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Das Kunstwerk: Harzkrimi
Das Kunstwerk: Harzkrimi
Das Kunstwerk: Harzkrimi
eBook388 Seiten

Das Kunstwerk: Harzkrimi

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Über dieses E-Book

Eisiger Frühling im Harz. Ein Bildhauer reicht eine Skulptur zu einem Kunstwettbewerb ein. Als zufällig die Gipshülle des Objektes beschädigt wird, erscheint unter dem eigentlichen Kunstwerk eine Frauenleiche. Doch das ist nicht das einzige Opfer. Wer auch immer die Menschen getötet hat, möchte, dass die Leichen gefunden werden. Die Kommissarin Greta Weinstein entdeckt schließlich die Verbindung zwischen den Fällen. Dabei erhält sie Unterstützung von ihrer Mutter, der Kriminalpsychologin Hannah, die sich mit dem Tod eines ehemaligen Freundes in ihrem Heimatort befasst.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Juni 2022
ISBN9783969010358
Das Kunstwerk: Harzkrimi

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    Buchvorschau

    Das Kunstwerk - Nete Seewald

    Nete Seewald

    Das Kunstwerk

    Harzkrimi

    »Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.«

    Johann Wolfgang von Goethe

    Impressum

    Das Kunstwerk

    ISBN 978-3-96901-035-8

    ePub Edition

    V1.0 (06/2021)

    © 2022 by Nete Seewald

    Abbildungsnachweise:

    Umschlag © stillfx (#26749991) | amedeoemaja (#32202187) |

    bangkokclickstudio (#220198162) | depositphotos.com

    Lektorat:

    Sascha Exner

    Verlag:

    EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

    Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

    Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

    Web: harzkrimis.de · E-Mail: mail@harzkrimis.de

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Bei den Schauplätzen dieses Romans handelt es sich bis auf einige wenige Ausnahmen um reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

    Inhalt

    Titelseite

    Zitat

    Impressum

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Über die Autorin

    Eine kleine Bitte

    Kapitel 1

    Wieder zanken sie sich. Die Frau namens Lisa Kleinschmidt will sich nicht bei ihm entschuldigen, ihn unter keinen Umständen anflehen und um Vergebung bitten, was er nach jedem Streit verlangt. Diesmal weigert sie sich und ist uneinsichtig. Sie ändert ihre Taktik. Wiederum soll sie den Mund halten, sie sträubt sich und lacht ihn aus, lauter und lauter. Er hält sich die Ohren zu, will es nicht hören, aber Lisa Kleinschmidt lässt sich keinesfalls davon abhalten.

    »Wie die Weiber auf dem Fischmarkt!«, schreit er herum, holt aus und schlägt ihr ins Gesicht. Die Frau taumelt, will sich an einem Stuhl festhalten, der jedoch wegrutscht. Sie fällt. Für kurze Zeit verliert sie das Bewusstsein. Er zieht einen Strick aus der Hosentasche und fesselt sie an den Hand- und Fußgelenken. Noch immer liegt sie benommen auf dem Boden und registriert nicht, was er mit ihr anstellt.

    In der Zwischenzeit sucht er nach etwas, mit dem er ihr den Mund stopfen und die Augen verbinden kann. Er kann sich in dem alten Kasten, der einst ein Nobelhotel beherbergte, nicht richtig umsehen. Schließlich muss es schnell gehen, er hat nicht lange Zeit. Sie kann jeden Moment wieder aufwachen und schreien, denkt er. »Ich muss sie bestrafen«, spricht er halblaut zu sich selber und macht sich Mut. »Sie widerspricht mir, sie ist nicht erzogen. So etwas tut man nicht.«

    Endlich findet er, was er gesucht hat, und beendet sein Vorhaben. Der Mann schleift sie die Treppe hinunter und zerrt sie durch den Keller in ein Verlies. Lisa Kleinschmidt registriert nach einiger Zeit die Dunkelheit um sich herum. Sie versucht, sich zu bewegen. Nichts. Sie atmet schwer durch die Nase. Er zerrt an ihr herum und sie merkt, wie ihr schließlich Handschellen angelegt werden. Noch weiß sie nicht, was er mit ihr vorhat. Sie denkt, er hat sich irgendein blödes Spiel ausgedacht. Doch die Zeit vergeht. Den Wechsel zwischen Tag und Nacht registriert sie nicht mehr. In unregelmäßigen Abständen kommt er vorbei, redet aber nicht mit ihr. Sie hört es nur klappern und scharren. Aber dann ist da wieder diese Stille, die sie über den Tod nachdenken lässt. Nein, sie will nicht sterben! Das ist sicher nur ein böser Traum. So oft sie es versucht, sie kann dem nicht entkommen. Inzwischen ahnt sie, dass sie das Loch nie mehr verlassen wird.

    »Der Tag ist gekommen!«, sagt er, als er sie eines Tages erneut besucht. »Du wirst verstehen, dass ich dein Verhalten nicht dulden kann! Du hast die Grenze überschritten, ich muss dich bestrafen. Ich muss es tun«, zischt er. »Niemand darf mich derart demütigen. Nein, niemals.«

    Während er leise ein Lied trällert, greift er in eine Kiste, die unter einem Felsen steht, und holt eine staubige Flasche heraus. Glücklicherweise besorgte ihm das Zeug ein Kumpel, woran der sich aber bestimmt nicht mehr erinnert. Viel zu lang liegt es zurück. Der Mann lächelt. All die Jahre bewahrte er die Chemikalie für diesen Anlass auf, bis auf eine kleine Menge für die Katzen, die er genommen hatte. Er tränkt einen Lappen mit der Flüssigkeit und geht zu ihr hinüber.

    »Gleich wirst du ganz ruhig schlafen«, flüstert er ihr ins Ohr.

    Tränen laufen über ihre Wangen, undefinierbare Laute sprudeln aus ihr heraus, die er nicht weiter beachtet. Er hält ihr den Lappen vor die Nase. Sie wendet alle Kraft auf, versucht, nicht zu atmen, schlägt den Kopf hin und her. Sie will das Zeug nicht riechen. Ihr Herz pocht, es rast. Ihr Körper zittert heftig. Panik überfällt sie. Ihr ist schwindelig, doch sie kann den Zug nicht anhalten. Sie hat Todesangst, will nicht sterben. Wenige Sekunden später bekommt sie nichts mehr mit.

    Gut gemacht, denkt sich der Mann und lächelt zufrieden. Endlich legt sich seine Nervosität. Ihm darf nur kein Fehler unterlaufen, hier, wo alles improvisiert ist. Schnell greift er zum Buch und liest nach. Er denkt daran, wie er schon als Kind es unzählige Male an Katzen ausprobierte.

    Sein Arbeitsplatz ist ordentlich vorbereitet und er kann sofort beginnen. Endlich ist er so weit, nimmt vorsichtig von ihrem Körper die Fesseln ab und legt ihn auf den Tisch. Er bewundert ihre zarte Erscheinung, streicht mit der flachen Hand darüber, auch über ihre feuerroten Haare. Fast kommt er wieder ins Schwärmen. Er muss sich beeilen. Die Haut darf nicht wegreißen, sonst ist es nicht professionell, daran muss er denken. Schließlich soll es fachmännisch aussehen. Er will ja ein Meister sein. Der Meister!

    Natürlich weiß er, dass er niemanden umbringen darf. Schon im Religionsunterricht sprachen sie über das 5. Gebot: Du sollst nicht töten. Aber sie verdiente eine Bestrafung! Er konnte es nicht durchgehen lassen.

    Präzise setzt er das Messer an ihrer Kehle an und schneidet in Richtung Bauchnabel. »Die Nachwelt wird es mir danken. Ich bin kein schlechter Mensch. Meine Seele ist nicht böse. Ich will ja auch, dass ihr Körper nie vergeht, sondern für die Ewigkeit erhalten bleibt. So schön, wie er ist!«, redet er zu sich selbst. Das ist doch gut gedacht von mir, überlegt er im Nachhinein. Er holt tief Luft und schneidet vorsichtig weiter.

    Der Morgen naht. Aber hier fühlt er sich sicher. Er weiß, dass er hier unauffindbar ist und niemand ihn stören wird. Sechs Wochen Trocknungszeit! Die muss er einhalten. Der Mann ist stolz auf sich. Ja, mit Recht!

    Sie ist für ihn ein Schmetterling, so schön anzusehen, so zierlich ihr Körper, so zart ihre Haut und so glänzend ihre Haare. Anfangs hörte sie ihm noch zu. Und genau so jemanden braucht er.

    Er wird wieder Ausschau halten. Bald.

    Lisa Kleinschmidt merkt das alles nicht mehr. Auch nicht, wie der Mann ihren Körper aushöhlt und den Schädel rasiert, damit er ihn besser auftrennen kann. Sie weiß nicht, dass er ihre Augen als Trophäe behält und die Weichteile, wie Muskeln, Organe und Gehirn, durch den Fleischwolf drehen wird.

    Heute ist endlich der Tag, an dem der Mann sein Kunstwerk vollenden will. Die letzte Beziehung zu Lisa Kleinschmidt liegt bereits einige Wochen zurück. Und er bildete sich mal ein, beziehungsunfähig zu sein. Da hat er sich doch grundlegend getäuscht. Die Frau ist schuld, zeigte keine Toleranz ihm gegenüber, wusste nicht, was sich gehörte.

    Ihr getrockneter Hohlkörper beeindruckt ihn nicht mehr sonderlich. Oft genug hatte er schon als Jugendlicher das Fell der Katzen abgezogen und sich anschließend genüsslich ihren nackten Körper betrachtet. So ähnlich sieht die Frau jetzt auch aus, nur wesentlich größer eben. Aber auch das ist nun nichts Unbekanntes für ihn.

    Inzwischen öffnet er den Sack Hobelspäne, die er zum Befüllen nimmt. Die Menschen sind so dumm! Die glauben ihm immer alles. Auch, dass er das Holz für seine Meerschweinchenzucht braucht. Mit jedem Handgriff wird er ruhiger. Sein Herz schlägt wieder normal. Und dann die vielen Gipsbinden! Wieder fühlt er sich mächtig stolz. Ein Kinderspiel, diese Dinger in gleichmäßigen Abständen zu wickeln, denkt er und macht sich an die Arbeit. Er streicht zum Abschluss Gips darauf und freut sich diebisch über seine Kreation. Nicht mehr lange, dann ist der Rest getrocknet. In der Zwischenzeit fängt er an, die Holzkiste zu fertigen. Alles ist bis ins Detail geplant, bis zum Ende.

    Er wird den Kunstpreis erhalten. Wer sonst? Sein Leben verläuft sowieso ganz anders, nicht so wie in normalen Familien. Er kommt klar. Die Leute aus dem Ort kennt er, obwohl er selten die Kneipe besucht. Zu viele Neugierige und zu viele Gerüchte stören ihn dort. Tratsch ist nicht sein Ding. Stattdessen glotzt er lieber die Realityshows im Fernsehen oder liest Bücher über antike Geschichte. Dafür begeistert er sich. Er verdient die Auszeichnung, hat schließlich die Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeholt.

    Kapitel 2

    Hannah starrt müde auf den Laptop. Seit drei Tagen hat sie der Versuchung widerstanden und ihn nicht angeschaltet, von einem auf den anderen Tag. Hart für sie. Schon allein der Gedanke daran reicht, um ihre Entscheidung anzuzweifeln. Manchmal grübelt sie darüber nach, ob sie es mit einem Schlummertrunk einfacher überstehen würde. Im Keller gibt es ausreichend Vorrat. Problematisch ist, wer ihr die Flaschen hochholen würde. Ihre Tochter Greta? Nein, ganz sicher nicht. Das ist viel zu kompliziert. Sie würde Fragen über Fragen stellen und unendlich darüber diskutieren, ihr Vorwürfe machen. Darauf hatte sie absolut keine Lust. Sie sollte ihre Mutter nicht als Trinkerin erleben.

    Ihr Blick wandert in ihrem Arbeitszimmer umher. Die Fachbücher in den Regalwänden müssen endlich wieder einmal abgestaubt werden. Aber sie ist nicht in der Stimmung dazu und … und … und … Immer eine passende Ausrede. Zumindest stört es ja niemanden mehr. Vor einigen Jahren pflegte sie noch die Bücher und sortierte sie entsprechend nach Themen oder Wichtigkeit. Inzwischen denkt sie nur über die letzten Wochen nach. Die Bücher sind längst vergessen. Alles hatte mit diesem dämlichen Unfall angefangen. Sie knickte einfach vor dem Einkaufsmarkt um. Und auf einmal kamen die Depressionen. Schleichend, fast unbemerkt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Sie musste sich ablenken und suchte nach neuen Inhalten für den Tag.

    Sie, die Kriminalpsychologin, spielt nicht, um den großen Gewinn zu machen, nein. Auch die Verluste auf Dauer interessieren sie nicht wirklich. Ihr Problem ist vielmehr die Langeweile und Unzufriedenheit mit sich und ihrem Leben. Sie müsste es wissen, und genau genommen weiß sie das auch, doch solche Gedanken verdrängt sie schnell wieder.

    Schon seit ihrer Jugend interessierte sie sich für Pferderennen. Warum also nicht online? Damit fing alles an. Genau wie in der Realität gab sie einen Wetteinsatz ab. Und dann immer ein bisschen mehr. Sie verfolgte alle Trab- und Galopprennen über Live-Streams und fieberte mit. Auch ohne den Besuch der Rennbahn war sie nun mittendrin im Geschehen. Um wie viel Geld es dabei ging, erfuhr sie erst nach dem Rennen. So manches Mal lag sie allerdings daneben. Zum Glück musste Greta, ihre Tochter, von den Verlusten nichts wissen. Schließlich würde sie nur gelegentlich wetten. Sollte ja lediglich zur Überbrückung sein, bis sie wieder dienstfähig und einsatzbereit war.

    Langsam erhebt sie sich, humpelt gähnend zum Fenster und schaut auf die Straße. Nichts los. Wer ist auch schon frühmorgens zu Hause? Enttäuscht dreht sie sich um und fixiert den Computer. »Vielleicht sollte ich bloß mal nachschauen, ob ich gestern gewonnen hätte, wenn …«, überlegt sie laut und merkt, wie sich ihre Finger bewegen. Da ist er wieder, dieser Kick. Sie weiß, dass sie abhängig ist. Greta bekam kürzlich von ihren Aktivitäten Wind und schrie ihr ins Gesicht, dass sie eine wettsüchtige Mutter hatte. Obendrein drohte sie damit, jedem davon zu erzählen, wenn sie nicht augenblicklich den Absprung schaffte. Nie wieder würde Hannah Weinstein dann bei irgendwelchen Ermittlungen eingesetzt werden, dafür würde sie sorgen. Hannah hört immer und immer wieder die messerscharfen Worte ihrer Tochter, die vollkommen Recht damit hatte. Wütend rauschte sie davon, ließ die Tür lautstark ins Schloss fallen. Danach herrschte Funkstille zwischen ihnen, bis heute.

    Hannah streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, setzt sich an den Tisch und schlägt die Zeitung auf. Das Zerwürfnis mit ihrer Tochter tut ihr leid. Sie waren beide nicht gerade nett zueinander. Seitdem hat sie nichts mehr von ihr gehört. Hannah denkt jeden Tag an sie. Heute Abend will sie Greta anrufen, ganz bestimmt. Sie lächelt, atmet tief durch und hält für einige Sekunden die Luft an.

    Kapitel 3

    Die Wintersaison im Harz ist endlich vorbei. Die wärmende Sonne lässt den Restschnee weichen und macht dem anbrechenden Frühling Platz. In der Bergstadt Sankt Andreasberg laufen die Vorbereitungen für die nächsten Events auf Hochtouren.

    Elly Schuhmann, die kleine hagere Frau, die gerade kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag steht, guckt in den Spiegel und streicht sich eine graue Haarsträhne von der Stirn. Auf jeden Fall müssen ihre Haare noch vor dem großen Spektakel gefärbt werden, findet sie. Mit dem grauen Lockenkopf will sie nicht weiter herumlaufen und sich schon gar nicht feiern lassen. Ansonsten ist sie mit sich zufrieden. Die Ausschreibungsunterlagen für die aktuelle Kunstausstellung ›Natur-Mensch‹ kann nun jede Künstlerin und jeder Künstler im Internet einsehen.

    Nach zwei Tagen erhält sie von einem Künstler einen Anruf. Er erkundigt sich, ob es möglich wäre, sein Kunstobjekt binnen der nächsten Tage einzusenden, und begründet seine Nachfrage damit, dass er eine größere Reise unternehmen möchte. Die Abgabefrist könne er keinesfalls einhalten. Nein, da spricht nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, sie freut sich über den regen Zuspruch an diesem internationalen Wettbewerb. Und als er darüber redet, dass ihn die Verleihung des Andreas-Kunstpreises außerordentlich reizt und er sich durchaus eine Chance ausrechnet, lächelt sie glücklich. Schließlich ist sie ja für die Organisation dieser Veranstaltung zuständig. Nein, das ist kein Problem, antwortet sie und fühlt sich auf einmal äußerst wichtig. In diesem Zusammenhang fällt ihr sofort die Sage über die herzlose Frau ein, welche sie auch zukünftig nie sein will. In der Erzählung wollte die Alte einem hungernden Bergmann nicht helfen. Lieber sollten die drei Brote zu Stein werden, was daraufhin auch passierte. Elly Schuhmann kennt die Dreibrodesteine genau, sie geht häufig mit ihrem Hund an den Granit-Blöcken spazieren.

    Nach dem Gespräch widmet sie sich wieder ihrer stupiden Arbeit, sortiert Unterlagen und heftet sie ab. Dabei lauscht sie der Musik aus dem Radio und ist in Gedanken, als der Fahrer einer Speditionsfirma kurze Zeit später bei ihr in der Tür steht und fragt, wo er die Holzkiste von dem Künstler abstellen soll.

    »Wie groß ist sie?«, will Lilly Schuhmann erstaunt wissen. So schnell hat sie mit der Lieferung dann doch nicht gerechnet.

    »Na ja, ganz schön. Ich würde sagen, so groß wie ein Sarg.«

    »Sie scherzen wohl?«

    »Sehe ich so aus? Junge Frau, ich habe nicht ewig Zeit, also wohin?«

    Noch bevor sich Lilly das genau überlegt hat, lädt der Mann bereits die Fracht ab und schiebt sie unter ein Schleppdach. Zum Unterschreiben hält er ihr die Frachtpapiere entgegen und sie quittiert ihm den Empfang des Exponats, immer noch verwundert über die Größe. Warum hat er mich nicht darauf hingewiesen? Verdammt! Die Kiste kann hier unmöglich stehen bleiben. Es gibt schon Platzprobleme und der Ärger ist vorprogrammiert, denkt sie sich. Gerade will sie den Fahrer bitten, die Kiste in ein anderes Lager zu bringen, da rauscht er auch schon los und lässt sie in einer Staubwolke zurück. Wieder betrachtet sie das verpackte Kunstwerk von allen Seiten. Kein Hinweis drauf, von welcher Seite die Öffnung erfolgen soll. Vielleicht ist es ja egal. Später würde sie sich darum kümmern, jetzt muss sie vorrangig andere Aufgaben erledigen.

    Ein Buntspecht trommelt derweil an einen Baum und weckt ihre Aufmerksamkeit. Die Frau erkennt sein auffälliges schwarz-weiß-rotes Gefieder und beobachtet ihn einen Augenblick. Sie überlegt und entscheidet sich, die Kiste zu öffnen, so neugierig wie sie ist. Mit der Schere schneidet sie alle Bänder durch und ist dabei, die Skulptur vom Verpackungsmaterial zu befreien.

    »Was ist das? Soll das etwa Kunst sein? Irgendein neumodischer Schnickschnack?«, schreit sie wütend und enttäuscht aus sich heraus. Lobte doch der Künstler sein Werk in den höchsten Tönen und dann das! Eine Mumienpuppe! Ganz schlicht. Keine Farben. Mühe steckt schon darin, keine Frage, allein die Umwicklung. Jede einzelne Lage der Binde besitzt exakt den gleichen Abstand zur vorherigen. Sie kann es trotz der aufgetragenen Gipsschicht noch gut erkennen. Sieht genauso aus wie die eines Schmetterlings, nur eben viel, viel größer. Sie umrundet erneut die Kiste. Es erschließt sich ihr absolut nicht, was der Künstler damit bezweckt. Hatte er sich die Ausschreibungsunterlagen überhaupt durchgelesen? Sie grübelt einige Minuten und starrt dabei das Ausstellungsstück an. Möglicherweise das Sterben der Artenvielfalt oder vielleicht auch nur der Schmetterlingspopulation, rätselt sie. So richtig kann sie damit nichts anfangen und wendet sich wieder dem Verpackungsmaterial zu, das entsorgt werden muss, um das Objekt vollkommen freizulegen. Danach will sie die Skulptur noch einmal genauer unter die Lupe nehmen.

    Kraftvoll schlägt sie mit einem herumliegenden Hammer auf die Lattung der Kiste ein, um sie auseinanderzutreiben, was ihr auch nach und nach gelingt. Ausgerechnet bei den letzten Latten rutscht sie ab und verfehlt das Holz. Stattdessen knallt der Hammer voller Wucht seitlich auf die Skulptur. Die Hülle bröckelt, fehlt an einer Stelle gänzlich, so dass ein Loch zu erkennen ist. Dumm gelaufen! Elly Schuhmann atmet tief ein und aus. Wie soll sie das bloß dem Künstler erklären? Sie hat keine Ahnung. Dann schaut sie genauer hin und ein eiskalter Schauer läuft ihr über den Rücken. Tiefschwarze Löcher anstelle der Augen. Irgendwie unheimlich. Sie beschließt, den Künstler umgehend darüber zu informieren. Vielleicht kann er es einrichten und vorbeischauen, um die Schadstellen zu beheben. Für die Aufwendungen würde sie selbstverständlich haften.

    Eilig marschiert sie ins Büro. Inzwischen wird sie seine Unterlagen per E-Mail erhalten haben, davon geht sie zumindest aus. Wie heißt er doch gleich? Sie erinnert sich nicht an seinen Namen. Hatte er ihn überhaupt genannt? Sie durchforstet ihr Postfach nach neuen Anmeldungen. Nichts. Auch in den Unterlagen der Spedition findet sie keine Angaben zum Absender, lediglich einen kleinen bunten Schmetterling als Sticker. Das bringt sie an ihre Grenzen. Sie flucht lautstark und gerät in Panik.

    Wieder kehrt sie zur Scheune zurück und betrachtet das Kunstwerk. Es ist still um sie herum. Kurzentschlossen entfernt sie sämtliche losen Brocken. So kann es auf keinen Fall bleiben und Ärger gibt es vermutlich sowieso, denkt sie sich. Der ist unabwendbar. Allerdings kann sie inzwischen durch ihre jahrelange Erfahrung einschätzen, dass es ohnehin großflächig ausgebessert werden muss. Sie stöhnt vor Erschöpfung und hört die eigenen Atemgeräusche. Ihr Blick ist auf das Objekt gerichtet. Gebannt starrt sie es jetzt an. Ganz akkurat gebunden, das setzt Übung darin voraus. Er muss es schon etliche Male zuvor gemacht haben. Einfach perfekt, überlegt sie und bewundert ihn fast. Die Skulptur wirkt erst richtig durch die menschliche Größe, geht es ihr wieder durch den Kopf. Nur eben diese schwarzen Löcher! Aufgeregt vergrößert sie die Schadstelle ein wenig. Was hat er nur für ein Trägermaterial eingesetzt? Sie weiß nicht, warum sie das macht, aber es interessiert sie auf einmal brennend und sie beschleunigt sogar ihre Handgriffe. Noch immer erkennt sie nichts richtig. Dann greift sie ihr Handy, schaltet die Taschenlampe an und leuchtet hinein. Was befindet sich nur darunter? Sie verspürt eine innere Unruhe, die sie so nie erlebt hat. Irgendetwas scheint anders zu sein. Wie besessen bröselt sie den Gips immer weiter und weiter ab, um besser sehen zu können. Ihr Herz pocht schneller. Plötzlich wird ihr bewusst, was sie vor sich sieht. Es ist zusammengenähte Haut, die eines Menschen! Sie schafft es gerade noch, sich zur Seite zu drehen, dann übergibt sie sich.

    Kapitel 4

    Das Telefon surrt und Greta versucht, es zu überhören. Ungläubig starrt sie das Ding an. Mit einem Mal kündigt sich so ein schreckliches Gefühl in der Magengegend an. Speiübel ist ihr. Kein gutes Omen. Sie richtet sich auf, drückt ihr Kreuz durch und schaut auf ihr Bett, auf dem ihre Kleidungsstücke bunt durcheinander liegen. Wer zum Teufel stört sie so spät? Sie schließt die Augen und hofft, dass der Ton endlich verstummt. Aber das passiert nicht. Der Anrufer zeigt sich ausdauernd. Sie tippelt langsam zum Schreibtisch hinüber, um ans Telefon zu gelangen und den Hörer abzunehmen. Ein Blick aufs Display verrät ihr, dass ihre Mutter anruft. Verärgert nimmt sie das Gespräch an.

    »Ich will dir sagen, dass ich mitkomme. Ich muss hier mal raus. Aus dem öden Ort. Wir fahren mit meinem Auto und hängen den Wohnanhänger dran. Dann kannst du sogar einen Pullover mehr einstecken, vorausgesetzt, du hast nicht drei Reisetaschen voll und zwei weitere mit Schminkkram«, schlägt ihr Hannah vor. »Was hältst du davon?«

    Was schon! Das kann sie ihr doch aber nicht sagen. Oder? Schließlich handelt es sich nicht um eine Urlaubsfahrt, sondern um ihre ungewollte Versetzung in den Harz, genau genommen nach Goslar. Ausgerechnet Randharz! Als der oberste Chef zu ihr kam und herumstammelte, um die richtigen Worte zu finden, ahnte sie, dass sie weggelobt werden würde. Angeblich ein längerer Krankheitsfall und Mutterschaftsurlaub zweier Kolleginnen erforderten ab sofort ihre dortige Anwesenheit. Dabei ist sie noch nicht so lange bei der Polizei tätig. Sie atmet schwer.

    »Gretchen, ich habe mir überlegt, dass ich einen Tapetenwechsel gebrauchen kann. Und mit meinem Fuß ist es viel besser. Der Arzt riet mir …«

    Gretchen, so nennt sie mich nur, wenn sie gut drauf ist und etwas von mir will. Sie hört nicht mehr richtig zu. Ihre Mutter tut, als sei alles wieder in bester Ordnung. »Ich denke, du willst einen wichtigen Termin wahrnehmen?«, sagt Greta trotzig und schmeißt einen Stapel Handtücher aufs Bett.

    »Vergiss es, mein Kind. Klappt schon.«

    Greta hasst ihre spontanen Entscheidungen. Das war immer so und sie wird sich auch im Alter nicht mehr ändern.

    »Ich muss hier mal raus, verstehst du? Ich brauche dringend eine Abwechslung. Außerdem müssen wir eine vernünftige Unterkunft für dich finden«, vernimmt sie wieder die Worte ihrer Mutter.

    »Mama, ich bin über dreißig! Ich muss dort arbeiten.«

    »Gut, dann eben nicht.« Ihr Tonfall verrät, dass sie eingeschnappt ist.

    Greta versucht einzulenken. »Aber nur, bis wir was Passendes gefunden haben.«

    Ihre Mutter seufzt tief. »Fertig?«

    »Womit?«

    »Na mit dem Packen.«

    »Hör auf, mich zu stressen. Ich fahre erst morgen früh.«

    »Dann leg einen Zahn zu! Immerhin musst du ausgeschlafen sein, wenn du …«

    »Mutter! Es reicht!«, erwidert sie gereizt. Ihr Ton hat sich inzwischen verschärft. Sie verspürt keinerlei Lust, ihre Sachen zusammen zu suchen und alles in der Tasche zu verstauen. Greta weiß selber, dass sie trödelt. Es wird Stunden dauern. Viel lieber will sie noch ein bisschen entspannen, vielleicht doch Goethe lesen und sich dann schlafen legen. Aber daraus wird sowieso nichts. Ihre Mutter hat den wunden Punkt getroffen und das ärgert sie gewaltig.

    »Ich mache mir eben Sorgen«, sagt Hannah kleinlaut. Dann schweigen sie und das zieht sich hin.

    »Der Kühlschrank im Wohnwagen ist für die Reise aufgefüllt, den musst du sehen, randvoll. Das reicht für die ganze Woche«, sagt Gretas Mutter nach einer Ewigkeit in die Stille hinein. »Ist das bei dir angekommen?«

    »Ja. Allerdings gibt es in diesem Landstrich auch Supermärkte, die täglich geöffnet haben.«

    »Du machst immer alles kompliziert.«

    »Moment, wenn jemand das kompliziert macht, dann du. Mir kam zuvor nicht mal der Gedanke, dass ich ein Kindermädchen brauche. Und ich fühle mich nicht im Geringsten einsam ohne dich.«

    »Wir wollten aber schon immer mal in den Urlaub fahren.«

    »Versteh doch, ich habe keine Freizeit.« Langsam packt sie die Wut. »Wann begreifst du das endlich?«

    »Gut, morgen, acht Uhr, hole ich dich ab. Verschlafe bloß nicht!«

    »Ja«, brüllt Greta in den Hörer. Völlig fassungslos legt sie sich ins Bett. Sie stellt sich den Wecker, um am anderen Morgen rechtzeitig aufzustehen. Dann bleibt genügend Zeit, um die restlichen Kleidungsstücke in der Reisetasche zu verstauen.

    Als sie morgens aufwacht, spürt sie eine gewisse Erleichterung, dass ihre Mutter sie abholen wird. Greta will keine Zeit verschwenden, sondern fertig sein, wenn Hannah vor der Tür steht. Deshalb schlüpft sie kurzerhand in ihre Kleidung, verstaut noch das ein oder andere Kleid, aber vor allem ihre teure Schminke.

    Pünktlich ist ihre Mutter jedenfalls nicht. Unpünktlichkeit kann sie nicht ausstehen. Und das weiß Hannah auch. Greta geht nach draußen, um zu sehen, wo sie bleibt. Nichts. Das macht sie mit Absicht, um mich zu ärgern, brummt sie vor sich hin und kehrt unterdessen in ihre Küche zurück.

    Zehn Minuten später sitzt sie in Hannahs Auto, das über die Straßen heizt, um die Verspätung wieder wettzumachen. So ist die Fahrt recht kurz, aber angenehm, denn beide sind schweigsam, weil sie in Gedanken sind.

    Gretas Mutter Hannah stammt aus Schierke und seit einigen Jahren besucht sie in regelmäßigen Abständen ihre einstige Heimat, angeblich um Erinnerungen aufzufrischen oder ehemalige Freunde und Bekannte zu treffen. Und sie übernachtet immer in ihrem Wohnwagen und gehört längst zu den Stammgästen. Elvira, die Eigentümerin des Campingplatzes, kommt aus der Rezeption gelaufen und umarmt sie herzlich zur Begrüßung.

    »Wie schön, dich wiederzusehen, Hannah. Endlich lerne ich deine reizende Tochter kennen.« Sie streckt Greta die Hand entgegen. »Ich bin Elvi«, sagt die ältere Frau lächelnd. »So nennen mich meine Freunde.«

    »Und ich, Greta.«

    Zwei Grazien im Hexenkostüm laufen an ihnen vorbei, Greta gafft hinterher.

    »Eben Walpurgis«, kommentiert Hannah und zieht die Augenbrauen hoch.

    »In zwei Tagen ist es wieder so weit«, ergänzt Elvi.

    Greta erinnert sich, dass ihr im letzten Jahr ihre Mutter erzählte, jemand hätte, um für die richtige Stimmung zu sorgen, eine sogenannte ›Hexensalbe‹ hergestellt, nach einem mittelalterlichen Rezept, aus Zutaten wie Mutterkorn, Misteln, Bilsenkraut, Johanniskraut,

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