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Brief eines Seelenverkäufers
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eBook293 Seiten4 Stunden

Brief eines Seelenverkäufers

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Über dieses E-Book

"Welches Gehör, welche Erotik, welche Lust zu töten. Dänische Literatur in Exportklasse A." - WeekendavisenJens Smærup Sørensen ist ein großartiger Erzähler, der den Leser gern an der Nase herumführt. Es beginnt immer völlig harmlos: Es kommen Menschen zu Wort, die, ausgehend von ihrer jetzigen Lebenssituation, vom entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben erzählen. Diese Wendepunkte sind für die Figuren wie plötzlich auftauchende Wendebojen beim Segeln - eine kleine, oftmals zufällige Bewegung genügt, und schon lenkt der Wind sie von ihrer vorgezeichneten Bahn ab. Dies geschieht plötzlich und unerwartet. Die Geschichten kippen und zeigen Menschen voll Neid und Missgunst und dem Wunsch, andere tot zu sehen. Ein echtes Lesevergnügen!ÜBER DEN AUTORJens Smærup Sørensen hat eine große Anzahl von Romanen und Erzählungsbänden veröffentlicht und war etliche Jahre Hausdramatiker am Theater in Århus. In seinem Schaffen setzt er sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Phänomenen im heutigen Dänemark auseinander. Im Mittelpunkt steht häufig das Aufeinanderprallen einer bäuerlich geprägten Gesellschaft mit ihren traditionellen Werten und dem modernen Individuum, das nach Karriere, materiellem Erfolg und Anerkennung strebt. Zweimal wurde Jens Smærup Sørensen bereits für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert: 1993 für den Erzählband "Brief eines Seelenverkäufers" und 2007 für den Roman "Mærkedage" (Gedenktage).PRESSESTIMMEN"Welches Gehör, welche Erotik, welche Lust zu töten. Dänische Literatur in Exportklasse A." - Weekendavisen"Brief eines Seelenverkäufers ist gespickt mit künstlerisch scharf geschliffenen Diamanten, deren Berührung schmerzt ... Es kocht und brodelt wie in einem schwelenden Vulkan ... nichts Geringeres als ein meisterhaftes Buch." - Politiken"Das ironische Spiel mit der Rolle des Erzählers ist das Hauptkennzeichen von Smærup Sørensens Erzählungen, deren umständlicher Stil zur durchdachten Parodie wird. Indem seine Helden einem anderen schreiben, schreiben sie über sich selbst: überhebliche Machtmenschen, denen irgendwann aufgeht, dass sie keine Macht mehr haben und den Leuten auf die Nerven fallen." - Frankfurter Allgemeine Zeitung-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum9. Dez. 2014
ISBN9788711327258
Brief eines Seelenverkäufers

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    Buchvorschau

    Brief eines Seelenverkäufers - Jens Smærup Sørensen

    Ringhof

    Ich bitte dich

    Ob es Gott gibt, liebe Bodil, ist doch eine Frage, die heutzutage die Aufmerksamkeit der wenigsten in Anspruch nimmt. Ich habe nur ganz zufällig daran gedacht. Oder besser gesagt an etwas, worüber ich etwas gelesen habe, über einen Mann nämlich, der im Sterben lag, und der dann plötzlich, dort auf seinem Krankenlager, zu glauben anfing und Gott anbetete. Eine Person, oder wie soll man sagen ein Phänomen, ein Begriff, etwas, summa summarum, das er ansonsten, in seinem gesamten Erwachsenendasein, hatte verleugnen wollen. Genau in diesem Punkt hatte er sogar einen besonders augenfälligen Mangel an Gewandtheit an den Tag gelegt.

    Persönlich habe ich nie etwas gegen Gott gehabt. Ob es den Betreffenden nun gibt oder nicht. Eine Wende dieser Art konnte für mich also nicht in Frage kommen. Mir ist es nur eingefallen, jetzt, wo ich selbst so daliege. Weil doch auch ich eine Wende vollzogen habe, vor kurzem, wie ich dir erklären muß. Und weil es hier im Bett für mich besonders wichtig geworden ist, auf neue Art verstanden zu werden. Als, ja, als sympathisch betrachtet zu werden. Nichts Geringeres.

    Das wurde ich nämlich niemals, wirklich niemals zuvor, nicht soweit ich mich erinnern kann. Und ich war es wohl auch nie, ich meine sympathisch, wohl auch nicht in der Zeit, an die ich mich nicht erinnere. Ich war bestimmt drei oder vier Jahre alt, als es mir klar wurde. Als ich klar vernahm, daß ich andere Menschen befremde.

    Es war eine meiner vielen Tanten, die es als erste zum Ausdruck brachte. Sie saß mit etlichen der anderen im Gartenzimmer. Ich ging zwischen ihren Knien umher und betrachtete ihre Näharbeitshände und ihre reingewaschenen Gesichter im Sommertageslicht. Es war, als hätte Seife ihre Haut dünn geschliffen. Dann brach sie endlich das Schweigen, jene Tante, die direkt hinter mir saß. Sie sagte: Ich konnte diesen Jungen noch nie leiden!

    Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich mich an den Wortlaut erinnere. Ich bin mir auch fast sicher, daß meine Mutter in diesem Augenblick gerade nicht anwesend war. Und da war niemand, der Einspruch erhob. Ich sah all ihre stummen Augen auf mir ruhen. Ich sah vielleicht einen einzigen Mund, der mir quasi zulächeln wollte. Doch niemand widersprach meiner Tante. Ich konnte nicht daran zweifeln, daß sie ausgesprochen hatte, was wohl alle dachten.

    In den folgenden Jahren sollte ich das ein ums andere Mal bestätigt bekommen. Wohl selten so direkt; in meinem ganzen Leben ist es verblüffend selten passiert, daß jemand so unverblümt gesagt hat, was offenbar alle gefühlt haben. Eher war es so, daß sich die Leute von mir ferngehalten haben, persönlich sozusagen. So wie du es ja auch getan hast, Bodil. Versteh mich nicht falsch! Du hast mich tadellos gepflegt. In allerbester Übereinstimmung mit den Anforderungen, die dein Beruf dir stellt.

    Schon damals, in meiner Schulzeit, war ich keiner Diskriminierung ausgesetzt. Ich gehörte beispielsweise nie zu den Bedauernswerten, auf die zuletzt gedeutet wurde, wenn die Anführer auf dem Fußballplatz ihre Mannschaften wählten. Denn ich war ein mehr als brauchbarer Flügelstürmer, und insofern hatte niemand etwas dagegen, mit mir zusammenzuspielen. Ähnlich hat es mir auch später, in meinem Berufsleben, nie an kooperationswilligen Partnern gemangelt. Sie haben es bloß unterlassen, mit mir kollegial zu verkehren. Sie konnten es wohl irgendwie nicht. Konnten es nicht über ihre Herzen bringen, wie man vermutlich sagt.

    Nach all diesen Jahren verstehe ich immer noch nicht, warum. Warum ich so auf andere wirke. Ich habe ehrlich gesagt recht früh aufgegeben. Zu verstehen, was vonnöten wäre, um anders wirken zu können. Denn ich darf wohl sagen, daß ich ganz gut aussehe. Oder aussah, ehe ich hier in Therapie kam, und ich war und bin wohl auch nicht besonders maliziös, oder wie man es auch nennen mag, ich meine, im Grunde genommen habe ich anderen nie etwas Böses gewollt.

    Verstehst du, Bodil, eigentlich versuche ich nur zu sagen, wenn ich bloß ein anderer gewesen wäre, dann hätten mich wohl, zumindest einzelne, ganz ansprechend gefunden. Mit anderen Worten, ich kann es nicht erklären. Vielleicht kann es auch sonst niemand, vielleicht nicht einmal du, wenn du darüber nachdenken würdest. Ich muß mich wahrscheinlich weiter mit der irrigen Erklärung abfinden, daß meine antipathische Wirkung auf irgendetwas Undefinierbares an meinem Wesen zurückzuführen ist. Das Wort selbst zeigt ja schon an, daß es jenseits aller Vernunft liegt, und wohl auch, daß jeder Versuch, dies zu ändern, hoffnungslos wäre.

    Es ist äußerst schwer, über dies hier auch nur mit einem Mindestmaß an Präzision zu sprechen. Ich mache mir ferner die ganze Zeit Sorgen, du könntest den Eindruck gewinnen, daß ich mich beklage. Was klar gegen meine Absicht ist. Denn teils ist es etwas ganz anderes, was ich von dir will, teils würde jeder Anflug von Klage das Bild meiner realen Person verschleiern, und ein solches unretuschiertes Bild ist für mich eine conditio sine qua non für den glücklichen Ausgang dieser Anfrage, ja es ist wohl bereits ein Teil ihres Ziels. Wenn du jetzt dennoch einen Unterton von Selbstmitleid verspüren solltest, dann liegt das ausschließlich an gewissen Mißklängen, die an den Wörtern kleben. Ich bitte dich, daran zu denken und diese sprachliche Fehldeutung zu berücksichtigen.

    Ich kann dir nämlich versichern, daß ich nicht zu bedauern bin. Wohl habe ich einsam gelebt, doch wer hat das nicht? Die meiste Zeit. Und Gesellschaft habe ich gehabt, ebenso viel wie andere. Ich bin sogar umschmeichelt worden. Nicht selten sind Menschen aufgetaucht, die ihren Ehrgeiz darauf richteten, mit mir Umgang zu pflegen. Natürlich nicht, weil sie sich von mir angezogen fühlten. Wohl nur, weil sie sich selbst beweisen wollten, daß es möglich war. Ich bin auf diese Weise mehrere Male in exzentrische Kreise aufgenommen worden, wo man Leute zu sehen wünschte, die auf die eine oder andere Weise bizarr waren. Ich wurde jedoch jedes Mal und meist sehr schnell aus denselben Gründen ausgetauscht. Ich kam ihnen bei etwas näherer Bekanntschaft zu, ja, zu gewöhnlich vor. Nehme ich an.

    Doch, was auch geschah, ich hatte mein Geld. Habe ja immer Glück mit meinen Geschäften gehabt, also ja, ich bin auch, wie ich dich bereits habe wissen lassen, so viel steht wohl fest, ich bin also tüchtig gewesen, enfin, ich habe ein abwechslungsreiches und bequemes Leben führen können. Ich war in der Lage, Bodil, mir, unter vielem anderem, erotische Erlebnisse zu kaufen, das solltest du auch wissen, von einer Qualität, die ja doch niemandem, wie sympathisch er auch wirken mag, gratis zuteil wird. Vielleicht nicht einmal so sehr in pekuniärem Sinn.

    Ich könnte fortfahren. Ich könnte viele Fälle nennen, in denen dieses Wesen, das also nun einmal meines ist, mir gewisse Vorteile verschafft hat. Wenn auch vielleicht etwas drollige, ab und zu im Grunde genommen etwas peinliche. Doch ich habe gänzlich unbeschwert und furchtlos, beispielsweise, die Metropolen dieser Welt durchwandern können. Nie in meinem Leben bin ich angetastet worden. Nicht einmal von dem ärmsten Bettler. Dennoch habe ich gegeben, ja, verzeihe mir, daß ich es erwähnen muß, du kannst mir glauben oder es lassen. Ich nenne es bloß im Interesse der Wahrheit, daß ich oft Anstrengungen unternommen habe, um eine Gelegenheit zum Geben zu bekommen. Ohne damit jemanden in eine Situation zu bringen, in der er oder sie sich genötigt fühlen mußte, mir zu danken.

    Ich hoffe, daß ich dich überzeugt habe: Nie zuvor habe ich ein derartiges Bedürfnis gehabt, anders zu wirken. Das ist eine Wende, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Aber das kann anscheinend passieren, wenn man so daliegt, wie ich es nun tue. Nicht daß ich etwas dagegen hätte. Auch hinsichtlich dieser Behauptung muß ich an deine freundliche Anerkennung meiner Aufrichtigkeit appellieren. Damit du den Ernst in dieser Krise verstehen kannst, die mich jetzt eventuell dazu reif macht, eine flexiblere Haltung einzunehmen. Damit du also verstehst, daß ich zuvor wirklich nicht das Geringste dagegen gehabt hätte, zu sterben.

    Der Umschwung wurzelt vermutlich in meiner plötzlichen Entkräftung. Als würde ich es als erschütternde Erfahrung empfinden, mich nicht einmal mehr auf meinen Körper verlassen zu können. Man kann wohl auf jeden Fall sagen, daß ich eine derartige Gewißheit vermisse. Daß ich von diesem Bedürfnis geplagt werde, daß sich jemand meiner annimmt, ich meine, das sollte man doch zumindest verlangen können. Es mag andere Erklärungen geben. Doch ich habe das Gefühl, daß, unabhängig davon, wie viele ich mir ausdenke, sie nicht weniger unzulänglich wären. Mich bloß mehr und mehr zum Narren machen würden.

    Die Sache ist doch die, daß ich meine innere Kehrtwendung als ein fait accompli zur Kenntnis nehmen mußte. Ich komme nicht darum herum, daß ich mir nun wünsche, an der Art Lächeln und insofern auch an der Art fröhlicher Bemerkung teilzuhaben, die du so oft an meine Mitpatienten richtest. Ich möchte teilhaben an dem Gefühl, das du ihnen anscheinend gibst, nämlich daß du und die Ärzte mehr tun als eigentlich in eurer Macht steht. Natürlich nicht, uns am Leben zu erhalten. Aber vielleicht unseren Leiden Sinn zu geben. Nein. Auch das kann ich nicht erklären. Es ist einfach so. Ich möchte sympathisch sein. Damit du tust, was du kannst. Es überkam mich wohl, als ich nicht mehr selbst essen konnte. Oder vielleicht begann es schon, als ich Haare und Nägel verlor.

    Nun könntest du mit gutem Grund fragen: Warum erzählt er das alles gerade mir? Und ich müßte antworten, daß ich mir nicht einen Augenblick habe vorstellen können, damit bei einem der anderen etwas zu erreichen. Du bist mir sofort ins Auge gefallen, schon als ich eingeliefert wurde. Ich hatte und habe nämlich meinen Sinn für weibliche Schönheit immer noch nicht verloren, was viele ansonsten wohl annehmen müßten. Doch es ist klar, dein Äußeres war es nicht allein, ich erwähne es nur der Vollständigkeit halber, für sich genommen stimmt es ja überhaupt nicht angesichts meines neuen Drangs. In weitaus höherem Maß bewirkt etwas anderes, daß ich an dir festhalte. Etwas anderes an dir, ich weiß nicht was. Wenn es nicht dein dir eigenes Wesen ist.

    Ja, schon wieder präsentiert sich dieses Wort, wie eine Mauer, gegen die wir immer wieder mit dem Kopf anrennen, ohne dem näher zu kommen, was sich hinter ihr verbirgt. Auch wenn es wohl das ist, was ich in deinen Augen ahnen konnte und, ein einziges Mal, ganz deutlich, gesehen habe, denn gestern sah ich es, sah es so wunderbar klar, in deinem Lächeln.

    Genau das möchte ich wieder sehen! Das, was ich mehrere Wochen lang hervorzubringen versuchte, ohne zu wissen, was es war, völlig ohne Ahnung, wie überirdisch schön es war! Bis gestern, als ich schließlich verstand, daß all meine blinden Bemühungen nicht bloß ineffektiv gewesen waren, sondern vielleicht sogar gegen sich selbst gearbeitet hatten. Daß ich dich damit mehr schikaniert hatte als mit irgendetwas anderem. Ich bitte dich, natürlich, nicht darum, mein Benehmen nun zu entschuldigen, darf aber doch zu erklären versuchen, daß ich es eine Zeitlang für opportun halten konnte, Mittel anzuwenden, die mir im Grunde fern liegen.

    Daß es meine Enkelin war, die ich zuallererst zum Gegenstand meines Erzählens gemacht habe, mag vielleicht naheliegend erscheinen, dennoch mußte ich dieses Thema lang im Kopf drehen und wenden, ehe ich mich dazu aufraffen konnte, dir ihre Konfirmation zu Gehör zu bringen. Ich fand ja, ganz abgesehen von jeglicher Forderung nach Wahrheit, daß es zu banal war, was es wirklich auch ist. Auf der anderen Seite dachte ich, wäre es dumm gewesen, nicht zu sehen, wie viel meine Zimmergenossen aus dir herausholen können, indem sie einfach über ihr Familienleben plappern. Kein diesbezügliches Detail ist anscheinend zu unbedeutend, als daß du ihnen deine volle Aufmerksamkeit verweigertest.

    Daher mußtest du von diesem großen Ereignis, wie ich gewiß schon sagte, im Leben meiner lieben Enkelin hören. Ich war mir natürlich im klaren darüber, daß es in meinem Fall schon etwas Besonderem bedurfte, daher faselte ich immer wieder von meiner Trauer, sie vielleicht nicht mit meiner Anwesenheit beglücken zu können. Und als du dann einwandtest, daß es bis zur Konfirmationszeit ja noch lange hin wäre, konnte ich keinen anderen Ausweg sehen als von vorne zu beginnen, mit ihrer frühesten Kindheit. Du wirst zweifelsohne noch nicht oft gehört haben, wieviel Vergnügen ein älterer Mann an seiner Enkelin haben kann. Du wußtest wohl auch, daß dies alles gelogen war.

    Das muß ich jetzt fast hoffen. Und daran lag es doch wohl auch nicht, daß es überhaupt nicht wirkte? Es ist für dich wohl auch nicht entscheidend, ob die Ergüsse der anderen auf Wahrheit gründen oder nicht? Nein, wenn es ganz und gar nicht wirkte, oder dir nur unwohl davon wurde, mir zuzuhören, dann deshalb, weil du tiefer in mich blicktest als nur so lala. Möchte ich jedenfalls glauben. Dir war klar, daß ich nicht einmal wünschte, all diese Torheiten, von denen ich dir erzählte, könnten wahr sein.

    So stellte ich mir deine Position vor. Für meinen nächsten Versuch suchte ich deshalb nach etwas, was meinem eigentlichen Leben näherlag, so daß du auf jeden Fall eine etwaige Andeutung von Unbehagen als authentisch würdest erleben können. Denn ich wußte ja sehr gut, daß der Bericht von meiner Karriere an sich es schwer haben würde, dir mehr als nur ein höfliches Nicken zu entlocken; auch als ich sie ausbaute, ihr Bedeutung über das Privatwirtschaftliche hinaus gab, hatte ich vor Augen, daß sie dich kalt lassen würde, wenn ich dir nicht auch den Eindruck vermitteln könnte, daß ich sie selbst, vielleicht menschlich gesehen, gar nicht so interessant fand. Also fuhr ich fort, du zwangst mich, Bodil, ja ich werfe dir gewiß nichts vor, aber deine neutrale Aufmerksamkeit glich mehr und mehr einem Abwarten, ich meine, einer schwachen Erwartung.

    So als würde ich bald und ganz ohne Vorbehalt eine große Leere in meinen beruflichen Siegen gestehen. Deshalb fuhr ich fort, meine Erfolge zu vergrößern. Um schließlich so viel wie möglich von der Leere übrig zu haben. Und als ich dann endlich bereit war, dich mit ihr zu packen, dir all meinen weltlichen Erfolg für zutiefst vergeblich zu erklären, da fürchtete ich zuerst, daß ich schon längst hätte aufhören sollen. Fürchtete, daß es in deinen Ohren eher abschreckend klingen würde, oder bloß komisch? Möglicherweise gelang es mir, meine Pointe so unprätentiös zu murmeln, daß es für dich nicht allzu schwer war, die Fassung zu bewahren. Ein minimales Zusammenziehen deiner Nasenlöcher bemerkte ich. War das vielleicht sogar Ausdruck einer kleinen Enttäuschung? Das war dann wenigstens etwas.

    Eine deutlichere Reaktion erhielt ich von meinen Mitpatienten. Sie haben mich seither geschnitten, noch mehr als zuvor, das heißt total. Vielleicht sind sie der Ansicht, daß ein Mann mit meiner fantastischen Karriere jemanden wie sie in keiner Weise gebrauchen kann. Vielleicht hassen sie mich auch, weil ich dir anvertraut habe, daß mir die erreichten Privilegien gleichgültig waren, oder mehr noch, daß ich ihrer überdrüssig war. Sie liegen auf jeden Fall da, als wären die drei allein, als ob hier drinnen wirklich nur drei Betten stehen. Meine Ecke gibt es für sie nicht, auch nicht bei Tagesanbruch, wenn ich ziemlich laut stöhne.

    Mein jämmerlicher Zustand war im übrigen das letzte, was ich dir gegenüber als Waffe verwenden wollte. Dein Mitleid zu provozieren, ich fand, daß das zu billig wäre, das werde ich doch wohl noch sagen dürfen. Nicht weil es mir nie recht schwer fiel, mir selbst positive Eigenschaften zuzuschreiben, ganz zu schweigen von edlen, obwohl ich andererseits mit allgemeinem Takt vielleicht nicht so viel geringer ausgestattet war als viele andere, auf jeden Fall als eine ganze Reihe anderer, soweit ich das beobachten und vergleichen konnte. Doch sieh davon einmal ab! Ich fand, daß dein Mitleid zu billig wäre, und zu ordinär, viel zu ähnlich dem, was du wohl fast automatisch jedem anderen gewährst; diesen Hang von dir auszunutzen, hätte dich ja deiner Freiheit mir gegenüber beraubt.

    Ich fühlte wohl auch, daß ich mich selbst um des möglichen Triumphes betrügen würde, daß du dich sozusagen, irgendwann, vollkommen freiwillig übergäbest. Aber ich wußte allmählich auch nichts Besseres, als daß gerade Heulen meine letzte Chance wäre, um überhaupt und völlig glanzlos auch nur das Mindeste von dir beschert zu bekommen. Deshalb geschah es also. Daß ich begann, dich mit meinen Tränen zu belästigen. Und aus Obenstehendem wirst du verstehen, daß es mich ernsthaft überraschte, daß du sie nicht im Geringsten honoriertest. Es erschütterte mich ganz einfach, daß ich nicht imstande war, auch nur einen Deut an Teilnahme aus dir herauszupressen. Wunderte dich das nicht auch selbst ein bißchen, Bodil?

    Ja, das dachte ich mir. Daß es dir vielleicht ein bißchen schwer fiel, zu jemandem etwas abzuschlagen. Vielleicht spürtest du, daß du mit dieser deiner Fähigkeit, die du selbst bis zu diesem Zeitpunkt als unerschöpflich angesehen hattest, gegen eine Grenze geprallt warst? Darin werde ich mich jetzt nicht weiter einmischen. Ich respektierte es auch bald. Ich stellte mich darauf ein, jedem Grad von Erfüllung zu entsagen. Darauf, von hier zu gehen, wie ich kam. Ich gab auf, ein weiteres Mal.

    Ich gab es auf, die letzten Stunden meines Lebens darauf zu verwenden, mich mit ihm zu versöhnen, ich wünschte nur, daß es wenige und kurzweilige wären. Das, was dann gestern geschah, das, was ich dir eigentlich erzählen wollte, denn du selbst kannst nicht wissen, wie viel da geschah. Aber es entsprang also der Resignation. Es ist ausschließlich dein Verdienst, daß es anders aufgefaßt werden konnte. Vielleicht dank des Zufalls, daß du spät hereinkamst.

    Zuvor war von anderen entschieden worden, daß meine verschiedenartigen Ausflüsse meine Matratze in einem solchen Umfang verunreinigt hatten, daß sie ausgetauscht werden sollte. Wir waren schon lange damit beschäftigt gewesen, mich auf eine Bahre zu verfrachten, als du auftauchtest, zumindest so weit ich weiß, denn ich sah nicht viel um mich herum. Oder ich sah sehr scharf den Abstand zwischen dem Bett und der Bahre, ich sah die Hände, den Stahlbügel, den ich mit meiner Linken zu umarmen versuchte, meine kraftlosen Beine, die grausam entschlossenen Gesichter, und ich schrie. Dennoch glaube ich, daß du erst da warst, gerade als ich mich mäßigte und bloß schrie: „Laßt mich los, Teufel noch mal! Ich geh selbst!"

    Denn dann spürte ich plötzlich deine Finger an meiner Stirn. Und ich sah deine Augen und dein Lächeln. Du erinnerst dich wohl daran, denn du sagtest: „So muß es sein, Herr Johansen, mit der Einstellung werden wir Sie bald gesund bekommen!"

    Das war voller Süße. Und doch herzzerreißend. Denn sobald ich auf der neuen Matratze zurechtgelegt worden war, konnte ich das Mißverständnis erkennen, das dich mit einem Mal für mich eingenommen hatte. Du glaubtest, daß ich leben wollte, das war doch sofort so einleuchtend, ich konnte kaum verstehen, daß ich nicht darauf gekommen bin, sozusagen selbst. Das war, das ist das Einzige, was du brauchtest, um auch mich zu mögen; daß ich leben, gesund sein wollte. Und mein einziges Problem dabei war, und ist, daß ich das im Grunde nicht will.

    Es interessiert mich, ehrlich gesagt, nicht in höherem Maße als vorher. Und dennoch will ich dich wieder so sehen. Um jeden Preis, ja auch um den, mit dem du drohtest, daß ihr so die Möglichkeit haben werdet, mich zu kurieren. Auch wenn du wohl nicht im Ernst daran glaubst? Du hast wohl gelogen, aber das ist auch egal. Objektiv gesehen weiß man es bloß niemals. Es ist vielleicht sogar wahrscheinlich, daß ein forcierter Lebenswillen von meiner Seite, zusammen mit einer begeisterten Pflege von deiner, das Leiden verlängern kann.

    Ich stehe unterdessen auf dem Standpunkt, daß ich bereit sein werde, ein solches Risiko einzugehen. Vorausgesetzt, daß du eine Vereinbarung unterschreiben kannst, die zu skizzieren ich mir hiermit erlaube: Ich verspreche, leben zu wollen, mit meinem ganzen Herzen und all meiner Kraft, und diesem Willen einen passenden Ausdruck zu verleihen. Du zeigst mir im Gegenzug jeden Tag dein Gesicht, so wie du es gestern tatest, du öffnest deinen Blick für mich, du läßt dein Licht, deine Wärme in mich hineinstrahlen. Aber darüber hinaus verpflichtest du dich (denn das bisher Angeführte fällt dir, wie ich weiß, so leicht, daß du es gewiß selbst nicht als eigentliche Pflicht auffassen wirst) zu folgendem, nämlich an dem Tag, an dem du findest, daß ich meinen Teil nicht länger erfülle (und ich überlasse es vollkommen dir, den Tag zu wählen, und das entsprechende Ausmaß deiner Skepsis zu bestimmen): Schau mich weiter so an. Halt meinen Blick fest in deinem. Zieh währenddessen eine Spritze auf, und hau sie mir rein.

    Was meinst du, Bodil

    Brief (1)

    Tausend Dank! Ich habe mich sehr gefreut, Dich zu treffen, Holger!

    Insgesamt gesehen finde ich, daß wir ein richtig schönes Treffen hatten. Ich bin ja inzwischen schon einige Jahre dabei, aber ich glaube, ich bin nie zuvor mit einem so starken Glauben nach Hause gereist, daß wir jetzt eine Politik festgeschrieben haben, für die zu kämpfen es sich wirklich lohnt. Und ich muß sagen, daß dieses Treffen für mich auch rein persönlich sehr zufriedenstellend war. Man kann an politischer Arbeit ja nicht teilnehmen, ohne hier und da ein paar blaue Flecken abzubekommen, und dazu war ich auch bereit, aber ich konnte es kaum verkraften (wie lächerlich es auch ist!), wenn mir einige der alten Herren unterstellten, daß ich eigentlich nur kraft meines Aussehens einen gewissen Einfluß in unserer Partei erlangt habe. Sie sind mir gegenüber so grob gewesen, so stur, daß ich sehr oft halbe Nächte mit Heulen verbracht habe!

    Jetzt glaube ich aber doch, daß ich ihnen endlich den Mund gestopft habe. Ich erhielt wirklich so viel warmen Zuspruch von Leuten, die mich für das respektieren, wofür ich stehe. Ich fühlte bei diesem Treffen, daß plötzlich eine neue Atmosphäre entstanden ist, eine reinere Luft, ja ein schönerer Geist! Und auch wenn es immer nett war, ein paar Tage zusammen mit guten Parteifreunden und in schöner Umgebung zu verbringen, so habe ich bei weitem nicht jedes Mal einen Menschen getroffen, mit dem ich so reden konnte, wie wir beiden es taten, Holger!

    Aber es gibt ja zum Glück auch andere als mich, die guten Grund haben, sich zu freuen. Wir sind am letzten Abend darauf zu sprechen gekommen, Holger, und seitdem ist es mir nur noch klarer geworden: Dieses Treffen wurde ein entscheidender, vielleicht der entscheidende Sieg für Niels! Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann kann ich beinahe hören, daß sozusagen sämtliche Reden an ihn gerichtet waren. Ja, nicht unbedingt direkt, und deshalb war es ja vor Ort auch nicht ganz so offensichtlich, aber in Wirklichkeit war es seine Einleitungsrede, die jeder, der ernst genommen werden wollte, zum Ausgangs- und Bezugspunkt wählen mußte!

    Niels hat sich im Zentrum unserer Partei plaziert. Endlich, könnte man sagen, dafür aber nun mit Nachdruck, und das freut mich aufrichtig für ihn. Und für die Partei ganz gewiß auch. Ich weiß ja, daß auch du von seiner Rede begeistert warst. Ich kann mir auch niemand anderen vorstellen, der es hätte besser machen können. Es war sowohl klug als auch kraftvoll, was Niels sagte. Und es war ungeheurer elegant, wie er nicht nur unsere Gewichtung der Umwelt definitiv zementierte, sondern sie auch mit, wie er sie nannte, einer ‘neuen persönlichen Mündigkeit’ verband, die Öffnung hin zu einer größeren individuellen Freiheit und einer spürbareren persönlichen Verantwortung, die den Lebensbedürfnissen moderner Menschen entgegenkommt.

    Natürlich habe ich auch festgestellt, daß Niels ein Name in der Presse geworden ist, auch für unsere Gegner. Mit einem Mal ist ihnen aufgegangen, daß wir einen echten Trumpf in der Hand haben! Und ich habe keine Spur eines Zweifels, daß Niels all die Qualitäten hat, die er jetzt benötigen wird. Er ist immer blitzgescheit gewesen, er weiß mehr als die meisten, er kann sich so ausdrücken, daß es die Leute verstehen, sein Engagement wirkt vollkommen echt, und

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