren.⁶
Der vorliegende Band versucht, den Dialog mit Martin Warnke über seine Werke und Essays fortzuführen. Auch der Nachlass, der heute in rund vierzig Bänden im Deutschen Literaturarchiv Marbach betreut wird, konnte mit kleinen Texten, besonders zu den frühen Jahren, genutzt werden. Warnkes gedankliche und stilistische Brillanz legt es nahe, ihn dabei so oft als möglich selbst zu Wort kommen zu lassen. Man kann in seinen Texten einen sokratischen Denker kennenlernen, der geläufige Meinungen skeptisch bedenkt, so dass zuletzt im besten Sinne mehr Fragen bleiben als Antworten. Ein fachgeschichtlicher Zugang würde sicherlich manche Akzente anders setzen und den Politischen Ikonographen stärker ins Licht rücken.⁷ Wie auch immer man Martin Warnke sehen mag: Alle, die ihn kannten, waren gleichermaßen fasziniert von der Aura seiner Persönlichkeit, vielleicht in ähnlicher Weise, wie dies einmal John Steinbeck in seinem Porträt eines befreundeten Biologen sagte, der ihm menschlich, wissenschaftlich und philosophisch nahestand: »Ich bin überzeugt, dass viele Menschen bei der Lektüre dieses Berichts sagen: ›Mensch, das stimmt doch nicht. So war es gar nicht. Er war soundso‹, um dann einen Menschen zu beschreiben, der dem Verfasser dieser Zeilen vollkommen fremd ist. Aber niemand der Ed Ricketts kannte, wird seine Ausstrahlung und seine Wirkung bestreiten.«⁸
II.
Vor rund drei Jahrzehnten machte mich der Kunsthistoriker und Journalist Volker Breidecker mit seinem Essay »Einige Fragmente einer intellektuellen Kollektivbiographie der kulturwissenschaftlichen Emigration« bekannt, einem Porträt Erwin Panofskys im amerikanischen Exil.⁹ Damals nahm ich in der Vielfalt der Namen, die in diesem Porträt zur Sprache kamen, jenen Martin Warnkes nicht genauer wahr. Dabei hatte er selbst schon 1976 in der Zeit an den in Deutschland vergessenen ersten kunsthistorischen Ordinarius in Hamburg erinnert: »Mit Erwin Panofsky war 1933 auch die Elite der deutschen Kunstwissenschaft ins Ausland vertrieben worden, und dieser Exodus hat das Fach moralisch und wissenschaftlich so geschwächt, daß es nach 1945 nicht einmal mehr die Kraft aufbrachte, dem deutschen Publikum wenigstens die Veröffentlichungen oder methodischen Positionen der vertriebenen Kollegen nahezubringen.«¹⁰ Zugleich erinnerte Warnke in diesem Artikel an Aby Warburg als Spiritus rector des kulturwissenschaftlichen Denkens in Hamburg – zu einer Zeit, als kaum jemand dessen Namen noch kannte und das Warburg-Haus, das ehemals seine Forschungsbibliothek enthalten hatte, einer Werbefirma gehörte. Emphatisch bedachte Warnke das aufklärerische Interesse des deutsch-jüdischen Privatgelehrten, Fakten stets mit Blick auf Lebensfragen zu erkunden: »Ein vereinfachendes Urteil unterstellt dem Warburg-Kreis ein naives, positivistisches Interesse an dem Nachleben der Antike. Für Warburg jedoch war die antike Kunst das Arsenal, aus dem sich die Menschheit immer dann Formulierungshilfen suchte, wenn das ›soziale Gedächtnis‹ uralte Traumata, Angst-, Ekstase- oder Glückszustände wiederaufleben ließ.«¹¹
Ernst H. Gombrich, der später die Geschicke der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg im Londoner Exil lenkte, hat mit Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie entlang von Briefen, Tagebucheinträgen und Notizen wichtige Aufschlüsse über die innere Dynamik dieser kunsthistorischen Gründergestalt vermittelt. Die Ausrichtung seiner Studie, die einen stärker fachlichen Blick einnimmt, gilt leicht modifiziert auch für die vorliegende Annäherung an Martin Warnke: »Dieses Buch verfolgt zwei Absichten. Es will den Leser mit den Ideen und der Persönlichkeit eines Gelehrten bekannt machen, der auf die Entwicklung der Kunstgeschichte einen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat – durch seine […] Veröffentlichungen, durch das Institut, das [er neu begründet hat] und durch seine Schüler, zu denen einige der hervorragendsten Gelehrten auf diesem Gebiet gehören. Gleichzeitig will dieses Buch zum ersten Mal eine Übersicht über die vielen unveröffentlichten Schriften, Projekte und Entwürfe vorlegen, die sich zu Warburgs Lebzeiten angesammelt haben und mit deren Hilfe die Gedanken, die seiner Forschung […] zugrunde liegen, erst völlig verständlich werden.«¹²
III.
Als Geburtsstunde der Kritischen Kunstgeschichte gilt der Kölner Fachkongress 1970, auf dem Martin Warnke mit seinem streitbaren Vortrag »Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung« heftige Empörung unter den konservativen Ordinarien hervorrief. Horst Bredekamp, der später in Marburg zu einem der engsten Mitstreiter Martin Warnkes werden sollte, beschrieb für die Süddeutsche Zeitung aus zeitgemäßer Perspektive das Geschehen: »In der bewegtesten Debatte wurde [von M. Warnke] an Hand von Zitaten der Nachweis vollzogen, daß in der Kunstgeschichte faschistisches Gedankengut das gesamte 20. Jahrhundert hindurch bruchlos bis zum Jahr 1970 produziert wurde«.¹³
Aber Martin Warnke war nicht eindeutig einem politischen Lager zuzuordnen. Im gleichen Jahr publizierte er in der liberalen Neuen Rundschau den Essay »Jacob Burckhardt und Karl Marx«. Darin versuchte er, entgegen den progressiven Zuspitzungen der Zeit auf die liberalen Gemeinsamkeiten der späteren Antipoden aufmerksam zu machen. Während die Generation der 1968er geneigt war, sich lautstark einseitigen Fortschrittsideologemen hinzugeben, verteidigte Warnke mit Burckhardts Idee der Kunst die individuelle Nachdenklichkeit. Deren kritischer Spontaneität können die statischen Institutionen aller Art auf Dauer nicht widerstehen, wie er mit einer Passage aus den Weltgeschichtlichen Betrachtungen andeutet: »Allein der Geist ist ein Wühler und arbeitet weiter. Freilich widerstreben diese Lebensformen einer Änderung, aber der Bruch, sei es durch Revolution oder durch allmähliche Verwesung, der Sturz von Moralen oder Religionen, der vermeintliche Untergang, ja Weltuntergang kommt doch.«¹⁴ Der Baseler Kunst- und Kulturhistoriker wurde schon für den jungen Warnke zur skeptischen Leitfigur, vielleicht zuerst ob der verbindenden Loslösung von der religiösen Herkunft, verdichtet in Burckhardts Bekenntnis zum geschichtlichen Wandel: »Gewiß hat der wahre Skeptizismus seine Stellung in einer Welt, wo Anfänge und Ende unbekannt sind und die Mitte in beständiger Bewegung ist; denn die Aufbesserung von seiten der Religion bleibt hier auf sich beruhen.«¹⁵
So gehörte zum unzeitgemäßen Denken Martin Warnkes auch der produktive Widerstand gegen das theologische Erbe des Vaters, der als protestantischer Pfarrer 1936 nach Brasilien entsandt worden war und 1954 mit seiner Familie nach Deutschland zurückkehrte. Gleich Wilhelm Dilthey verfolgte er mit intellektueller Begeisterung, wie die grundlegenden Ideen des christlichen Glaubens seit der Aufklärung säkularisiert wurden und in Philosophie, Literatur und Kunst verändert fortlebten.¹⁶ Insofern erscheint es folgerichtig, dass er sich in dessen Weltanschauungslehre eine Passage doppelt rot anstrich, welche die individuelle Lebensbedeutung von Ideen unabhängig von ihrer disziplinären oder konfessionellen Provenienz hervorhebt: »Ich will beweisen, daß auch die philosophischen Systeme, so gut als die Religionen oder die Kunstwerke, eine Lebens- und Weltansicht enthalten, welche nicht im begrifflichen Denken, sondern in der Lebendigkeit der Personen, welche sie hervorbrachten, gegründet ist.«¹⁷ Die Auseinandersetzung mit den abendländischen Ideen jeglicher Herkunft bedeutete Warnke, um nochmals mit Dilthey zu sprechen, eine »Steigerung des individuellen Lebens«.¹⁸
Vielleicht hat niemand diese lebensphilosophische Perspektive schöner beschrieben als der Kulturphilosoph Erich Auerbach, der als Exilant auch Beziehungen zu Erwin Panofsky und anderen Mitgliedern des Warburg-Kreises unterhielt. Jede biographische Annäherung ist für den deutschjüdischen Romanisten ein Versuch, das begriffliche Werk mit dem praktischen Leben ins Verhältnis zu setzen: »Die jetzt häufig gestellte Forderung, man solle das Werk unabhängig von seinem Autor betrachten, ist nur insofern berechtigt, als sehr oft ein Werk ein besser integriertes, wahreres Bild von seinem Schöpfer gibt als die vielleicht zufälligen und irreführenden Informationen, die wir von seinem Leben besitzen. Eigene Erfahrung, Diskretion und eine auf Grund sehr genauer Kenntnis des Materials erworbene Großzügigkeit sind erforderlich, um Leben und Werk in die richtige Beziehung zu setzen. Jedenfalls aber ist das, was wir an einem Werk verstehen und lieben, das Dasein eines Menschen, eine Möglichkeit von uns selbst.«¹⁹
IV.
Dieses Buch will markante Stationen aus Martin Warnkes intellektuellem Leben sondieren, um derart Denken und Person bei ihm ins Verhältnis zu setzen. Die vierzehn Kapitel suchen, den Menschen inmitten seiner Zeit und Ideenwelt zu verstehen. Sie orientieren sich an seiner eigenen Einstellung. Unbezweifelbare Identitäten als Ziel des kunst- und kulturwissenschaftlichen Denkens blieben dem Kunsthistoriker immer suspekt. Warnke sah, dass abstrakte Positionsbildungen nicht selten auf politisches Kalkül oder moralistische Gesinnungen zurückgingen, ohne dass ihre konkreten Kontexte genügend beachtet würden. Dagegen verstand er sich selbst im Geiste Lessings als geschichtlichen Aufklärer, der leidenschaftlich vor der Gefahr aufgeklärter Sicherheiten warnt und der neue wie alte Orthodoxien kritisch beäugt.
Da sich heute, unter den Bedingungen der weltweiten Vernetzung, ideologisches Denken erfolgreicher denn je zu etablieren scheint, lohnt es, entgegen solch neuer Unfreiheit mit Martin Warnke an die Perspektivität und Pluralität der möglichen Wahrheiten zu erinnern. Die Kunst des Schreibens war ihm dabei ein nobles Mittel. Denn so wie Kunstwerke sich allzu eindeutigen Lesarten entziehen, wenn sie hohe Qualität besitzen, bleiben auch wissenschaftlich fundierte Schriften im besten Sinne vieldeutig, was mögliche Lesarten angeht. Ihr Verständnis setzt ein aufmerksames Publikum voraus, das nicht fixe Mitteilungen, sondern provokative Gedanken erwartet. Da Martin Warnke im historischen Spiegel genau sah, wie außergewöhnliche Positionen nicht selten von Verunglimpfung oder Verfolgung begleitet wurden, schätzte er auch für die eigenen Texte lebenslang die Kunst der Verhüllung und Vermittlung, um nicht direkt dem Urteil herrschender Meinungskartelle ausgesetzt zu sein. Vielleicht war er einer der gelehrigsten Leser von Jacob Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen, in denen es an der für ihn zentralen Stelle heißt: »Vollends aber ist die Kunst eine Verräterin, […] indem ihr eine hohe und unabhängige Eigentümlichkeit innewohnt, vermöge deren sie eigentlich mit Allem auf Erden nur temporäre Bündnisse schließt und auf Kündigung. Und diese Bündnisse sind sehr frei; denn sie läßt sich von der religiösen oder anderen Aufgabe nur anregen, bringt aber das Wesentliche aus geheimnisvollem eigenem Lebensgrunde hervor.«²⁰
Insofern lassen Warnkes Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Positionen immer implizite Vorbehalte erkennen, die feste Standpunkte hinterfragen und bewegliche Überlegungen anbieten. Gerade seine Essays suchen eine Leserschaft, welche die Kunst solch versteckten Schreibens schätzt. Die folgenden Exkursionen in Leben und Werk Martin Warnkes stehen daher unter dem Motto, mit dem Nietzsche seine Vorrede zur Morgenröthe schließt: »Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: […] Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes […]: – sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen … Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! –«²¹
Dois Irmãos —
Eine brasilianische Kindheit
I.
Als Martin Warnke am Kunsthistorischen Seminar in Hamburg seinen sechzigsten Geburtstag beging, eröffnete er seine Rede mit einer historischen Pointe: »Mir wäre lieber, wir feierten heute das 505. Jahr der Entdeckung Amerikas, das Kolumbus am 12. Oktober 1492 sichtete. Diese Koinzidenz hat mir als Kind meinen Geburtstag weggeblendet.«²² Schon sein Vater Kurt Warnke hatte auf diese Überschneidung hingewiesen, als er von Brasilien aus der Familie in Deutschland von der Geburt des ersten Sohnes berichtete: »Unser Martin hat gestern, d. 12. Oktober 1937 abends ½11, die im hellsten Mondschein liegende Welt begrüßt. Wenns auch ein Dienstag war, so darf das Büblein doch unter die Sonntagskinder gerechnet werden, denn wir feiern just den 437. Jahrestag der Entdeckung unseres ruhmreichen Landes.«²³ Der verklärende Ton des protestantischen Pfarrers prägt auch die exotische Schilderung, mit der Martin Warnke seine Gäste erfreuen will: »Pfarrhaus in Brasilien, das heißt wiederum: Ein Haus in praller Sonne, fast fensterlos, dennoch voller Ungeziefer, alles bei brütender Hitze, und trotzdem zu hören, wie ein Bauer dem Pfarrer sagt: ›Sie habens gut, Sie können im Schatten arbeiten‹. Eine besonnte Kindheit also, ohne Hunger, ohne Krieg, ohne Bomben. Ich kann es selbst nicht einschätzen, aber von meinen Altersgenossen in Deutschland hat mich diese besonnte Kindheit immer irgendwie getrennt.«²⁴
Allerdings sah die Realität hinter der Legende wesentlich dürftiger aus. Warnkes jüngerer Bruder Christof beschreibt den Geburtsort nüchtern: »Urwald gab es in der kleinen Siedlung Povoação Coronel Barros, dem vierten Distrikt von Ijui (damals noch ›Ijuhy‹), schon eine ganze Weile nicht mehr, obwohl die Siedlung zur sog. ›neuen Kolonie‹ gehörte und erst seit etwa 20 Jahren bestand. Aber äußerst ärmlich war es da. Die Pfarrstelle war nicht begehrt, weil zu schlecht bezahlt. Martin und ich sind im dortigen Pfarrhaus, einem schlichten Holzhaus, geboren. Ärztlichen Beistand gab es nicht. Eine Frau, Hebamme mag ich sie gar nicht nennen, Vater nennt sie in einem Brief ›Wehmutter‹, leistete Beistand, wobei die Geburt ohne Komplikation rasch überstanden war. Dass diese Geburten gut gingen, ist auch angesichts der hygienischen Umstände geradezu ein Wunder. Die späteren Kinder konnte Mutter alle gut versorgt in Krankenhäusern zur Welt bringen. Martin war drei Jahre alt, als unsre Eltern von der ›neuen Kolonie‹ in die ›alte Kolonie‹ zogen, die bereits seit etwa 100 Jahren bestand. Weder Martin noch ich haben eine eigene Erinnerung an Povoação Coronel Barros, sind auch später nicht wieder dort gewesen.«²⁵
Herbes erfuhr das Hamburger Publikum allein hinsichtlich des sozialen Konflikts, der sich aus dem exponierten Leben der Familie innerhalb einer Minderheitenkirche ergab: »Pfarrhaus in Brasilien heißt aber auch: in einem Bekenntniszustand in der Diaspora gelebt zu haben. Wie tief Konfessionen Menschen trennen können, das konnte man dort noch erleben; und ich denke immer daran, wenn ich es mit Gegenreformation oder Konfessionskriegen zu tun habe. Für den Pfarrerssohn gab es scharf tabuisierte Gegenden und Beziehungen; in der Diaspora wurde man daran gewöhnt, in den Augen anderer als Teilverkörperung des Bösen schlechthin zu gelten.«²⁶
Aber die Familie war