Die Weihnachtskrippe: Theologie - Kunst - Anthropologie
Von Klaus Bergdolt
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Buchvorschau
Die Weihnachtskrippe - Klaus Bergdolt
Einführung
Die Umstände der Geburt Christi im heidnisch-antiken Umfeld, eines der zentralen Ereignisse der christlichen Heilsgeschichte, legten schon früh grundsätzliche Überlegungen nahe. Religiöse Narrative versuchte man samt ihrer in der Regel beachtlichen Symbolik bereits vor den antiken Hochkulturen, die zugleich Schriftkulturen waren, bildlich darzustellen. Es war offensichtlich ein menschliches Urbedürfnis, um eine von den Neuplatonikern entwickelte Vorstellung aufzugreifen, das Vorstellbare der an sich verborgenen Gottheiten anschaulich zu machen, ein Phänomen, das entscheidend zum Aufkommen der bildenden Kunst überhaupt beitrug. Mochten die Natur, das Wesen und der Einfluss der Numina letztlich unbegreiflich erscheinen, ihre Existenz blieb seit Urzeiten unbestritten. Nur im Kontrast zum Göttlichen ließ sich die Bestimmung des Menschen erahnen. Erhaltene Reliefbilder oder (meist sehr kleine) Figuren aus der Steinzeit lassen früheste kultische Funktionen vermuten. Später entstanden im ägyptischen, dann auch im assyrischen und babylonischen Umfeld erste künstlerische Meisterwerke, deren Sinn sich allein aus dem religiösen Kontext erschloss. Eine Ausnahme bildete dabei das Judentum, wo die Darstellung Gottes streng verboten war. Niemand durfte Jahwe mit dem Auge erblicken, weshalb seine Darstellung im Kunstwerk als Anmaßung, ja schwerer Gesetzesverstoß erschienen wäre. Gott sprach zu Auserwählten, er zeigte sich aber nicht. Es gab unter kunstbegeisterten Griechen sogar den Vorwurf, dass die Juden nicht wie andere Völker „bewundernswerte Männer (θαυμαστούϛ ἄνδρας) hervorgebracht hätten, die „in irgendwelchen Künsten kreativ
wurden, was der jüdische Historiker Flavius Josephus mit guten Argumenten, etwa dem Hinweis auf den Tempelbau in Jerusalem, zu widerlegen suchte (Flavius Josephus, Contra Apionem 2, 135).
In der christlichen Kunst war die enge Verbindung von sakraler und künstlerischer Welt dagegen – wie auch in den meisten heidnischen Kulturen – von Anfang an von zentraler Bedeutung. Allerdings stritt man früh darüber, ob auch Christen das jüdische Bilderverbot zu respektieren hätten – endgültig wurde diese Frage erst im 9. Jahrhundert mit der Niederlage der Ikonoklasten beendet, die der bilderfeindlichen Tradition Altisraels zuneigten. Es handelte sich um eine höchst politische Entscheidung, die letztlich zwar zum Sieg der Bilderfreunde (Ikonodulen) im Osten, aber auch zu einer nachhaltigen Schwächung des Byzantinischen Reiches führte.⁹ Motive des Alten und Neuen Testaments wurden in der Malerei der Katakomben, auf frühchristlichen Sarkophagen und Epitaphien, auf Amuletten, Ringen, Reliquienbehältern, Pilgerampullen und liturgischen Geräten (Kelch, Pyxis, Kanne) sowie Bronze-, Stein- und Elfenbeinreliefs dargestellt, die Altäre, Ambonen, Säulen oder Throne von Trier bis Nordafrika und von Syrien bis Spanien verzierten. An einzelnen Orten hatte der Traditionalismus der Judenchristen bildliche Darstellungen zunächst verhindert, wie auch die Verfolgungen in den ersten Jahrhunderten die Abbildung verräterischer christlicher Sujets gebremst haben dürften (inwieweit Symbole wie der Fisch oder die Taube unter Gemeindemitgliedern als kryptische Erkennungszeichen dienten, bleibt in der Forschung umstritten). Motive der Rettung wie die Geschichte von Jonas und dem Walfisch oder Daniel in der Löwengrube, dazu die Wunder Christi, vor allem seine Krankenheilungen und Totenerweckungen, wurden in Kulträumen und Katakomben durch meist einfach strukturierte, aber höchst expressive Bilder popularisiert. Zunächst stand dabei dessen Rolle als Retter (griech. σωτήρ, lat. salvator) im Vordergrund. Aber auch Abendmahlszenen und erste Abbreviaturen der Passion wurden dargestellt. In der Sarkophagkunst und auf Mosaiken vom 4.–6. Jahrhundert, vor allem aber in der frühen Buchmalerei, die zu einem herausragenden christlichen Kulturträger werden sollte, finden sich bereits höchst differenzierte biblische Darstellungen.
Früh wurde auch klargestellt, dass Abbildungen von Christus und der Muttergottes, wie etwa in der Geburtsszene von Betlehem, sowie weiterer Heiliger, was ihre materielle Substanz betraf (Stein, Ton, Marmor usw.), wie am Ende noch einmal das zweite Konzil von Nikaia 787 betont hat, nur verehrt werden durften. Angebetet werden konnte, selbst im schönsten bildergeschmückten Umfeld, Gott allein, der nur vorübergehend, nämlich 33 Jahre in Christus, als Mensch unter Menschen sichtbar war. Durch die demonstrative Unterscheidung von Verehrung und Anbetung wurde der Vorwurf des Götzendienstes entkräftet, der von den Ikonoklasten vorgebracht worden war. Selbst Burckhardt sah im katholischen Christentum bis zur Frühen Neuzeit eine unerschöpfliche Quelle an Kunstmotiven, die Künstlern über Jahrhunderte durchaus Freiräume schufen.¹⁰ Die für diese Religion so charakteristische Reflexion über eigene Widersprüche und Aporien führte immer wieder zu gewaltigen künstlerischen Impulsen, die ihrerseits den theologischen Diskurs beflügelten.
Theologische Herausforderungen
Spätestens im frühen 4. Jahrhundert war auch Christi Geburt ein zentrales Motiv christlicher Kunst. Nicht nur seine symbolgetragenen Wunder und seine Auferstehung beschäftigten die Theologen, sondern auch die Menschwerdung des Erlösers, der zugleich Gott blieb. Dieses Faktum, für viele eine provokante These, die aller tradierter Logik widersprach, wurde jahrhundertelang in aller Schärfe diskutiert. Gott sollte Mensch geworden sein – war dieses für Anhänger wie Gegner des Christentums absurde Paradoxon überhaupt denkbar? Nie in der Geschichte der antiken Völker hatte es Vergleichbares gegeben, nie war Gott bzw. ein göttliches Wesen wie in Betlehem als hilfloses Wesen mit menschlichen Eigenschaften sichtbar geworden. Es kann nicht verwundern, dass es hier zu Disputen kam, die vorübergehend sogar zur Spaltung der noch jungen Kirche führten. Es wurde auf schmerzliche Weise klar, dass eine Interpretation gewisser Passagen des Alten und Neuen Testaments, selbst wenn sie, wie man später sagte, „historisch-kritisch" intendiert war, auf unterschiedliche Weise möglich war (ein Phänomen, auf das im 18. Jahrhundert der französische Geistliche Richard Simon hinwies!).¹¹ Der Kirchenvater Johannes Chrysostomos (um 400) forderte sogar – eine ungeheure Provokation des intellektuellen Umfelds! – die meditative Versenkung in den Stall von Betlehem, „damit wir unseren Herrn in Windeln in der Krippe liegen sehen. Auch dies war eine Zumutung, ging es doch scheinbar darum, rationales Denken – wenn auch nur exklusiv in dieser Sache – zumindest zu relativieren. Man darf hier daran erinnern, dass bekannte Stoiker wie Seneca und Kaiser Mark Aurel ihre ganze Kraft darangesetzt hatten, dem Leib – verächtlich nannte man ihn „Fleisch
(σαρκίδιον) oder „Körperchen (σωμάτιον) – geistig zu entfliehen. Dasselbe Ziel verfochten auch zahlreiche zeitgenössische Mysterienreligionen, die auf die „Befreiung
vom „Gefängnis des Körpers setzten. Und nun sollte sich in Betlehem der höchste Logos, also Gott, umgekehrt vom Geistigen ins Körperliche „inkarniert
haben? Im Westen ermahnte auch Hieronymus, ein Zeitgenosse des Johannes Chrysostomos, die Gläubigen, sich das Weihnachtsgeschehen zunächst einmal sinnlich zu vergegenwärtigen. Beide Kirchenväter, der östliche wie der westliche, betonten damit, dass der Sohn Gottes, ungeachtet seiner göttlichen Natur ganz und gar Mensch geworden sei. Gerade deshalb erschien die Vorstellung des kleinen, hilflosen „Christkinds" emotional so berührend. Ungeachtet ihrer Bekanntheit, die in der westlichen Gesellschaft allerdings, wie Umfragen im studentischen Umfeld ergaben, rasant abnimmt, sei die berühmte Passage aus dem Lukasevangelium (Lk 2,1–20) hier noch einmal wiedergegeben:
In jener Zeit erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reichs in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal. Damals war Quirinus Statthalter in Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef aus der Stadt Nazareth in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt. Denn er war aus dem Hause und Geschlechte Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war. In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr. Der Engel aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll. Heute ist euch in der Stadt Davidas der Retter geboren, er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt. Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Ehre sei Gott in der Höhe, und Frieden auf Erden den Menschen, die guten Willens sind. Als die Engel sie verlassen hatten und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Lasst uns nach Betlehem gehen und sehen, was uns der Herr verkünden ließ: So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie es sahen, erzählten sie, was ihnen über das Kind gesagt worden war. Und alle, die zuhörten, staunten über die Worte der Hirten. Maria aber bewahrt alles, was geschehen war, in ihrem Herzen auf und dachte darüber nach. Die Hirten aber kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für das, was sie gesehen hatten.
So vertraut diese Geschichte Generationen von Christen später erschien – in einer Zeit, wo die meisten Gläubigen, gerade auch im Judentum, das Göttliche mit der Vorstellung grenzenloser Allmacht verbanden, der man Zorn und Rache, freilich auch Gerechtigkeit und Weisheit zuordnete, musste sie im wahrsten Sinn des Wortes unglaublich erscheinen. Nicht nur dem Gott des Alten Bundes, auch den griechisch-römischen Gottheiten war man über Jahrhunderte zitternd und furchtsam entgegengetreten. Der reaktive Tremor, das „furchtsame Zittern" – es blieb im Christentum, wie auch Blitz und Donner, für das Jüngste Gericht reserviert –, stellte eine angemessene Reaktion auf das Unbegreifliche dar, die Begegnung mit dem göttlichen Numen ließ jede Alltagserfahrung versagen. So scheinbar menschlich es in der homerischen Götterwelt zugegangen war, so dreist sich etwa Zeus seinen Geliebten genähert hatte, es war allein schon der Rahmen der Mythologie, der die geziemende Distanz garantierte. Auch Osiris war, um ein in der Antike bekanntes Beispiel anzuführen, als Sohn der Isis eine haptisch wie optisch unfassbare Gottheit geblieben, nur seinen Priestern auf mystisch-geheimnisvolle Weise zugänglich. Ebenso blieb die altbabylonische bzw. assyrische Heilige Hochzeit (ἱερός γάμος), die Vereinigung von Mensch und Gott, den Gläubigen durch Liturgie und kultische Feiern weit entrückt, zumal sie im Adyton, dem unzugänglichen Teil der Tempel, stattfand. Es war deshalb mehr als verständlich, dass viele Gelehrte skeptisch blieben, was die göttliche Natur des Kindes von Betlehem betraf. Für wie ungebührlich, ja gefährlich man den Anblick des Göttlichen hielt, zeigte exemplarisch die von Plutarch (Plutarch, Isis und Osiris C 9) überlieferte Geschichte vom Jüngling von Sais: Dieser hatte, von Neugier übermannt, im Tempel der Isis zwar die göttliche Wahrheit entschleiert, musste dafür aber sterben („Ihn trieb ein tiefer Gram zum frühen Grabe"). Schiller bearbeitete das Thema später in der bekannten Ballade, wo die Hinterfragung von Mysterien, d. h. die Suche nach dem, was die Welt zusammenhält – in der Aufklärung war sie programmatisch geworden –, überraschenderweise sehr kritisch gesehen wurde. Jan Assmann sieht den Mythos des Jünglings von Sais sogar als Vorbild der jüdischen