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Was uns Rassismus nimmt
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eBook452 Seiten4 Stunden

Was uns Rassismus nimmt

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Über dieses E-Book

Wir alle lernen Rassismus, ohne uns bewusst dafür entschieden zu haben. Aber wie funktioniert das?
Dieses Buch bietet einen Blick hinter die Stirn unserer Gesellschaft. Neue Forschungsergebnisse, verständlich und spannend aufbereitet, lassen tiefe Einblicke in das Phänomen Rassismus zu.
Sie geben den Blick frei auf ein Gesellschaftsmuster, das uns alle mehr beeinflusst, als wir bisher dachten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum4. Aug. 2022
ISBN9783756254576
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    Buchvorschau

    Was uns Rassismus nimmt - Miriam Rosenlehner

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Teil I Defining Racism - wie eine Idee die Menschheit in den Kriegszustand versetzte

    1 Wie wir Rassismus lernen

    1.1 Rassistisches Wissen als Modelllernen

    1.2 Natürlich Rassist - Populäre Erklärungen für Rassismus und warum sie falsch sind

    1.2.1 Genetisch und entwicklungsgeschichtlich begründeter Rassismus

    1.2.2 Territorial begründeter Rassismus

    1.2.3 Neurowissenschaftlich begründeter Rassismus

    2 Wie der Rassismus in die Welt kam

    2.1 Vor der Aufklärung - Gesellschaftlicher Ausschluss schafft Knappheit

    2.1.1 Die aufgeklärte Krone der Schöpfung

    2.1.2 Cui bono - wem nutzt es?

    2.2 Die Rolle der Wissenschaft

    2.3 Die Verbreitung von rassistischem Gedankengut

    2.3.1 Dreifünftelmensch

    2.3.2 Untermensch

    2.4 Normalität - Warum es bleibt, wie es ist, weil es so ist

    3 Choreografie eines Systems

    3.1 Die Idee der Ungleichwertigkeit und ihre Folgen

    3.2 Gesellschaftlicher Ausschluss spaltet

    3.3 Die Weiße Schallschutzmauer

    3.4 Impact oder Intent? Warum Weiße nichts über Rassismus wissen

    Teil II Into The Deep - Wie Rassismus funktioniert

    4 Wie Menschen mit unerwünschtem Wissen umgehen

    4.1 Kognitive Dissonanz und Rassismus

    4.1.1 Unheilvolles Trio: Dissonanz, Gaslighting und Stockholm Syndrom

    4.1.2 Rassismus als Gaslightingerfahrung

    4.2 Ansehen und angesehen werden

    4.3 Was rassistische Dissonanz für NichtWeiße bedeutet

    4.3.1 Wie soll man über Rassismus sprechen? Über Opfererzählungen

    4.3.2 Wie soll man über Rassismus sprechen? Verschwiegene Wut und die Dosierung von Spott

    4.4 Tiefe Abwehr - Whitecentering und Schuld

    5 Empathie und Ungleichheit: Wie Rassismus sozial unfähig macht

    5.1 Der soziale Mensch: Die Anderen wohnen in deinem Kopf

    5.2 Selektive Psychopathen

    5.2.1 Mind the Gap - Vorsicht Lücke

    5.2.2 Feuer frei - wie weit die Mitfühlstörung reicht

    5.3 Folgen Weißer Empathiestörung: Angst, Orientierungslosigkeit, Fehlentscheidungen

    5.4 Weiße Medizin und nichtWeißer Schmerz

    5.4.1 Woran wir Weiße Empathiearmut erkennen

    5.4.2 Bösartige Mechanismen: Wie Menschen ihr Empathiesystem abschalten

    5.4.3 Anstrengender Nahkontakt: Weiße Abwehr gegen Schwarze Anwesenheit

    Teil III Shaping Your Mind - Was Rassismus für Weiße Mehrheitsgesellschaften bedeutet

    6 Licht auf die Mechanismen der Macht

    6.1 Macht, Berechtigung und Knappheit - Wie uns Rassismus ärmer macht

    6.2 Soziales Kapital und soziale Kreditwürdigkeit

    6.3 Rassismus und Recht

    6.3.1 Rassismus und Grundrechte

    6.3.2 Tatmotiv Rassismus

    6.3.3 Wirkung von sozialer Kreditwürdigkeit auf die Rechtsstellung von Rassismusbetroffenen

    6.4 Deutungshoheit als Herrschaft

    7 Aufklärung 2.0 - Den Übergang in eine postrassistische Gesellschaft gestalten

    7.1 Fallen oder Gestalten - Über den Untergang der Weißen Denkschule

    7.2 Kosten und Chancen im toten Winkel entdecken

    7.2.1 Wie die Aufklärung 2.0 ein entwicklungsfreundliches Klima schafft

    7.2.2 Wie wir durch neue Dialoge unsere Demokratien schützen

    7.2.3 Wie wir eine modernere und wettbewerbsfähigere Gesellschaft bauen

    7.2.4 Wie wir Lücken in unserem Rechtssystem schließen können

    7.2.5 Wie wir lernen, uns mutiger und kooperativer in der Welt zu bewegen

    7.2.6 Wie neue Denkweisen die Weltwirtschaft ankurbeln werden

    7.2.7 Wie ein neues Verständnis vom „Wir" uns zu erfolgreicheren Menschen macht

    Quellen

    Prolog

    Racism shaped us.

    Rassismus beeinflusst unser aller Leben, egal welche Hautfarbe wir haben oder welcher Herkunft wir sind. Dieses Buch geht den Einflüssen nach und beschreibt wesentliche Mechanismen von Rassismus.

    Unsere Gesellschaft, an die wir und unsere Kinder gebunden sind, geht in eine Zukunft, in der wir alle mehr als jemals zuvor voneinander abhängen. Alles, was passiert, wirkt auf alles andere ein. Auf diese Zukunft sind wir schlecht vorbereitet, solange wir die Einflüsse von Rassismus nicht wahrnehmen, nicht verstehen und nicht ändern.

    Vor allem NichtWeiße denken bereits seit Jahrhunderten über Rassismus nach. Sie bekämpfen ungerechte Verhältnisse durch ihre Analysen und streiten darum, ihre Perspektiven in Politik, Kunst, Musik, Philosophie oder den Wissenschaften sicht- und hörbar zu machen. In Deutschland ist diese Arbeit lange wenig beachtet worden. Zeugnisse davon sind zum Teil verschollen, Arbeiten und Analysen nicht verstanden, nicht unterstützt oder nicht veröffentlicht worden. Trotzdem gibt es Vorreiter, auf die man sich beziehen kann und ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre. Bildlich gesprochen wird deshalb jede neue Arbeit von Zwergen getan, die auf den Schultern von Giganten stehen. Die, die vor uns über Rassismus nachgedacht haben, haben die Grundlage geschaffen, auf der neue Gedanken entstehen konnten. Dem, was bereits getan wurde, kann man immer nur eine Kleinigkeit hinzufügen.

    Bevor wir uns also auf die Reise machen, Rassismus und seinen Einfluss auf uns alle besser zu verstehen, darf ich dazu einladen, einer Stimme zuzuhören, die das Thema in Deutschland wie kaum eine andere in den vergangenen 36 Jahren öffentlich gemacht hat. Ich habe mit Tahir Della, heute Pressesprecher der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und jahrzehntelang im Vorstand der Organisation, über seine Sicht auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Gesprächs über Rassismus gesprochen.

    M.R.: Tahir Della, danke, dass du das Projekt „Was uns Rassismus nimmt" mit diesem Gespräch unterstützt. Du arbeitest seit 36 Jahren daran, Menschen für das Thema Rassismus zu sensibilisieren und die Rechte NichtWeißer in den Blick zu nehmen. Wie bist du dazu gekommen, und warum bist du immer noch dabei?

    Della: Der Anlass war, als 1984/85 das Buch „Farbe bekennen" herauskam. Darin haben Schwarze Frauen aus Deutschland zum ersten Mal Lebenswelten von Schwarzen Frauen in Deutschland abgebildet. Und ich bin immer noch dabei, weil, kurz gesagt, der Job noch nicht erledigt ist. Inzwischen erreichen wir schon viel und ich sehe positiv in die Zukunft. Wir werden noch mehr erreichen. Das zeigt mir, dass es sich lohnt, weiterzumachen.

    M.R.: Du wurdest zu dem Thema von allen großen Medienformaten in Deutschland interviewt: Für den Stern hast du den Begriff „Schwarzfahrer" eingeordnet, dem Deutschlandfunk hast du die Linien aus der Kolonialzeit zum heutigen Rassismus erklärt, ich habe Interviews mit der Süddeutschen, der deutschen Welle, dem WDR, der ARD gefunden. Der Africancourier nennt dich den Sprecher der Schwarzen Gesellschaft in Deutschland. Als die UN Racial Profiling in Deutschland untersuchte, wurdest du dazu von der DPA befragt. Wenn es um Rassismus geht, wirst du angerufen.Wie viele Interviews hast du in den vergangenen 36 Jahren gegeben?

    Della: Ich stelle fest, ich habe keine Ahnung. Wenn ich hochrechne, würde ich sagen, so vier- bis fünfhundert Interviews. Die Medienaufmerksamkeit für die Themen Rassismus und Kolonialgeschichte nimmt ja erst in den letzten 10 bis 15 Jahren zu. 2020 nach dem Mord an George Floyd haben uns die Medien das Büro in Berlin förmlich eingerannt und allein in diesem Jahr waren es wohl über 100 Interviews.

    M.R.: Rassismus gibt es in allen Weißen Mehrheitsgesellschaften. Erkennst du einen Unterschied zwischen verschiedenen Gesellschaften? Ich will verstehen, ist der Rassismus deiner Meinung nach in Großbritannien, USA und Deutschland derselbe oder gibt es wesentliche Unterschiede?

    Della: Weiße Mehrheitsgesellschaften, also Gesellschaften, die von Weißen Menschen dominiert werden, sind global gesehen in der Position, in der sie jetzt sind, aufgrund von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Rassismus ist Teil dieser Machtverhältnisse. Das Selbstverständnis von Weißen Gesellschaften ist stark davon geprägt, dass sie immer noch in Konzepten wie Rasse denken. Immer noch werden bestimmte gesellschaftliche Gruppen innerhalb und außerhalb dieser Weißen Mehrheitsgesellschaften schlechter behandelt, diskriminiert und ausgegrenzt. Wir sehen ja, gerade vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, dass wir anscheinend leichter Menschen aus der Ukraine hier in Deutschland aufnehmen können, als Menschen aus Afghanistan, Syrien oder Irak. Das macht schon deutlich, dass wir mit rassistischen Konzepten arbeiten.

    Die Gesellschaften, die du genannt hast, unterscheiden sich natürlich maßgeblich voneinander. Trotzdem sind die rassistischen Vorbehalte, das Eingeschriebene an rassistischem Gedankengut, sehr ähnlich: Die Bilder sind ähnlich, die sich diese Weißen Gesellschaften von Schwarzen Menschen machen, die Auslegungen sind ähnlich und auch die Ergebnisse dieser Praxis sind oft identisch. Im schlimmsten Fall sterben Menschen durch Rassismus.

    M.R.: Wenn du die Dauer deiner Arbeit zum Thema überblickst, welche wesentlichen Änderungen gab es im gesellschaftlichen Gespräch über Rassismus in deiner bisherigen aktiven Zeit? Gibt es so etwas wie Wendepunkte oder eine stetige Entwicklung?

    Della: Ich würde sagen Letzteres. Ich denke, wir haben immer noch ein sehr verengtes Verständnis von Rassismus, zum Beispiel, dass Rassismus nur stattfindet, wenn Menschen eine Intention haben, also ganz bewusst rassistisch handeln wollen. Wir wollen Rassismus auch immer noch ausschließlich in der politisch rechten Ecke verorten. Bei der Frage „wann sprechen wir von Rassismus?" haben wir deshalb immer noch einen Weg zu gehen. Es ist ein Prozess, der andauert, und er führt immer noch dazu, dass Rassismus sozusagen missverständlich eingeordnet wird.

    May Ayim hat mit dem Buch „Farbe bekennen" in den 1980er Jahren an ihrer Universität eine Arbeit zum Thema Rassismus und Kolonialgeschichte in Deutschland vorgelegt. Eigentlich war sie als Abschlussarbeit für ihr Studium gedacht. Ihr Professor sagte ihr damals: Rassismus in Deutschland ist kein Thema. Es gibt keinen Rassismus in Deutschland, und wenn, dann höchstens vereinzelt. Ihre Arbeit wurde nicht als Abschlussarbeit angenommen. Ich denke, das würde heute kein Doktorvater mehr sagen. Das wird auch nicht mehr so gesehen. Es ist also erkennbar, dass sich etwas verändert.

    Die Entwicklung ist mittlerweile sichtbarer. Die Reaktionen auf die Mordanschläge in Hanau haben das gezeigt. Zum ersten Mal wurde in den Medien von „rassistischen Anschlägen gesprochen. Zu der Zeit, als wir angefangen haben, hat man von „fremdenfeindlichen Angriffen gesprochen. Ich denke, das zeigt, dass wir als Gesellschaft jetzt schon weiter sind, Rassismus zu erkennen. Und ihn nicht nur dann zu erkennen, wenn sich Leute selbst dazu bekennen. Es wird klarer, dass Rassismus aus der Perspektive derjenigen beschrieben werden muss, die Rassismus erfahren.

    Jetzt wird auch danach gefragt, wie negativ Betroffene Angriffe und Ausgrenzung einordnen, oder Bilder in den Medien oder der Schule. Aber ich denke, der Prozess ist noch nicht abgeschlossen, wir sind noch dabei, klarer zu definieren und Erkenntnis zu gewinnen. Ich denke, erst wenn wir Rassismus umfänglich beschrieben haben, sind wir in der Lage, ihn wirkungsvoll zu bekämpfen.

    M.R.: Tahir, in meinem Buch stelle ich die These auf, dass wir Rassismus in den Köpfen der Menschen in zwei Generationen überwinden können. Für wie steil hältst du diese These? Denkst du, dass es möglich ist?

    Della: (lacht) Das ist eine sehr optimistische These. Ich denke, wir müssen uns vor Augen halten, dass wir es mit einem Machtsystem zu tun haben, das in den letzten 500 Jahren entwickelt worden ist. Sehr viele Menschen profitieren immer noch davon. Ich kann mich da selbst nicht einmal ausnehmen. Das Verhältnis des globalen Südens und Nordens ist immer noch geprägt von diesen Machtverhältnissen und die Menschen im globalen Norden profitieren davon. In der Hinsicht glaube ich nicht, dass das in zwei Generationen abzubauen sein wird. Was aber stimmt, dass in einer relativ kurzen Zeit im Verhältnis zu diesen 500 Jahren doch schon eine Menge passiert ist. Die Wirksamkeiten werden mehr erkannt, es wird gesehen, wie die Verhältnisse die Gesellschaften durchdrungen haben. Es gibt ein wachsendes Potenzial an Menschen, ich spreche da konkret von Weißen Menschen, die sagen, wir wollen diese rassistischen Verhältnisse verändern. Das haben wir nach dem Mord an George Floyd gesehen, wo ja zum ersten Mal in Deutschland großangelegte Kundgebungen stattgefunden haben.

    Man könnte sich jetzt zwar gleichzeitig fragen, wieso gehen die Leute eigentlich nicht wegen Oury Jalloh auf die Straße oder nach der Mordserie des NSU. Wir tun uns schon noch leicht, Rassismus in den USA zu verorten und ernst zu nehmen, aber nicht hier. Trotzdem gibt es ein wachsendes Potenzial an Menschen, die das jetzt nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch als Anlass, sich zu engagieren.

    Das heißt für mich schon, dass es sich zumindest anbahnt, dass sich diese Verhältnisse auflösen lassen. Ob das in zwei Generationen passiert, davon müssen wir uns überraschen lassen. Ich vermute allerdings, dass es länger dauern wird.

    M.R.: Die Rassismusforschung konzentriert sich in den letzten Jahren viel auf die Vorteile, die Privilegien, die Weiße Menschen aus Rassismus ziehen. In meinem Buch habe ich stattdessen die Nachteile untersucht, die die Gesamtgesellschaft durch Rassismus hat. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie enorm sind. Es ist also im Interesse der Weißen Bevölkerung, ihre Vorurteile abzubauen. Siehst du auch Vorteile für die Mehrheitsgesellschaft, wenn Sie rassistische Denkmuster überwindet?

    Della: Ich bin der Auffassung, dass Änderungen im Interesse aller sind. Wenn wir eine demokratisch verfasste Gesellschaft frei von Diskriminierung und auf der Basis von Menschenrechten wollen, dann ist es im Interesse aller, das zu verwirklichen. Dann müssen wir das Werkzeug entwickeln, Ausgrenzung und Benachteiligung zu erkennen. Wer selbst nicht Ziel von Ausgrenzung werden will, ist in der Verantwortung, dafür einzutreten. Davon haben wir alle etwas. Für mich als Schwarzer Mann, der sich gegen Rassismus engagiert, ist es auch in meinem Interesse, Diskriminierung gegenüber Frauen, gegenüber Sinti und Roma, gegenüber Jüdinnen und Juden und gegenüber Menschen mit Behinderung nicht zu dulden und genauso zu adressieren wie antiSchwarzen Rassismus. Es gibt viele Gruppen in der Gesellschaft, die aufgrund verschiedener Zuschreibungen benachteiligt sind. Wir müssen das Phänomen insgesamt ernstnehmen und nicht nur von „Betroffenen" reden, denn betroffen sind wir letztlich alle. Nämlich von einer Gesellschaft, die, mal ganz geschärft ausgedrückt, auf unmenschlichen Konzepten beruht.

    M.R.: Wie sieht für dich eine Gesellschaft nach der Überwindung des Rassismus aus? Was wäre für dich das Signal, dich zurückzulehnen und zu sagen: Wir sind fertig. Meine Arbeit wird nicht mehr gebraucht.

    Della: (lacht) Ich glaube, dass die Gesellschaft an dieser Stelle nicht komplett frei wäre von Rassismus. Aber ich glaube, dass sie so aussehen könnte, dass diese Gesellschaft sofort und umfassend reagiert, wenn es zu rassistischen oder anderen Diskriminierungsformen kommt. Sie müsste dann alle Strukturen und Institutionen im Blick haben, alle Wirksamkeiten in diesen Strukturen, anstatt zu versuchen, Veränderungen zu vermeiden. Bisher wird zu oft zuerst erklärt, warum ein rassistischer Vorfall „nicht schlimm" oder ein Einzelfall war. In einer Gesellschaft nach dem Rassismus würde dagegen sofort gehandelt. Ich glaube, so müsste eine Gesellschaft aussehen. Ausgrenzungsmechanismen wird es wahrscheinlich immer geben, weil wir Menschen aufgrund von Vorurteilen einordnen, ihnen Eigenschaften zuschreiben, die dann zu Diskriminierung führen. Ich denke, dass wir diese Prozesse im Moment einfach noch nicht umfassend genug beantworten. Sie finden statt und erst dann, wenn es mehrfach und mit Nachdruck adressiert wird, fangen wir an, darüber nachzudenken. Ich denke, es würde helfen, wenn sich möglichst alle in der Verantwortung fühlen, sich dem entgegenzustellen, anstatt zu erklären, warum das jetzt eigentlich nicht ganz so schlimm ist für die direkt Betroffenen.

    M.R.: Tahir Della, danke für dieses Gespräch.

    Disclaimer:

    Einige Schreibweisen im Buch versuchen zu berücksichtigen, dass hier bei der Benennung von Hautfarbe über die damit verbundene sozialen Erfahrung geschrieben wird, nicht über Farbe an sich. Um das zu zeigen, sind die Adjektive „Schwarz und „Weiß großgeschrieben. Ich verwende häufig den Begriff „nichtWeiß", weil ich ihn für passender halte, um die Gruppe der Zielpersonen von Rassismus zu beschreiben. Für manche Lesende werden sich die Benennungen nicht richtig anfühlen.

    Über Gleichstellung in einer Welt zu sprechen, die sie nicht vollständig verwirklicht, ist immer unordentlich. Gesellschaftliche Verhältnisse sind tief in unsere Sprache eingegraben. Über diese Verhältnisse zu sprechen, bringt einen in die Lage, diskriminierende Denkmuster mit einer Sprache beschreiben und kritisieren zu müssen, die selbst durch diese Muster geschaffen wurde.

    Teil I

    Defining Racism

    Wie eine Idee

    die Menschheit in den

    Kriegszustand versetzt

    1 Wie wir Rassismus lernen

    Die meisten Menschen wollen es nicht, aber trotzdem geben sie „rassistisches Wissen" an ihre Kinder weiter. Die vergangenen Jahrhunderte haben ihre Spuren in unseren Köpfen hinterlassen.

    Aber wie geht das? Wir sind gewohnt, uns nicht für Rassisten zu halten. Wir erziehen unsere Kinder in gutem Glauben. Wir sagen ihnen sogar, dass Rassismus verachtenswert ist.

    Unser guter Wille reicht leider nicht. Denn Rassismus ist nicht das, was die Mehrheit glaubt. Die meisten Menschen denken, Rassismus sei aktiver, bewusster Hass. Aber gewalttätige Angriffe, Springerstiefel und kahlgeschorene Jugendliche, die den Hitlergruß zeigen, sind nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs. Offene Gewalt ist plakativer Teil des Phänomens, was wir aber übersehen ist so viel größer und durchzieht unsere Gesellschaftsstrukturen und unsere tägliche Wahrnehmung wie eine Tiefenströmung den Ozean: Unter der Oberfläche, dem bloßen Auge verborgen, aber gnadenlos wirkungsvoll.

    Die Ablehnung rassistischer Gewalt bedeutet nicht, dass wir keinen Rassismus ausüben. Wir haben unbedarft ein hässliches Erbe angenommen. Es steht wie eine noch nicht ausgepackte Kiste aus dem Nachlass unserer Vorfahren im Keller unserer Wahrnehmung. Es ist da, es gehört uns, aber wir wissen nicht genau, was drin ist.

    Die Forschung geht davon aus, dass es keine bewusste Entscheidung ist, Rassist zu sein. Vielmehr ist Rassismus ein Verhalten, das wir sehr früh lernen. Es fällt uns schwer, das zu erkennen, trotzdem ist vermutlich jeder Mensch bereits damit in Berührung gekommen. Es ist normal, darüber besonders als Weiße Person nichts oder wenig zu wissen. Das Problem ist der Lernweg, auf dem wir Rassismus lernen. Wer versteht, wie wir lernen, versteht auch, warum wir darüber so wenig wissen.

    Lernen bedeutet im landläufigen Verständnis, sich Kenntnisse bewusst und mit Arbeit anzueignen: Wir lernen zuerst die Regeln und dann wenden wir sie an. Das ist so, wenn wir Vokabeln üben und sie anschließend nach den Regeln der Grammatik in einen sinnvollen Satz sortieren. Das ist auch so, wenn wir uns die Regeln der Addition aneignen und diese Fähigkeit anschließend beim Bezahlen verwenden. Wenn Lernen nur so funktionierte, wäre es in der Tat eine unverfrorene Behauptung, dass wir alle rassistisches Wissen gelernt haben und es anwenden, ohne dies bewusst wahrzunehmen.

    Aber gerade bei den ersten Dingen, die ein Mensch erfährt, funktioniert Lernen anders. Wenn wir lernen, uns in unserer sozialen Umgebung zu bewegen, erfahren wir, wie man sich in Gesellschaft verhält. Wir lernen, wie man soziale Situationen einordnet, welche Hierarchie besteht, wann man sie akzeptieren muss und wann nicht, welche Machtsituationen eine Rolle spielen, was man tut und was man nicht tut, Konventionen über Kleidung, Verhalten und vieles mehr. Wir lernen, dass das Sozialgefüge, in dem wir uns bewegen, uns sanktioniert, wenn wir uns nicht so verhalten, wie es sich gehört. Wir lernen, dennoch unseren Teil zu bekommen und dabei die Regeln einzuhalten.

    Beim sozialen Lernen benutzen wir einen anderen Lernweg als bei Vokabeln. An diese Lernsituationen erinnern wir uns später nicht mehr, aber wir verwenden das Gelernte ganz selbstverständlich. Wer erinnert sich daran, wie er lernte, dass und welchen Einfluss sein Lächeln auf die Menschen hat? Wer weiß noch, wann er verstanden hat, dass er besser Papa nach den Süßigkeiten fragen sollte, statt Mama, weil Papa das eher erlaubt?

    In sozialen Situationen lernen wir nicht zuerst die Regel und dann, wie man sie anwendet. Es ist umgekehrt. Besonders als Kind leitet man die Regeln der Welt aus Erlebnissen ab. Die Bedeutung des Erlebten erkennen wir daran, wie die Menschen um uns darauf reagieren. Wie Menschen sozial lernen, haben Psychologen in den 1960er-Jahren untersucht. Sie nannten es „Lernen am Modell".

    An der Universität Stanford führten Bandura und Walters damals Versuche mit der „Bobo Doll" durch¹, die bis heute berühmt sind. Der Versuch ist sehr aufschlussreich, wenn wir uns anschließend damit befassen, wie und was wir in unserer Kindheit über Rassismus lernen. Die beiden Psychologen zeigten Kindern zwischen drei und sechs Jahren einen Film, in dem „Rocky, ein Erwachsener, die Puppe „Bobo beschimpfte und schlug.

    Die Kinder, die an dem Versuch teilnahmen, waren in drei Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe sah denselben Film, aber jeweils mit einem anderen Ende. Die erste Gruppe sah, dass Rocky für sein brutales Verhalten bestraft wurde, während die zweite Gruppe am Ende erlebte, dass Rocky für sein Verhalten gelobt wurde. Der Film der dritten Gruppe endete ohne sichtbare Konsequenzen für Rocky. Sein Verhalten wurde von seiner Umwelt also nicht bewertet.

    Was die Versuche berühmt machte, war die Reaktion der Kinder auf den Film. Sie durften im Anschluss daran in ein Spielzimmer, in dem die Plastikpuppe Bobo und weitere Spielzeuge auf die Kinder warteten.

    Die meisten Kinder, die gesehen hatten, wie Rocky für seine Grausamkeiten belohnt worden war, ahmten sein Verhalten nach. Sie verwendeten dieselben Beschimpfungen und benutzten dieselben Werkzeuge, die sie im Film bei Rocky gesehen hatten. Aber sie veränderten ihr Verhalten auch. Die Kinder interpretierten, was sie gesehen hatten: Zum Beispiel nahmen sie eine Spielzeugpistole, um damit auf Bobo zu zielen und abzudrücken. Im Film war die Pistole nicht vorgekommen. In den Gesichtern der Kleinen war kein Mitgefühl zu lesen ist, dagegen öfter Freude. Auch die Kinder, die weder Lob noch Strafe gesehen hatten, traten, schlugen und beschimpften die Puppe.

    Nur durch das Ansehen des Films hatten die Kleinen gelernt, dass man Bobo brutal behandelte. Es hatte dabei keinen Unterschied gemacht, ob sie Belohnung gesehen hatten oder keine Reaktion ihrer Umwelt auf das Verhalten.

    Kinder, die gesehen hatten, wie Rocky bestraft wurde, imitierten das aggressive Verhalten dagegen wesentlich seltener. Sie hatten durch das Sehen der Strafe verstanden, dass die Erwachsenen die brutale Behandlung von Bobo für falsch hielten.

    In einer anderen Versuchsvariante wurde den kleinen Teilnehmern eine Belohnung dafür angeboten, wenn sie möglichst viele Einzelheiten des Films nachspielen konnten. Nun ahmten alle Kinder die Gewalt nach. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Kinder im Film Belohnung oder Strafe gesehen hatten. Die Psychologen bewiesen so, dass alle Kinder das Verhalten gelernt hatten, ganz gleich, ob sie es für sozial erwünscht (Belohnung) oder sozial unerwünscht (Strafe) hielten.

    Aber warum verhielten sich Kinder, die die Strafe gesehen hatten, weniger aggressiv? Die Psychologie erklärt, dass das gelernte Verhalten zwar gelernt wurde, durch das Sehen der Strafe aber gehemmt wird. Der Nachwuchs lernte, sich nicht so zu verhalten wie Rocky. Trotzdem, gelernt ist gelernt: Bobo kann man brutal behandeln. Allerdings macht man das nicht.

    In einer weiteren Versuchsvariante sahen die Kleinen Rocky mit der Puppe Bobo spielen, ohne dabei Gewalt anzuwenden. Als sie später im Zimmer auf den echten Bobo trafen, spielten sie mit ihm und verhielten sich dabei nicht aggressiv. Zum Spielen wählten sie auch keine Pistolen oder Hämmer aus. Sie hatten gesehen, dass man mit Bobo spielen kann, und das taten sie anschließend auch.

    Das Ergebnis der Versuche war für viele erschreckend, sagte es doch, dass man Kindern sehr einfach aggressives Verhalten beibringen kann. Selbst als in der Versuchsgruppe mit dem Belohnungsszenario die Puppe Bobo durch einen echten Menschen ersetzt wurde, handelten die Kinder immer noch genauso. Sie schlugen, traten, beschimpften und bedrohten den menschlichen Clown genau, wie sie es im Film gesehen hatten.

    Die berühmten Versuche zeigen, dass Menschen soziale Lerner sind. Wir lernen, was wir erleben und wir bewerten das Erlebte genauso wie unsere Umgebung. War es richtig, Bobo so zu behandeln? An Lob und Strafe konnten die Kinder erkennen, wie die Erwachsenen das Verhalten bewerteten. In den Versuchen fragten sich die Kinder nicht, ob es richtig war, Bobo zu schlagen. Sie bewerteten ihre Handlungen nicht selbst. Sie machten nach, was ihnen gezeigt worden war und wendeten den moralischen Kompass an, der ihnen vorgelebt wurde.

    Dazu passt auch, dass die Kinder, die Strafe für das aggressive Verhalten gesehen hatten, die also davon ausgehen mussten, dass das gelernte Verhalten unerwünscht war, Bobo besonders aggressiv behandelten, nachdem sie dazu aufgefordert und ihnen eine Belohnung dafür versprochen worden war. Diese Kinder, die zuerst Strafe für das gelernte Verhalten gesehen hatten und anschließend dafür belohnt wurden, zeigten die größere Gewaltbereitschaft.

    Das Ergebnis ist besonders interessant, weil man daraus schließen könnte, dass gelerntes Verhalten wiederholt werden will. Strafe scheint das Gelernte teilweise zu unterdrücken. Der Drang zum Ausleben wächst dabei aber eher, als dass er schrumpft.

    Wie wir aus Erlebtem Erlerntes anschließend anwenden, hängt davon ab, welche Bewertung oder Einordnung wir von der Gesellschaft um uns herum erfahren. Wenn wir sehen, dass das Gelernte bestraft wird, verstehen wir, dass es das Verhalten gibt und dass dieses Verhalten sozial unerwünscht ist. Erleben wir eine Belohnung, lernen wir, dass das Verhalten sozial erwünscht ist. Sehen wir kein aggressives Verhalten, lernen wir das Verhalten erst gar nicht für die Situation.

    Wenn wir sozial lernen, lernen wir also nicht bewusst. Wir leiten stattdessen Regeln aus dem gelernten Verhalten ab. Die Regel für die Behandlung der Puppe Bobo lautet, je nachdem, welches Ende der Film hatte:

    Bobo brutal zu behandeln ist richtig (sozial akzeptiert).

    Verletze Bobo. Das Werkzeug muss die Anforderungen erfüllen, um Verletzung und Erniedrigung hervorrufen zu können.

    Im Versuch, in dem die Kinder nur eine friedliche Spielszene sahen, lautete die Regel:

    Mit Bobo kann man spielen.

    Du befindest dich in einem sozialen Kontext, in dem gespielt wird.

    Die Frage nach Gewalt im Spiel kam gar nicht erst auf².

    Die Versuche zeigen, wie groß der Spielraum ist, den wir beim sozialen Lernen haben. Die Kinder im Experiment lernten die Regel, dass man gegen Bobo Gewalt einsetzt. Sie verstanden sofort, dass es dabei egal war, welches Mittel man dazu benutzte. Denn die Kleinen verwendeten nicht immer dieselben Waffen wie Rocky. Rocky schlug Bobo mit einem Knüppel. Er beschimpfte Bobo. Aber die Kinder, die sein Verhalten nachahmten, benutzten ein Werkzeug, das im Film gar nicht vorkam. Sie setzten die Spielzeugpistole ein und sie verwendeten andere Schimpfworte. Sie ahmten nicht einfach nach. Sie interpretierten, was sie gesehen hatten. Das zeigt, dass sie eine Regel gelernt hatten, die sie dann anwendeten. Die Regel lautete: Sei brutal zu Bobo.

    Was wir sozial lernen, hängt davon ab, wie wir interpretieren, was wir erlebt haben. Es hängt davon ab, welche Regel wir davon ableiten. Niemand fragte die kleinen Probanden, wie die Regel lautete, die sie im Bobo-Film lernten. Vermutlich wäre es ihnen schwergefallen, die gelernte Regel in Worte zu fassen. Es verwundert deshalb nicht, dass wir so häufig Verhaltensweisen lernen, deren Regeln wir nicht sofort in Worte fassen können.

    Beim sozialen

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