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Von GOETZEN bis LIEMBA: Auf Reisen mit einem Jahrhundertschiff
Von GOETZEN bis LIEMBA: Auf Reisen mit einem Jahrhundertschiff
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eBook332 Seiten3 Stunden

Von GOETZEN bis LIEMBA: Auf Reisen mit einem Jahrhundertschiff

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Über dieses E-Book

November 1913. Papenburg. In der MEYER WERFT ruft eine Fabriksirene zur Taufe, doch kein Schiff wird zu Wasser gelassen. Drei Werftarbeiter haben die Aufgabe, das wieder in Einzelteile zerlegte und in 5.000 Holzkisten verpackte Schiff auf seinem Weg nach Kigoma am Tanganjikasee, im damaligen Deutsch-Ostafrika, zu begleiten und dort erneut zusammenzubauen. Die Goetzen soll dem Schutzgebiet Ansehen und Stärke verleihen. Im Juni 1915 tritt sie ihre Jungfernfahrt an.
Bereits ein Jahr später sind die deutschen Stellungen in Kigoma nicht mehr zu halten und das Schiff wird versenkt. Erst Spezialisten der Royal Navy gelingt die Hebung der Goetzen. 1924 erhebt sie sich aus den Fluten des Tanganjikasees. Nach zwei Jahren Bergungsarbeiten und acht Jahren unter Wasser, in erstaunlich gutem Zustand. Bis heute pendelt die 1927 umbenannte Liemba als einziges reguläres Passagier- und Frachtschiff über den Tanganjikasee.
Diamantenhändler, Weltenbummler, Familien, Geschäftsleute und Verrückte. Gackernde Hühner, toter Fisch, Zementsäcke und Rollkoffer. Alles findet Platz an Bord des heute wohl ältesten Passagier- und Frachtschiffs der Welt. Legenden, Mythen und Märchen ranken sich um das Schiff.
Seine hundertjährige Geschichte stand stets im Spannungsfeld kolonialer Romantik, politischer Auseinandersetzungen und afrikanischer Unabhängigkeit.
Dieses Buch nimmt den Leser mit auf die Reise über einen der größten Binnenseen der Welt. Das Buch erzählt von Geschichte, Gegenwart und vom turbulenten Alltag dieser afrikanischen Schiffslegende, von Piraten, tanzenden Gewittern und einem letzten Grabstein.
Mit einem Vorwort von Alex Capus.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum26. Jan. 2015
ISBN9783737527675
Von GOETZEN bis LIEMBA: Auf Reisen mit einem Jahrhundertschiff

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    Buchvorschau

    Von GOETZEN bis LIEMBA - Sarah Paulus

    Sarah Paulus & Rolf G. Wackenberg

    Von GOETZEN bis LIEMBA

    Auf Reisen mit einem Jahrhundertschiff

    artissage

    © 2014 artissage

    © 2014 Sarah Paulus und Rolf G. Wackenberg

    Alle Rechte vorbehalten.

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlags.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Aktualisierte Auflage 2014

    Konzept und Text: Sarah Paulus und Rolf G. Wackenberg

    Vorwort: Alex Capus

    Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

    Satz und eBook-Produktion: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

    Fotos: Rolf G. Wackenberg

    Umschlaggestaltung: Rolf G. Wackenberg

    www.sarahpaulus.de

    www.wackenberg.com

    www.liemba.wordpress.com

    ISBN Printausgabe: 978-3-00-042050-4

    ISBN eBook: 978-3-7375-2767-5

    Für unsere Lieben

    Eveline, Karin, Siegfried und Benjamin

    Inhalt

    Vorwort

    Es war einmal …

    Kapitel 1 | ANREISE | Christus, Cholera und Fegefeuer

    Kapitel 2 | MPULUNGU | Wo ist Mr. Masimba?

    Kapitel 3 | KASANGA | Flaschenpfand und Militär

    Kapitel 4 | KALA | Der schwarze Fleck

    Kapitel 5 | WAMPEMBE | Nachtgedanken

    Kapitel 6 | MSAMBA | Carl Peters ist schuld

    Kapitel 7 | NINDE | Captain’s Lunch

    Kapitel 8 | KIPILI | Zirkus Liemba

    Kapitel 9 | KIRANDA | Der Duft der Masse

    Kapitel 10 | KABWE | Auf der Brücke

    Kapitel 11 | KAREMA | Im Casino

    Kapitel 12 | IKOLA | Kriegerische Zeiten

    Kapitel 13 | KALYA | Der letzte Grabstein

    Kapitel 14 | KIBWESA | Doppelherz

    Kapitel 15 | LOGOSA | Luxus und Moral

    Kapitel 16 | HALEMBE | African Queen

    Kapitel 17 | SIGUNDA | Vom Kongo

    Kapitel 18 | KIRANDO | Babyalarm

    Kapitel 19 | KIGOMA | Die letzte Vorstellung

    Epilog

    Danksagung

    Bildteil

    Quellen

    Karte01-Afrika-DotGain15-linkeSeite.jpgKarte02-Tansania-DotGain15-rechteSeite.jpgKarte03-Liemba-DotGain15-Doppelseite.jpg

    Vorwort

    Ich hatte eine Zweierkabine erster Klasse auf dem Schiff gebucht. Als ich sie aufsuchte, war die Tür von innen verriegelt. Und als ich klopfte, öffnete ein Soldat in der Uniform der tansanischen Armee. Er trug eine Kalaschnikow an der rechten Schulter. Er lächelte nicht.

    Weil man mit bewaffneten Soldaten nicht streiten soll, bat ich den Kapitän um Hilfe, der gleich nebenan eine freie Kabine für mich fand. Darin befand sich ein doppelstöckiges Kajütenbett, ein Waschbecken ohne Wasserhahn. Es war heiß. Nackte Wände aus lindgrün bemalten Stahlplatten, an denen die Luftfeuchtigkeit in feinen Rinnsalen zu Boden floss. Eine nackte Glühbirne an der Decke. Solange sie brannte, versteckten sich die Kakerlaken. War das Licht aus, wuselten sie einem über den Leib. Und übers Gesicht.

    Ich beschloss, die Nacht auf dem Achterdeck zu verbringen. Es war windstill, der Mond noch nicht aufgegangen. Spiegelglatt zog sich der See bis zum kongolesischen Ufer hin, die Hügel standen schwarz vor dem Abendhimmel. Da und dort das Licht von Fischerbooten, in denen einsame Männer mit Stablampen Fische in die Netze lockten.

    Auf dem Achterdeck hatte sich eine deutsche Reisegruppe niedergelassen. Freundliche und höfliche Menschen. Ich holte eine Runde Kilimandscharo-Bier. Einige Reisende äußerten verschämten Stolz auf das ehemals deutsche Schiff, auch unausgesprochene Nostalgie war spürbar. Einer sagte, es könne doch nicht alles nur schlecht gewesen sein damals. Doch, entgegnete ich. Franzosen, Deutsche, Briten, Belgier, Niederländer, Portugiesen, Spanier, Italiener – alle Kolonialisten waren die gleichen Schlächter.

    Das verdarb ein wenig die Stimmung. Der Mond ging auf, ich holte noch eine Runde Kilimandscharo. Und dann noch eine. Die Nacht verging. Im Morgengrauen drosselte der Steuermann die Motoren, vom Ufer her näherte sich eine Dhau. Ein paar Männer kletterten zur Ladeluke hoch und stemmten mannshohe Jutesäcke an Bord, die gefüllt waren mit kleinen getrockneten Fischen. Im Gegenzug nahmen sie kistenweise Cola, Fanta und Sprite entgegen. Als sie fertig waren, sprang ich kurz entschlossen zu ihnen hinunter und fuhr mit der Dhau ans Ufer.

    Die Liemba ist heute ein ganz und gar afrikanisches Schiff. Der Kapitän und die Besatzung wissen wohl, dass sie vor hundert Jahren in Deutschland erbaut wurde, aber es interessiert sie nicht. Die Menschen haben hier andere Probleme. Krieg. Hunger. Epidemien. Völkermord. Aids. Piraten. Und das Wetter kann jederzeit umschlagen. Auf dem Tanganjikasee kann es sehr rasch sehr ungemütlich werden.

    Die Gegenwart ist hier anstrengend genug, niemand hat Zeit für Historie.

    Ich war im Oktober 2006 nach Tansania gereist, um einen Roman über dieses Schiff zu schreiben. Wer aber etwas über dessen Vergangenheit erfahren will, wird am Tanganjikasee nicht fündig. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Erinnerung an den Kolonialismus fast ausschließlich von den ehemaligen Kolonisatoren verwaltet wird. Wer sich für die Goetzen interessiert, besucht am besten das Militärarchiv in Freiburg im Breisgau, das Kolonialarchiv in Berlin, das belgische Staatsarchiv in Brüssel oder die British Library in London. Oder er besucht online das Koloniale Bildarchiv der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.

    Und es gibt, immerhin, im tansanischen Nationalarchiv in Dar es Salaam ein paar deutsche Aktenstöße, die eine abenteuerliche Vergangenheit hinter sich haben.

    Zu der Zeit, da die Goetzen in Kigoma zusammengebaut wurde, wütete in Europa der Erste Weltkrieg. Am Tanganjikasee war davon vorerst nicht viel zu spüren, aber der deutsche Gouverneur und die koloniale Schutztruppe schauten vier Jahre lang sorgenvoll hinüber ans westliche Ufer, wo Belgier und Briten ihre dampfbetriebenen Boote in Stellung brachten. Recht schnell ging alles zu Ende. Der Feind näherte sich nicht übers Wasser, sondern in einem langen Fußmarsch um den See herum und befand sich schon bald im Anmarsch auf Kigoma, die deutsche Hauptstadt am Tanganjikasee.

    In höchster Not packten die deutschen Kolonisten ihr mobiles Hab und Gut zusammen und flohen mit der Eisenbahn ostwärts an den Indischen Ozean. Als Letzte blieben die Militärs zurück, um alles Kriegswichtige in letzter Sekunde zu zerstören. Sie versenkten die Goetzen und sprengten den Stromgenerator sowie die Poststation. Dann waren da noch die Verwaltungsakten – Unterlagen von Polizei, Zoll, Militär. Die durften nicht dem Feind in die Hände fallen, denn der Amtsschimmel ist schon immer eine mächtige Waffe gewesen, in Zeiten des Kriegs wie in Zeiten des Friedens. Der Oberkommandierende ließ alle Akten zu einem Haufen zusammentragen und wollte sie schon in Brand stecken, als ihn doch Skrupel befielen. Was wäre, wenn das Kriegsglück sich wenden würde und man nach Kigoma zurückkehrte? Wie sollte die Verwaltung arbeiten, nachdem sie ihre eigenen Akten vernichtet hatte? Da hatte der Kommandant die rettende Idee. Er ließ sämtliche Akten in leer geschossene Kanonenhülsen stopfen und diese an markanten Punkten in der Landschaft vergraben – bei diesem oder jenem Affenbrotbaum, unter dieser oder jener Felsnase. Dann stieg er mit den letzten Soldaten in den letzten Zug und machte, dass er ostwärts davonkam, bevor der allerletzte Mann die Bahntrasse in die Luft jagte.

    Als nun die britischen Kolonialbeamten in Kigoma die Verwaltung übernahmen, fehlte es ihnen an allem. Sie wussten nicht, wie viele Untertanen sie überhaupt hatten, und schon gar nicht, wer wann rentenberechtigt war, und sie hatten keine Ahnung, wo die Wasserleitungen im Boden verliefen und wie viel Zoll man üblicherweise auf ein Bushel Baumwolle erhebt. Und weil Verwaltungsleute ohne Akten nicht arbeiten können, fragte nach dem Friedensschluss von Versailles der britische Sieger beim deutschen Verlierer demütig an, ob sich nicht ein ehemaliger deutscher Kolonialbeamter herbeilassen würde, unter britischer Übernahme sämtlicher Reisekosten nach Kigoma zu fahren und anzugeben, unter welchem Affenbrotbaum die Messinghülsen mit den Akten vergraben waren.

    Das geschah dann wohl, woraufhin die britischen Beamten mit den deutschen Akten eine Weile ihrer Ämter walteten. Und als auch die britische Herrschaft am Tanganjikasee zu Ende ging, wurden die Akten, mittlerweile veraltet und nutzlos, ins Staatsarchiv nach Dar es Salaam gebracht.

    Dort liegen sie nun, übrigens sehr hübsch geordnet und klassifiziert. Eine Abschlussklasse der deutschen Archivschule Marburg hat es sich vor vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, Ordnung in die Papierstöße zu bringen. Wer sich für die Goetzen interessiert und diese Bestände durchgeht, wird reich belohnt. Man findet Angaben zum Wiederaufbau des Schiffes und sogar einen handschriftlichen Brief des Chefmonteurs Anton Rüter aus Papenburg. Er hatte eine schöne, fein ziselierte Handschrift, und er schrieb, weil Krieg herrschte und wohl die Tinte ausgegangen war, mit lila Farbstift. Dann liegt da auch ein militärischer Einsatzbefehl, der mit dem Namen »Göring« unterzeichnet ist, und man denkt sich: Was jetzt – Hermann? War der auch da? Weitere Abklärungen ergeben dann, dass das Papier nicht vom nachmaligen Fliegergeneral stammt, sondern nur von dessen Bruder. Aber immerhin.

    Das anrührendste von allen Zeitzeugnissen aber habe ich im belgischen Staatsarchiv in Brüssel gefunden. Es datiert vom 9. Juni 1915 und ist der Rapport des belgischen Sergeanten Stéphane Dequanter, der am kongolesischen Ufer des Tanganjikasees Wache schob und ostwärts in Richtung Deutsch-Ostafrika übers Wasser schaute. Da tauchte aus dem Nebel auf dem Binnensee leise und ungeheuer groß ein gewaltiges deutsches Schiff auf, das unglaublicherweise ganz die Form eines Hochseedampfers hatte. Zum Greifen nah zog es am Ufer vorbei. Der Soldat zückte sein Notizheft und erstellte in aller Eile eine Bleistiftskizze – es war, auch hundert Jahre später noch zweifelsfrei erkennbar, die Goetzen, die in jener Nacht zum ersten Mal auf großer Fahrt am belgischen Ufer war.

    Alex Capus

    Mai 2013

    Es war einmal …

    Berlin. Ein Nachmittag im August 2010. Ich las einen letzten Satz und schlug das Buch zu. Fertig. Ausgelesen. Ab in den Bücherschrank. Erledigt? Nein. Die Geschichte hatte mich so gefesselt, dass ich unbedingt jemandem davon erzählen musste. Allein zu Haus. Also telefonieren. Wen anrufen? Rolf.

    Ich plapperte munter drauflos, dann referierte Rolf Schlaumeier. Die Goetzen. 1913 auf Kaisers Befehl in Papenburg gebaut. Benannt nach, na, wie hieß er doch gleich, Gustav Adolf Graf von Götzen, dem ehemaligen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika. Ein Dampfschiff, das der kolonialen Präsenz am Tanganjikasee Ansehen und Stärke verleihen sollte. Noch heute schippert es da irgendwo herum. Wie bitte? »Eine Frage der Zeit«, das Buch, das ich gerade gelesen hatte, ist mehr als ein Produkt reiner Fantasie? Ja doch, ein historischer Roman vor echter Kulisse. Jetzt war ich völlig vom Hocker.

    Wer schreibt, sucht Geschichten. Alex Capus hatte sie vor uns gefunden. Eine Reihe anderer Autoren, Journalisten, Künstler und Dokumentarfilmer wiederum vor und nach ihm. Nun stand ich selbst im Bann der Liemba, wie das Schiff heute heißt, einem verbeult-rostigen Kahn mit hundertjähriger Geschichte. Im Verlauf des restlichen Tages lief der Draht heiß. Bis feststand, dass wir uns der Liemba vor Ort nähern und unbedingt mit ihr reisen müssten. Feierlich beschlossen wir den Plan.

    Wir? Pardon, ich vergaß, uns vorzustellen. Rolf G. Wackenberg, auf das G. legt er Wert. Und Sarah Paulus. Während ich mich als freie Autorin verdinge, fuchtelt Rolf ständig mit seinem Fotokram herum. Wir arbeiten oft zusammen, beschreiben und porträtieren Menschen wie Situationen aus allen Teilen des Universums. Lifestyle, Szene und Kultur kommen uns dabei ebenso häufig in die Quere wie Reisen durch Afrika, den Nahen und Mittleren Osten. Unsere Reportagen wurden u. a. in der Welt, Welt am Sonntag, der Süddeutschen Zeitung, der FAZ, im Tagesspiegel, bei Spiegel Online sowie in diversen Magazinen und Unternehmensbroschüren veröffentlicht. Gemeinsam sind wir ein unschlagbares Team.

    Wir reisen immer mit bescheidenen Ansprüchen und kleinem Gepäck, wobei Rolfs Fotoausrüstung den größten Brocken darstellt. Das muss halt so sein. Wo sonst kämen die vielen Bilder her? Die anderen Posten des Reisepackzettels sind genauestens abgezählt und limitiert. Nur bei Schwimmwesten habe ich dieses Mal lange überlegt. Dazu später mehr.

    Es heißt, die Fahrt mit einem Schiff ist wie eine Pilgerreise, man kommt als anderer Mensch zurück. Dem stimmen wir uneingeschränkt zu. Zweimal haben wir mit der Liemba den Tanganjikasee durchmessen. An- und Weiterreise glichen einem Vagabundendasein. In greisen Bahnen und klapprigen Bussen, die anderswo längst aussortiert worden wären. Über holprige Schienenbetten, durch tiefe Schlaglöcher und dichten, roten Staub. Entlang des afrikanischen Alltags mit viel Armut und unbeschreiblichem Lebensmut. Wir lieben Afrika für all seine Unwägbarkeiten jenseits von Luxussafaris und Palmenstränden.

    Sie halten nun ein Buch in der Hand, das unsere Reisen mit der Liemba beschreibt. Wir haben erlebt, gefühlt und gelitten. Gefeiert, gesoffen und überlebt. Auf den folgenden Seiten wird bewusst subjektiv erzählt. Eingeflochten haben wir die schier unglaubliche Geschichte der ehemaligen Goetzen und ihrer Wegbegleiter, samt Mythen und Märchen, die sich seit Jahrzehnten um das Schiff ranken, sowie Informationen über die jüngsten politisch-diplomatischen Bemühungen rund um eine dringend notwendige Generalüberholung. Wir sind keine Historiker, dieses Buch ist kein historisches Sachbuch. Dennoch glauben wir, alle wesentlichen Fakten zusammengetragen zu haben.

    Die alte Dame Liemba haben wir tief in unser Herz geschlossen. Dieses Buch wurde somit zu einer echten Herzensangelegenheit.

    Sarah Paulus und Rolf G. Wackenberg

    Juni 2013

    Kapitel 1 | ANREISE

    Christus, Cholera und Fegefeuer

    »Na, das nenne ich doch mal Architektur.« Rolf winkt mich heran. Wir kommen im Haupteingang zum Stehen, staunen herum und behindern die Nachrückenden. Sicher hundert Meter breit und zwanzig hoch, so empfängt uns die farblose Bahnhofshalle in Dar es Salaam. Kein Schnickschnack, kein schmückendes Beiwerk stört den Blick. Groß, schlicht und karg, wie ein überdimensionierter Schuhkarton. Vollgestopft mit Hunderten von Menschen, die auf eine baldige Abfahrt des Zuges hoffen. Ein Ameisenhaufen inmitten chinesisch-praktischer Bauweise.

    Unsacht werde ich nach vorn gestoßen, stolpere unschlüssig in den Schlund und finde an einem Geländer Halt. Von hier öffnet sich der Blick in die untere Etage mit Gängen zu den Bahnsteigen und diversen Schaltern für Tickets und großes Gepäck. Im Halbdunkel einer Nische plaudern Träger, entspannt und ohne Hektik. Staub tanzt im Licht der Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch matte Fenster auf gegenüberliegende Wände erkämpfen. Weit ausladende Treppen verbinden die untere Ebene mit meiner Aussichtsplattform. Rolf unterbricht meine Gedanken und lenkt die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.

    Dort stolziert ein Uniformierter mit strenger Miene umher. In der rechten Hand hält er einen schwarzen Stock, den er respekteinflößend umherschwenkt. Raffael Fabian Samwe steht ganz offensichtlich auf der Seite der Macht, die Einheimischen befolgen jede seiner Anweisungen. Scharenweise strömen sie weiter in den Bahnhof und lassen sich ehrfürchtig, ohne die geringste Gegenwehr, bei der Suche nach einem Sitzplatz führen. Bloß nicht aus der Reihe tanzen. Wer keinen Bahnhofstuhl findet, sucht schnell und möglichst unauffällig einen freien Flecken auf dem gekachelten Boden oder den mitgebrachten Taschen und Säcken.

    Ob stehend, sitzend oder liegend, wir alle sind durch ein gemeinsames Ziel verbunden. Wir wollen Zug fahren. Vier Mal pro Woche erwacht der Bahnhof kurz und heftig zum Leben. Freitag und Dienstag, wenn ein Zug abfährt. Sonntag und Donnerstag, wenn er zurückkommt. Anderntags herrscht gähnende Leere. An diesen Tagen reihen sich nur kleine Grüppchen geduldig vor den Ticketschaltern, hinter denen Fahrscheine noch handschriftlich ausgefertigt werden.

    Tanzania Zambia Railway Authority, kurz TAZARA, heißt der Betreiber der 1860 km langen Strecke nach Kapiri Mposhi in Sambia. The Great Uhuru Railway, der Zug der Freiheit, wie er einst hieß, ist eine afrikanische Idee, die in den Sechzigerjahren entstand, um den Export von sambischem Kupfererz zu erleichtern. Nachdem internationale Kapitalgeber ihre Unterstützung verweigerten, reisten die Präsidenten Tansanias und Sambias, Julius Nyerere und Kenneth Kaunda, nach China, stießen dort auf höchstes Interesse und traten die Rückreise an mit einem dreißigjährigen zinslosen Kredit in Höhe von unglaublichen 500 Mio. US-Dollar im Gepäck.

    »Die Bahnlinie wurde 1976 in Betrieb genommen«, erzählt Raffael freundlich, die wartende Menge nicht aus den Augen lassend. Schnell winkt er einen Drängler zur Ordnung. Rolf nimmt stumm Haltung an und schlägt die Hacken zusammen. Raffael lächelt milde. Er hat Gefallen an Rolfs Blödsinnigkeiten gefunden und beginnt ein Gespräch, während sich seine uniformierten Mitstreiterinnen in Position bringen. Korpulente Matronen mit grimmigen Gesichtern und strammen Waden, trotz Hitze mit dicker Wolle bestrumpft.

    Wir werden in ein Séparée geschoben, das für Fahrgäste der 1. Klasse vorgesehen ist, die VIP-Lounge. Nichts lenkt vom Warten ab. Wir sitzen auf festgeschraubten Stühlen mit speckigem Lederbezug und starren auf kahle Wände. Ein an die Wand geschraubter Fernseher verweigert den Dienst. Das spärliche Mobiliar einer entkernten Bar lässt Angebot und Nachfrage ganz sicher nicht zusammenkommen. Dann eben warten. Einfach nur warten.

    Mit uns dösen ein paar Einheimische sowie eine Handvoll Wazungu, auf Kiswahili die Bezeichnung für Fremde oder Weiße. Ein unscheinbares Pärchen Mitte dreißig. Daneben ein hagerer Grin mit Mohawk, sonnengegerbt, Typ einsamer Wolf, der ein unerhört dickes Buch liest. Ferner zwei elegant aussehende silbergraue Damen unbestimmbaren Alters. Französinnen mit Rollkoffer, Sonnenbrille im Haar und dezentem Goldschmuck an Hals und Gelenken, die sich mit sprudelndem San Pellegrino aus einer kühlen Glasflasche verwöhnen, während wir Lauwarmes aus verbeultem Plastik nuckeln. Respekt, Franzosen haben es einfach drauf.

    Eine halbe Stunde vor Abfahrt kommt Bewegung in die Masse. Die gewichtigen Matronen geben den Weg zum Bahnsteig frei. Eine Menschenmenge in bunten Kleidern und Tüchern strömt hastig in Richtung Zug. Dank Helmut Suitner, einem Österreicher, der seit zwanzig Jahren in Dar es Salaam lebt und hier bis Ende 2012 als Honorarkonsul tätig war, sind wir mit Platzkarten versorgt und trödeln der Masse gemächlich hinterher. Der Zug ist stets gut gebucht, Reservierungen müssen rechtzeitig erfolgen. Keine einfache Sache, wenn man nicht Wochen vor Abfahrt des Zuges anreisen kann und die lokalen Reisebüros an dem gewünschten Service kaum Interesse zeigen. Für Tansania können zwar aufwändigste Safari-Touren allerorten und zu jedem Preis gebucht werden, einfache Zugtickets hingegen nicht. Auch nicht über die gut sortierte Internetseite von TAZARA. Sie offeriert dem Interessierten Unmengen an Adressen, die sich jedoch als herrenlose Briefkästen erweisen. Keine meiner Mails wurde je beantwortet. Blieb das gute alte Netzwerk. Dr. Klaus Goebel, 2. Vorsitzender des Traditionsverbands ehemaliger Schutz- und Überseetruppen – Freunde der früheren deutschen Schutzgebiete e. V., half unermüdlich mit Informationen rund um die Liemba und stellte auch den Kontakt zu seinem langjährigen Bekannten Suitner her, heute Manager von Leisure & Safari Tours Ltd., der sich schließlich um unsere Platzkartenbuchung kümmerte. Ohne ihn hätten wir jetzt wohl ziemlich alt ausgesehen und mächtig um einen einigermaßen komfortablen Platz im Zug kämpfen müssen.

    13.50 Uhr. Unerwartet pünktlich schrillt eine Pfeife. Die stählerne Raupe startet ihren langen Weg gen Süden. Bei TAZARA reisen Männer und Frauen getrennt. Wer dennoch gemeinsam logieren will, muss ein ganzes Abteil buchen. Vier Liegen, zwei unten, zwei oben. Dazu gibt es Kuscheldecken, Kopfkissen und Bettlaken. Toiletten am Ende der Waggons, wo sich Löcher im Boden öffnen, wenn man auf ein Stück Metall tritt. Das Gleisbett rast vorbei. In bunten Plastikbottichen schwappt Spülwasser unruhig hin und her. Willkommen in Afrika.

    Die Trassenführung der Bahn, so heißt es, sei von chinesischen Fachleuten bei einem neunmonatigen Fußmarsch festgelegt worden. 30 000 Afrikaner und 16 000 Chinesen sollen an der Strecke gearbeitet haben. 300 Brücken, 25 Tunnel und 60 Stationen passiert der Zug. Meist gemächlich dahinruckelnd, während seine Insassen Bekanntschaft schließen und Reisegarn spinnen.

    Rolf hat den Mohawk ins Visier genommen. »Darren«, stellt der sich mit tiefer Stimme vor und zieht kräftig an einer Selbstgedrehten, bis der Qualm sein verlebtes Äußeres vollständig umnebelt hat. Tiefe Falten durchziehen das fahle Gesicht. Er scheint seit Jahrzehnten nichts anderes zu tun, als kettenrauchend Zug zu fahren. »Ihr wollt also mit der Liemba reisen?«, fragt Darren treffsicher, als wir vom Tanganjikasee berichten. Das unscheinbare Pärchen neben uns lauscht aufmerksam. Die beiden haben noch nie von dem Schiff gehört. Sie fragen uns Löcher in den Bauch und überlegen ernsthaft, ihre ursprünglich geplante Reiseroute in Richtung Malawi über den Haufen zu werfen.

    Wir starten eine Tour zum Bordrestaurant. Verwöhnt vom Dahinschweben deutscher ICEs, torkeln wir wie angetrunkene Yetis durch die schwankenden Waggons

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