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Hekates Erbe: Der Schlüssel des Himmels
Hekates Erbe: Der Schlüssel des Himmels
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eBook688 Seiten9 Stunden

Hekates Erbe: Der Schlüssel des Himmels

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Über dieses E-Book

Katharina, Milán und Joshua sind der Hölle entronnen, doch sie müssen mit dem begehrten Weltenschlüssel nach Heidelberg zurückkehren. Während Katharina von ihrer Großmutter heimlich zur Geisterjägerin ausgebildet wird, machen sich Joshua, Milán und Gábor mit dem Schlüssel erneut auf nach Frankreich.
Sie lassen Katharina in trügerischer Sicherheit zurück, um endlich mehr über die Vorgänge innerhalb der Ghost Hunter Association herauszufinden. Doch die fremden Jäger wollen weit mehr als den Schlüssel.
Sie machen weiter Jagd auf Katharina und ihre Familie. Als Gefangene im Pariser Hauptquartier hat Katharina nicht nur einige unerwartete Begegnungen, sie kommt auch der Enthüllung ihrer wahren Identität ein ganzes Stück näher. So sehr sie sich dagegen wehrt, Katharina hat längst eine Reise angetreten, die sie für immer verändert. Bald schon fegen die Reiter der Apokalypse über die Erde und die Zeit arbeitet gegen Katharina und ihre Freunde.
Am Ende liegt es bei ihr und dem jüngsten Geisterjäger das Richtige zu tun. Eine falsche Entscheidung - und der Zorn des Himmels wird die Erde für immer vernichten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum27. Apr. 2020
ISBN9783751910002
Hekates Erbe: Der Schlüssel des Himmels
Autor

Sarah Short

Sarah Short wurde 1985 in Heidelberg geboren. Zum Studieren zog sie zwanzig Jahre später nach Freiburg im Breisgau, wo sie noch heute mit ihrem Mann, ihren beiden Söhnen und zwei Kaninchen lebt. Neben dem Schreiben und ihrer Arbeit als Lehrerin verbringt sie gerne Zeit mit ihren vielen Büchern oder in der Natur; mal mit, mal ohne Pferd.

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    Buchvorschau

    Hekates Erbe - Sarah Short

    Clavicula noctis – der Schlüssel zur Nacht

    Clavicula potestatis – der Schlüssel zur Macht

    Clavicula lucis – der Schlüssel des Lichts

    Clavicula iudicii – der Schlüssel des Gerichts

    Hekates Tochter, Tochter der Hölle

    Tochter der Lilith, die Gnadenvolle

    Mit den Wölfen sie heult, mit den Geistern sie ringt

    Die Reine, die Königin, den Meister bezwingt

    Clavicula ultramundi – der Schlüssel des Jenseits

    Clavicula mundi – der Schlüssel des Diesseits

    Clavicula inferibus – der Schlüssel der Hölle

    Clavicula affluentiae – der Schlüssel der Fülle

    Der Morgenstern, durch Liebe er fällt

    und Hekates Erbin die Macht erhält

    Doch siehe, solche Macht bald schwindet

    Wenn sie an Lug und Trug sich bindet

    Clavicula caeli – der Schlüssel des Himmels

    Clavicula angeli – der Schlüssel des Engels.

    Clavicula solii – der Schlüssel des Thrones

    Claviula filii – der Schlüssel des Sohnes

    Zwischen den Welten Frieden wird kommen

    Wenn die Königin Luzifers Thron erklommen

    Der Königin elender Untergang wird sein

    Lässt der Schatten kein Licht mehr herein

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Kapitel 36

    Kapitel 37

    Kapitel 38

    Kapitel 39

    Kapitel 40

    Kapitel 41

    Kapitel 42

    Kapitel 43

    Kapitel 44

    Kapitel 45

    Kapitel 46

    Kapitel 47

    Kapitel 48

    Kapitel 49

    Kapitel 50

    Kapitel 51

    Kapitel 52

    Kapitel 53

    Kapitel 54

    Kapitel 55

    Kapitel 56

    Kapitel 57

    Kapitel 58

    Kapitel 59

    Kapitel 60

    Kapitel 61

    Kapitel 62

    Kapitel 63

    Kapitel 64

    Kapitel 65

    Kapitel 66

    Kapitel 67

    Kapitel 68

    Kapitel 69

    Epilog

    Quellenverzeichnis

    Prolog

    Kapitel 1

    Prolog

    Der Wald war in unwirkliches, grünes Dämmerlicht getaucht, als ich mich durch das dichte Unterholz vorwärtskämpfte. Nur nicht stehenbleiben, immer weiter. Irgendwo musste Joshua doch stecken. Hinter mir knackten Äste, raschelten Blätter, doch jedes Mal, wenn ich mich über die Schulter umsah, war dort niemand zu sehen.

    Ich war allein in dem endlosen Grün. Der Wald wirkte, als würde er vor Leben strotzen, die Luft war erfüllt mit dem erdigen, beerigen Geruch von Wachstum und Vergehen. Ein solcher Wald sollte summen und klingen von Vogelgezwitscher und den leisen und lauten Geräuschen der vielen Tiere, die ihn bevölkerten, aber ich hörte und sah kein einziges der Höllengeschöpfe, vor denen Akibeel mich gewarnt hatte. Ich war mutterseelenallein. Und doch wieder nicht. Schritte waren mal nah, mal fern von mir, Schritte eines oder mehrerer Unsichtbarer.

    Immer wieder blickte ich mich um, drehte mich um die eigene Achse und blieb schließlich stehen.

    „Zeig dich!", befahl ich der leeren Luft um mich herum.

    Hinter einem dicken Baumstamm kam ein junger Mann in Jeans und T-Shirt hervor.

    1

    Als es dämmerte, fuhren wir kollektiv in die Höhe, weil jemand die Schiebetür des Busses aufriss.

    Man hatte uns gefunden.

    „Was glaubt ihr, was ihr hier tut?", fragte Papas zornige Stimme.

    Ich blinzelte angestrengt und brauchte einen Moment, um klar zu sehen. Mein Vater steckte den Kopf zur hinteren Tür herein und musterte uns mit bösem Blick. Papa, sonst die Gutmütigkeit in Person, zeigte sich mehr als erbost. Ein riesiger, wütender Berg von einem Mann.

    „Wo kommst du denn her?", wollte Joshua verschlafen wissen. Seine kurzen Haare standen nach allen Richtungen ab.

    Papa schimpfte: „Aus Heidelberg, woher denn sonst? Ich hab euch die ganze Nacht gesucht, verdammt noch mal! Spinnt ihr eigentlich? Ihr könnt doch nicht einfach abhauen!"

    Ich konnte verstehen, dass er nach einer solchen Nacht seinem Zorn Luft machen wollte, aber wir hatten gute Gründe für unser heimliches Fortgehen gehabt. Wir hatten Papa, Oma, Matthias und Irmgard aus der Gefahrenzone entfernt, indem wir mit dem Weltenschlüssel weggegangen waren. Die Vehemenz, mit der man uns verfolgt hatte, zeigte mir, wie richtig diese Entscheidung gewesen war. Und wir besaßen ihn noch immer. Trotzig reckte ich das Kinn und sah meinem Vater herausfordernd in die Augen. Es tat mir weh, dass wir in letzter Zeit selten einer Meinung sein konnten, dass ich irgendwann aufgehört hatte, Papas kleines Mädchen zu sein.

    Manchmal vermisste ich das beschauliche Familienleben vor all dem, als ich keinen magischen Schlüssel besessen und nichts von Geisterjägern und ihren Machtspielchen mit der Hölle geahnt hatte. Doch mir war ebenso klar, dass es keinen Zweck hatte, der Vergangenheit hinterher zu trauern. Ich gewöhnte mich langsam an diese neue Zeit, sie fing sogar an, mir zu gefallen. Jedenfalls der größte Teil davon.

    Dinge ändern sich, Papa, dachte ich, während ich ihn unverwandt ansah. Ich wusste nicht, ob er es hörte, denn seine Miene gab keinen Aufschluss darüber.

    Joshua und Milán sagten nichts, sondern beobachteten meinen Vater und mich. Ihre staunenden Mienen ließen sie wie Geschwister wirken. Durch ihre ähnliche, sehnige Statur und die widerspenstigen dunklen Haare sahen sie sich ohnehin ähnlich. In jeder anderen Situation hätte ich mich darüber amüsiert. Doch jetzt wuchs der Zorn in mir.

    Noch nie hatte ich mich dermaßen ungehorsam gezeigt und mir kam es vor, als würde Papa zum ersten Mal bemerken, wie sehr ich mich in den letzten Monaten verändert hatte. Es erstaunte mich selbst, was die Geschehnisse seit unserem Umzug mit mir gemacht hatten. Statt mich in meinem eigenen Mikrokosmos zu verkriechen, ging ich neuerdings in die weite Welt hinaus, um sie zu verändern, um mich für andere einzusetzen. Nach dem traumatischen Erlebnis heute Nacht, als ich Dämonen und ein höllisches Monster getroffen hatte, gefangen genommen und gefoltert worden war, nach all der Angst und meiner Hilflosigkeit, blieb ich mehr denn je entschlossen, nicht mehr tatenlos zuzusehen. Und ausgerechnet mein Vater verlangte von mir, dass ich wieder in mein Schneckenhaus zurückkroch und mich aus allem heraushielt. Ich schickte diese Gedanken ganz bewusst an ihn.

    Er zuckte zusammen, als er die Erinnerung an meine Schmerzen und meine Todesangst fühlte. Doch seine Miene blieb hart. „Nicht auf diese Weise", antwortete er nach einer Pause darauf. Bewundernswert, wie er es schaffte, weniger mordlustig zu klingen.

    „Ihr kommt jetzt mit nach Hause. Joshua, Katharina: Ihr habt Hausarrest, und zwar ab jetzt über die ganzen Weihnachtsferien. Milán, von dir hatte ich mehr Verantwortungsgefühl erwartet. Am liebsten würde ich dich bei deinem Vater abliefern, aber der ist gestern abgereist. Mir steht es nicht zu, dich zu bestrafen. Das soll Herr Farkas übernehmen, wenn er wieder da ist. Aufgrund der gegenwärtigen Sicherheitslage seid du und dein Bruder trotzdem weiterhin eingeladen, mit uns das Weihnachtsfest zu verbringen. Ihr könnt bei uns wohnen, bis Herr Farkas aus Paris wiederkommt, was nach den Feiertagen der Fall sein dürfte. Es ist für alle ungefährlicher, wenn so viele Jäger wie möglich zusammen sind. Sobald dein Vater zurück ist, kannst du mit ihm darüber reden. Benachrichtigt habe ich ihn bereits."

    Was unnötig war, schließlich hatte Herr Farkas letzte Nacht zusammen mit seinen Söhnen und einem Dämonenheer gegen andere Dämonen gekämpft und dadurch sowohl meine Entführung in die Hölle als auch den Raub des Schlüssels verhindert. Dass er seinen Sohn für diesen erneuten Ungehorsam bestrafen würde, glaubte ich Papa allerdings sofort.

    Joshua gab keine Widerworte, Milán sah aus dem Fenster wie ein bockiger Zweitklässler.

    Mich selbst hielt nichts mehr. „Das kannst du nicht machen! Weißt du, wo wir Milán gestern Abend rausgeholt haben? Aus dem Keller! Herr Farkas hat seinen eigenen Sohn im Keller eingesperrt! Zu so einem kannst du ihn doch nicht zurückschicken, das ist ja ein Fall fürs Jugendamt!" Bebend vor Aufregung wartete ich auf seine Antwort.

    „Das klären wir später. Ihr esst jetzt was und dann fahrt ihr mit mir zurück nach Hause."

    Ich schnaubte. Ja klar. Joshua hatte seine Sprache wiedergefunden. „Wie bist du hierhergekommen? Bist du geflogen?"

    Trotz meines Ärgers prustete ich leise. Seit Joshua die übersinnlichen Fähigkeiten unseres Vaters entdeckt hatte, traute er ihm anscheinend alles zu. Außerdem hatte er heute Nacht zu viel Abartiges gesehen.

    „Quatsch! Da hinten steht das Auto von meiner Mutter. Und bevor ihr auf dumme Gedanken kommt: Die Knutschkugel nimmt es mit der alten Mühle hier locker auf."

    Ein kleines verschmitztes Lächeln huschte über sein ernstes Gesicht, dann schmiss er die Tür zu und marschierte zu dem Opel Corsa, den er direkt hinter dem Bus abgestellt hatte. Sein aufstampfender Gang verriet seinen Zorn. Vermutlich hatte er nicht alles herausgelassen, sondern sich etwas für später aufgehoben, wenn er gemeinsam mit Irmgard und Oma Waltraud ein Straftribunal abhalten würde. Mir grauste davor. Hätten wir bloß nicht geschlafen! Das hatten wir jetzt davon. Wer wusste schon, wann uns die Erwachsenen ein weiteres Mal lange genug aus den Augen lassen würden, um einen neuen Versuch zu wagen. Jetzt verloren wir Wochen.

    Da keiner Lust zum Frühstücken hatte, brachen wir auf und knabberten während der Fahrt Butterkekse und Brezelreste vom Vortag. Ich untersuchte meine Wunden, obwohl ich diesen Vorfall am liebsten vergessen wollte. Sie waren kaum noch sichtbar. Weil ich die Augen aufriss und hektisch einatmete, fragte Milán: „Was ist?"

    „Nichts, beeilte ich mich zu sagen, um ihn nicht zu beunruhigen. „Der Gargoyle hat mich bloß angeritzt. Es hat sich schlimmer angefühlt.

    „Da sie dich entführen wollen, hatte er sicher den Befehl, dich am Leben zu lassen." Seine Worte klangen neutral, trotzdem streichelte er tröstend mein Gesicht. Der Gargoyle hatte mich umbringen wollen, nicht lediglich angeritzt. An diesen Wunden hätte ich verbluten müssen. Für wen hatte der Dämon gearbeitet? Grüblerisch schaute ich aus dem Fenster in die neblige Dämmerung. Die dichten Wolken am Himmel versprachen Regen oder sogar Schnee.

    Die Jungs schwiegen beharrlich. Offenbar fühlte sich niemand danach, neue Pläne zu schmieden. Stattdessen hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu erkunden, sondern blieb in meinem eigenen Kopf.

    Ich fühlte mich nicht halb so mies, wie ich sollte. Es tat mir zwar leid, unseren Eltern und Oma einen solchen Schrecken eingejagt zu haben, aber ich hatte keine andere Wahl gehabt.

    Jetzt musste ich sehen, wie ich die Scherben zusammenfegte und eine andere Möglichkeit fand, meine Aufgabe zu erfüllen. Vielleicht sollte ich mich nicht über Papas Eingreifen ärgern. Manchmal musste man ein bisschen Vertrauen in den Lauf der Dinge haben. Nicht mehr lange und die Erwachsenen würden einsehen, dass sie mit uns zusammen mehr erreichen konnten als allein.

    Milán beugte sich herüber, um mich auf die Wange zu küssen. Als Antwort auf die Gedanken, die er aufgeschnappt hatte, nickte er und lächelte. Es schien ihm besser zu gehen.

    Dann ließ er mich los und kletterte nach vorn zu Joshua auf den Beifahrersitz. Ich konnte nicht hören, was die beiden miteinander besprachen, aber sie würden es mir sicherlich hinterher erzählen. Die wenigen Stunden unruhigen Schlafs forderten ihren Tribut. Den Kopf an den Kittel des Heerführers gelegt, den ich als Kissen zwischen mich und die Scheibe geklemmt hatte, ließ ich mich von dem Rütteln und Brummen des Busses in den Schlaf lullen. Offensichtlich war ich selbst für böse Träume zu erschöpft – immerhin.

    Bei Oma mussten wir wie erwartet eine richtige Gardinenpredigt über uns ergehen lassen. Ich wehrte mich nicht, denn es gab zwei Lichtblicke: Matthias saß neben Irmgard, trotz lindgrünem Morgenrock ganz blonde Nordgöttin, auf dem einen der beiden Zweiersofas im Wohnzimmer, blass zwar und mit sichtbaren Schrammen im Gesicht, dafür wach und aufmerksam. Ehe man uns vor den Kadi zitiert hatte, waren Joshua und ich ins Haus gestürmt, um unseren Bruder willkommen zu heißen. Mama hatte ihn aus dem Krankenhaus abgeholt, während Papa uns gesucht hatte.

    Matthias ging an einer Krücke, sein rechtes Bein lag in einer Schiene, ebenso sein linker Arm. Die Heilung würde dauern. Ich nahm ihn genau in Augenschein und stellte erleichtert fest, dass er sich zumindest äußerlich erholen würde.

    Ungeachtet der nicht abreißenden Schimpftirade tauchte ich unter den wütend gestikulierenden Armen meines Vaters hindurch, um zu Matthias zu gelangen. Ich quetschte mich zwischen Oma und ihn auf den Zweisitzer und legte meinen Kopf an seine unversehrte Schulter. Papas böse Miene in seinem hochroten Gesicht milderte sich in diesem Moment. Dennoch machte er weiter und warf Joshua und mir Verantwortungslosigkeit, mangelnde geistige Reife und absolute Beklopptheit vor. Für die Delle in der Schiebetür des Busses, Joshuas „Parkrempler", bekamen wir zusätzlich unser Fett weg und bis zum Frühling unser Taschengeld gestrichen, damit wir einen Teil der Reparaturkosten selbst trugen.

    Interessanterweise hielt sich Irmgard zurück. Allerdings vermutete ich, dass sie später ein paar unangenehme Einzelgespräche mit uns führen wollte. Auch Oma ließ Papa schimpfen und besaß sogar die Frechheit, mir für den Bruchteil einer Sekunde zuzulächeln. Wie so oft erinnerte sie mich an Julie Andrews. Das lag wahrscheinlich an ihrem guten Stil und ihrer adretten Kurzhaarfrisur.

    Und ich hatte meinen zweiten Lichtblick. Neben Joshua stand Milán mit regloser Miene. Er würde bei mir bleiben. Mein dümmliches Grinsen bei diesem Gedanken brachte Papa endgültig an den Rand des Wahnsinns. So zornig hatte ich ihn noch nie gesehen.

    „Sagt mal, habt ihr mir überhaupt zugehört?, brüllte er. Als wir schwiegen, seufzte er tief. „Verschwindet in eure Zimmer. Ich will heute bis zum Abendessen keinen von euch sehen, verstanden?

    Rasch trollten wir uns. Matthias stemmte sich vom Sofa hoch und folgte uns, so schnell er konnte. Milán und Joshua trugen ihn die Treppe hoch und in das Zimmer meiner Brüder, damit er sich auf seinem Bett ausruhen konnte und wir Gelegenheit zum Reden hatten. Von Einzelhaft hatte Papa schließlich nichts gesagt. Und wenn er nicht vorhatte, den Tag damit zuzubringen, zwischen den Gästezimmern im Flur zu sitzen und Wache zu halten, würde er nicht viel dagegen unternehmen können.

    Ungeduldig wartete ich darauf, dass Joshua endlich die Zimmertür schloss, damit unsere Beratung beginnen konnte. Wir mussten zunächst Matthias befragen und danach einen neuen Plan schmieden, wie wir das Rätsel um den Weltenschlüssel lösen konnten.

    „So, Leute", begann Joshua mit gedämpfter Stimme. Er lümmelte sich falsch herum auf einem Drehstuhl, den er von dem kleinen Sekretär am Fenster weggerollt und auf dem Bettvorleger abgestellt hatte. Milán saß an das Bett gelehnt auf dem Boden und ich ließ mich zwischen ihn und Matthias auf das Bett fallen und machte den Anfang.

    „Vor Weihnachten kriegen wir keine Gelegenheit mehr, abzuhauen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche." Zustimmendes Nicken.

    „Wie wäre es, wenn du deinen Bruder auch hierherbringst? Der muss nicht erst zum Fest kommen. Bestimmt wäre es nützlich, wenn wir ihn einweihen", schlug Joshua meinem Freund vor.

    „Weiß nicht. Im Augenblick steht er meinem Vater sehr nahe. Und der wollte mich lieber im Keller versauern lassen. Allerdings ist er immer ziemlich undurchsichtig, keine Ahnung, was er vorhat."

    Ich hörte seine unausgesprochenen Worte, ohne seine Gedanken zu lesen: Gábor ist nicht Gyula.

    „War nur ‘ne Idee", ruderte mein Bruder zurück.

    Matthias meldete sich zu Wort: „Ihr wolltet also nach Frankreich fahren?" Im Flüsterton erklärte ich Matthias das Nötigste über den Weltenschlüssel, der jedes Schloss öffnete und vielleicht noch mehr konnte, weil viele hinter ihm her waren.

    Ich erzählte ihm, dass wir in Frankreich gehofft hatten, mehr über diesen Gegenstand herauszufinden und vor allem über die Urheber der Geisterangriffe. Mutmaßlich waren das die Hölle und Jäger der Ghost Hunter Association – kurz GHA – in Paris, die sich lieber mit der Weltherrschaft beschäftigten als mit ihrer Aufgabe, die Menschen vor Geistern und Dämonen zu beschützen, nachzukommen. Schließlich hatten wir sehen wollen, ob man dort mehr über den gesuchten jüngsten Geisterjäger wusste, den ich möglicherweise direkt vor meiner Nase hatte. Matthias blieb ein heißer Kandidat, doch das verriet ich ihm nicht. Nicht, dass er noch etwas Blödes machte wie wir letzte Nacht.

    „Und da seid ihr einfach losgezogen? Hattet ihr keinen Plan?", entgegnete Matthias ein bisschen enttäuscht.

    Er hatte die Fülle an Informationen für meinen Geschmack etwas zu gelassen aufgenommen. Wusste er ebenfalls etwas?

    Ich versuchte in seinen Kopf einzudringen, stieß aber wie so oft auf eine unüberwindbare Barriere. Misstrauisch ließ ich meinen Blick auf ihm ruhen, doch er wich ihm aus und sah unseren älteren Bruder an.

    „Nicht so richtig, gab Joshua zu. „Deshalb wollen wir es diesmal besser machen. Und vor allem Papa zuvorkommen, weil der uns jetzt genauer beobachtet. Wobei, wenn es da draußen weitergeht wie bisher und er mit Gábor und Milán allein klarkommen muss, ist er eventuell abgelenkt genug.

    Ich nickte. „Das hoffe ich doch schwer. Aber Matthias hat recht: Wir sind ganz schön kopflos aufgebrochen."

    „Diesmal sollten wir uns aufteilen, finde ich, meinte Milán. Er wandte sich direkt an Joshua. „Matthias ist nicht in dem Zustand zu reisen geschweige denn zu kämpfen. Ich finde, er und Katharina sollten hierbleiben und ihre Oma breitschlagen, sie endlich zu trainieren. Immerhin war sie früher eine Jägerin. Dann können sie hier die Stellung halten und uns aus der Ferne helfen.

    Voller Empörung drehte ich mich zu meinem Freund. „Bitte was? Du willst ohne mich mit meinem nullbegabten Bruder – sorry, Joshua – nach Frankreich fahren und alles alleine erledigen? Das könnte euch beiden so passen!"

    „Nur ein Vorschlag", sagte Milán und hob abwehrend die Hände.

    „Der gar nicht mal schlecht klingt, fand Joshua. „Wir haben Zeit, darüber nachzudenken. Mehr als wir haben sollten.

    Ich sah ihm deutlich an, dass er Papas Hausarrest genauso unverantwortlich fand wie ich. Leider das Einzige, worin wir gerade einer Meinung waren.

    „Ihr könnt mich mal! Ich bleibe nicht hier!", brauste ich auf. So war das also! Sie empfanden mich genauso als Klotz am Bein wie Papa. Mein eigener Freund wollte mich nicht dabeihaben. Mit Mühe hielt ich die aufkommenden Tränen zurück. Joshua und Milán hatten ein Geheimnis vor mir, ich spürte das schlechte Gewissen meines Bruders. Als ich seine Gedanken lesen wollte, blickte er zur Zimmerdecke und dachte ziemlich angestrengt an die Zubereitung von Wan Tans. Super. Nach langer Zeit brannte das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, erneut in meiner Brust.

    Matthias richtete sich ächzend auf, um mir auf die Schulter zu klopfen. Von unten hörte ich Irmgard nach mir rufen. Na toll. Jetzt kam also der Anpfiff.

    „Wir reden später weiter", kündigte ich möglichst drohend an, bezweifelte jedoch, dass meine bösen Blicke die gewünschte Wirkung entfalteten. Joshua wirkte nämlich, als wäre er ganz froh, mich los zu sein, und Milán guckte nicht mich, sondern die weiße Raufasertapete gegenüber des Bettes an. Mit Wut im Bauch trampelte ich die Treppenstufen hinunter und stapfte in die Küche, wo meine Stiefmutter zwei riesige Hefezöpfe backte, weil sie Amélies Eltern für den Nachmittag zum Kaffee eingeladen hatte. Oma und Papa entdeckte ich nirgends.

    „Ich brauche deine Hilfe", sagte Irmgard neutral und sah dabei in ihre Teigschüssel.

    „Warum kann Joshua dir nicht helfen? Der erreicht ohne Leiter jedes Fach im Küchenschrank. Sie senkte die Stimme, während sie weiter verbissen den Hefeteig knetete: „Ich muss etwas mit dir besprechen.

    Mit einem Mal war ich ganz Ohr und vergaß meinen Zorn. Stumm bedeutete ich ihr, fortzufahren.

    2

    „Keine Angst, Papa hat euch genug rundgemacht, ich werde nicht mehr mit dir schimpfen, auch wenn eure Aktion absolut bescheuert und verantwortungslos war. Darum geht es jetzt nicht. Ich habe mich lange mit meiner Schwiegermutter unterhalten und ihr die Erlaubnis gegeben, aus dir eine Geisterjägerin zu machen. Wenn es soweit ist, werde ich bereitwillig den Ärger mit deinem Vater auf mich nehmen. Es gibt keinen anderen Weg. Ich vergehe bald vor Angst um euch. Du hast das Potenzial, deine Großmutter genügend Erfahrung. Morgen muss Julius zu einer Konferenz in Paris. Das ist eine gute Gelegenheit, mit dem Training zu beginnen."

    Ich wusste nicht, ob ich ihr um den Hals fallen oder sie ungläubig anstarren sollte.

    „Bist du sicher?", fragte ich stattdessen. Sie nickte.

    Da umarmte ich sie. „Danke!"

    „Du darfst es Milán erzählen, Julius kann seine Gedanken nicht lesen. Du glaubst gar nicht, wie sehr ihn das aufregt. Und ob ich ihr das glaubte. Total aufgedreht wollte ich nach oben laufen, als Irmgard mich zurückhielt. „Halt, du musst mir eine Kleinigkeit helfen. Bitte hol die zwei Backbleche aus dem Ofen und leg etwas Backpapier darauf. Das war’s schon. Du weißt doch, dass ich am liebsten alleine in der Küche bin. Lächelnd entließ sie mich, nachdem ich meine Aufgabe erledigt hatte.

    Oben angekommen tat ich etwas sehr Gemeines. Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett und konzentrierte mich auf Joshua. Seine Gedanken blieben niemals vor mir verborgen. Er glaubte doch nicht ernsthaft, dass er mit Milán einen Plan aushecken konnte, ohne dass ich etwas davon mitbekam.

    Was ich hörte, erwies sich leider nicht als aufschlussreich, denn Joshua dachte intensiv an ein Fußballvideospiel. Verwirrt ging ich nach nebenan, um Joshua, Matthias und Milán vor dem Fernseher vorzufinden, an den sie die mitgebrachte Spielekonsole angeschlossen hatten und tatsächlich Fußball spielten. Das war doch nicht zum Aushalten! Jungs!

    „Wollten wir nicht eine konspirative Sitzung abhalten?", fragte ich in die Runde.

    „Ach was, erwiderte Joshua. „Das machen wir morgen Abend oder so. Jetzt können wir sowieso nichts tun. Hast du dich überhaupt um Weihnachtsgeschenke gekümmert?

    „Längst erledigt. Kann aber sein, dass ich deins selber behalte." Ein bisschen grollte ich ihm noch, dass er Miláns Idee sofort Beifall gezollt hatte. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, um es mir mit einem guten Buch gemütlich zu machen oder besser noch schlafen. Nach der kurzen Nacht fühlte ich mich ganz schön gerädert. Die Müdigkeit siegte.

    Besonders angenehme Träume hatte ich allerdings nicht.

    Der Gargoyle aus der Lagerhalle bedrohte mich mit seinem Schwert und so sehr ich vor ihm floh, immer wieder erwischte er mich.

    Ich kroch rückwärts vor ihm davon, doch er brachte mir schmerzhafte Wunden bei. Angst und Verzweiflung, ein Gefühl der Ohnmacht stiegen in mir auf und lähmten mich. Ich wollte schreien, doch kein Ton kam aus meinem Mund. Der Gargoyle ragte über mir auf. Da plötzlich erschien der Heerführer und durchbohrte den Gargoyle mit seinen zwei Schwertern, sodass er sich vor meinen Augen in Luft auflöste und nur etwas von seinem schwarzen Blut auf dem Boden zurückblieb. Mein Beschützer war gekommen. Ich blickte in seine schmalen Augen, die mich voller Mitleid betrachteten, die Angst war gänzlich verschwunden. Dafür fuchste es mich, dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte.

    Ich passe auf dich auf, dachte er. Wer zum Teufel war er? Er drehte mir den Rücken zu und ging davon. Ich rappelte mich auf und versuchte ihn einzuholen …

    „Aufwachen, kleine Schlafmütze, es ist schon Zeit fürs Abendessen", murmelte Milán, während er mit seiner Nase an meinem Hals entlangfuhr. Ich seufzte, noch halb in meinem Traum gefangen. Statt aufzustehen, zog ich ihn zu mir ins Bett hinunter, um mich an ihn zu drücken und seine wilden, dunklen Haare zu streicheln. Ich träumte vielleicht von einem anderen, das hatte aber nichts zu bedeuten. Trotzdem würde ich Milán nichts davon erzählen. Er würde es möglicherweise in den falschen Hals kriegen oder sich wieder dafür verantwortlich fühlen, dass man mich gefoltert hatte. Aber es wäre viel schlimmer gewesen, wenn es Joshua getroffen hätte.

    Ohne mich wäre er schließlich nie an diesen Ort gegangen.

    „Du hast den Hefezopf verpasst." Der Hefezopf war keine meiner vordringlichen Sorgen.

    „Willst du immer noch ohne mich die Welt retten?", fragte ich.

    „Natürlich. Aber wie ich dich kenne, wird das nichts als ein frommer Wunsch bleiben."

    „Richtig erkannt. Ich befreite mich aus seinen Armen und setzte mich auf. „Lass uns runtergehen. Es riecht nach Omas herrlichen Frikadellen.

    Nach dem Abendessen, bei dem Joshua und Milán ungelogen sieben Frikadellen pro Nase verputzt hatten, beraumte Papa einen Spieleabend an. Sonst hatte ich ja nichts dagegen, bloß gerade jetzt hätte ich mich lieber mit meinen Brüdern und Milán beraten.

    Nichtsdestotrotz vergaßen wir für ein paar Stunden tatsächlich die andauernde Bedrohung, die um unser Haus schwirrte. Das Einzige, das vor dem Fenster lauerte, war der Schnee, der seit dem frühen Abend die Welt weich und weiß machte. Es hätte richtig heimelig sein können.

    3

    Nach einem harmonischen Weihnachtsabend mit der ganzen Familie kehrte zu später Stunde Ruhe ein. Während Papa mit Gábor Patrouille lief, kam Milán nach dem Zähneputzen in mein Gästezimmer. Nachdem er mich den ganzen Abend über beiläufig berührt und angelächelt hatte, fühlte ich mich mehr als kribbelig, als ich endlich mit ihm alleine war.

    Er ließ sich auf mein Bett plumpsen.

    „Mach die Augen zu und streck die Hand aus", sagte ich lächelnd. Mir fiel gerade etwas ein. Etwas sehr Gewagtes. Ich war im Begriff etwas zu tun, das ich mir früher nicht einmal vorstellen konnte. Aber jetzt fühlte es sich an, als hätte jemand auf die Vorspultaste gedrückt und die Zeit würde viel zu schnell verrinnen. Heute wollte ich sie einmal anhalten.

    „Ist das nicht mein Text?", entgegnete Milán leise lachend.

    Er wirkte gelöst wie seit Wochen nicht mehr.

    „Ich will gar nicht wissen, was in deinem Hirn vorgeht, sagte ich und schüttelte mich gespielt angewidert. „Jetzt mach schon, es ist nichts Schlimmes!

    Er streckte tatsächlich seine rechte Hand aus und schloss die Augen.

    „Wieso dauert das denn so lange?", beschwerte er sich. Doch ich brauchte noch einen Augenblick.

    „Moment. Lass bloß die Augen zu!"

    In Windeseile und dennoch leise schaltete ich das Deckenlicht aus und knipste das Tulpenlicht an der Wand an. Dann schloss ich lautlos die Tür ab, löste meinen geflochtenen Zopf, zog mich aus und schlüpfte in das königsblaue Tanktop und die hellblaue Panty, die ich zum Schlafen trug. Zuletzt nahm ich mein silbernes Medaillon ab, das ich tagsüber an einer Silberkette um den Hals trug, um es meinem verdutzten Freund in die Hand zu legen. Darin befand sich seit ein paar Wochen ein Foto von Milán und mir. Das Medaillon war klein genug, dass Milán es problemlos mitnehmen konnte. Wenn er wollte.

    „Jetzt darfst du gucken." Ein wenig verschämt wegen des kitschigen Geschenks setzte ich mich mit angezogenen Beinen neben ihn auf das Bett.

    „Du gibst mir deine Kette?"

    „Ich hab ja jetzt eine neue. Und vielleicht möchtest du etwas Kleines mitnehmen, damit du mich nicht vergisst." Nicht, dass er auf der Reise nach Frankreich viel Zeit zum Flirten haben würde, aber so fühlte es sich besser an. Ein Restrisiko gab es schließlich immer.

    „Heißt das, du würdest mich ohne Protest alleine gehen lassen und hierbleiben? Woher der Sinneswandel?" Er musterte mich misstrauisch.

    „Irmgard hat mir die Erlaubnis gegeben, mich zu einer Jägerin ausbilden zu lassen. Deshalb kann ich nicht mitkommen, auch wenn’s mir schwerfällt."

    Milán steckte das Medaillon in die Hosentasche, fasste mich an den Armen und zog mich auf seinen Schoß.

    „Ich will dich nicht allein lassen, Katharina! Aber es muss sein. Gábor wird uns begleiten, also mach dir nicht allzu viele Sorgen. Und falls wir uns nicht im Diesseits wiedersehen – das kann passieren – dann musst du unbedingt weitermachen, ja? Wir treffen uns irgendwann wieder, versprochen." Sein Blick hatte etwas Flehendes.

    Ich nickte und schlug die Augen nieder. Im Augenblick war es das Sinnvollste, bei Oma zu bleiben. Dennoch tat mir das Herz weh, weil ich Milán bereits vermisste und Angst hatte, dass er nicht zurückkommen würde.

    „Warum sagst du das alles?", fragte ich trotz der Weisheit dahinter.

    „Damit wir im Guten auseinandergegangen sind, Katharina. Wo ich hinmuss, ist es gefährlich. Gefährlicher als in Heidelberg. Du hast es selbst erlebt. Wer den Schlüssel bei sich trägt, wird gnadenlos verfolgt. Ich will mich auf eine Weise von dir verabschieden, dass es keiner von uns bereuen muss, wenn der andere nicht zurückkommt."

    „Daran möchte ich eigentlich nicht denken."

    „Ich auch nicht, aber das müssen wir. Jeder von uns ist durch seine Gefühle für den anderen angreifbar."

    „Du wirst dich von mir trennen?" Entsetzt entzog ich ihm meine Hand. Mein Magen verkrampfte sich.

    Milán schüttelte den Kopf und nahm meine Hand erneut in seine.

    „Niemand darf unsere Gefühle gegen uns verwenden! Verstehst du, was ich meine?"

    „Wenn ihr wegfahrt, sind wir getrennt, aber wenn wir uns wiedertreffen, ist es wie vorher?", versicherte ich mich. Je nachdem, wie lange er weg sein würde, konnte er mir das nicht versprechen, das war mir klar. Doch ich klammerte mich an jeden Strohhalm.

    „Wenn die GHA mich schnappt, werden sie wissen, was zwischen uns läuft. Es ist ungefährlicher, wenn wir wenigstens den Anschein erwecken, nicht erpressbar zu sein", sagte er.

    „Ich kann das nicht ausschalten, du etwa?"

    „Nein, aber wenn der Feind in meinem Kopf sieht, dass wir uns einvernehmlich trennen, um unsere eigenen Ziele zu verfolgen, ist unsere Beziehung uninteressant für ihn."

    Das leuchtete mir ein. Sofern Milán gute Filter in sein Gehirn eingebaut hatte und stets das zeigte, was andere sehen oder hören sollten. Was mir leider nicht immer gelang.

    „Wenn wir die Möglichkeit haben, noch mal zusammen zu sein, will ich dich zurückhaben!"

    Er lächelte erleichtert. Anscheinend hatte er mit deutlich mehr Widerstand gerechnet.

    „Das ist jetzt die bessere Alternative. Dann kann uns keiner was, keiner von uns beiden taugt als Druckmittel für den anderen, solange wir unsere Gefühle gut verschließen. Es soll dir meinetwegen nichts geschehen. Nicht noch mal. Deine Wunden sind zwar verheilt, aber ich weiß, dass dich das alles verändert hat. Dass der Gargoyle dich erwischt hat, werd ich mir nie verzeihen."

    Bittend sah ich ihn an. „Nicht. Du kannst nichts dafür." Unwillkürlich wanderte mein Blick zu meinem Rucksack unter dem Fenster und dem schwarzen Bündel daneben auf dem Stuhl. Dort lag der Kittel des Heerführers. Als mein Blick zu meinem Freund zurückwanderte, zuckte ein Muskel an seiner Wange. Er war meinen Augen gefolgt.

    „Deine Schutzengel sind überall, kincsem, vergiss das nicht", sagte er leise.

    Darauf ging ich lieber nicht ein. „Pass bitte gut auf dich auf. Und auf Joshua!"

    „Und du auf dich. Es muss ja nicht für immer sein, vielleicht kreuzen sich unsere Wege früher, als wir vermuten. Und falls nicht, möchte ich sicher sein können, dass du frei bist. Deine Liebe zu mir soll kein Hindernis für dich sein, dein Schicksal zu erfüllen. Egal, was dafür nötig ist. Keiner von uns kann in die Zukunft sehen." Ernst blickte er mich an.

    Miláns Argumente klangen stichhaltig, aber alles in mir sträubte sich gegen diesen Schritt. Wenn er ein anderes Mädchen kennenlernte, das ihm besser gefiel als ich? Ich kam mir dämlich vor, doch der Gedanke kam schneller auf, als ich mich beherrschen konnte.

    Zart umfasste Milán mein Gesicht und küsste jede Stelle, die er erreichen konnte. Mach dir keine Sorgen deswegen. Kincsem bedeutet Schatz. Du bist mein Schatz.

    Beinahe hätte ich angefangen zu weinen. Ich würde es nicht ertragen, wenn ihm etwas passierte. Er hörte alle meine Gedanken, spürte meine Sorge und lächelte halb, als er meine Lippen mit seinen verschloss. Ihn zu küssen half immer.

    „Ich liebe dich so sehr", flüsterte er.

    Wenn er bald ging, wollte ich unsere kostbare Zeit nicht mit Traurigkeit und Furcht vergeuden. Für meine Verhältnisse geradezu forsch begann ich, sein Hemd aufzuknöpfen. Milán wehrte sich nicht, sondern half mir und zog sein Unterhemd ebenfalls aus. Währenddessen hielt ich inne und schaute ihn an. Es erfüllte mich noch immer mit Staunen, dass ich, die unscheinbare kleine Elfe, einen solch schönen jungen Mann mein Eigen nennen durfte. Stundenlang könnte ich die Augen an seiner Gestalt herabwandern lassen. Mit einem Mal vergaß ich, dass ich eine nervöse Jungfrau war. Bedächtig streichelte er meine Wangen und meine Stirn. Als sein rauer Daumen über meine Unterlippe fuhr, jagte die Berührung einen Stromstoß durch mich hindurch. Ich nahm seine Hand und küsste seine Fingerspitzen, legte sie an meine Wange, genoss die intime Geste. Dann schlang ich meine Arme um seinen festen Oberkörper und ließ mich von ihm umfangen. Erst vergrub er sein Gesicht in meinen Haaren, ehe er zart meinen Rücken auf und ab strich. Meine Schulterblätter prickelten. Voller Behaglichkeit schnurrte ich.

    Plötzlich ließ er sich nach hinten fallen, zog mich mit sich auf die Seite und hielt mich fest. Wir küssten uns heftiger, fordernder. Ich musste ihm nahe sein, näher als jemals zuvor, wollte unbedingt, dass es mit ihm passierte: Mein erstes Mal. Ein Abschiedsgeschenk, das wir uns gegenseitig machen konnten.

    Heute würde er sich nicht zurückziehen wie die letzten Male, das wusste ich. Vor Aufregung bebte ich, während er sich über mich kniete und meinem Körper mit seinen Lippen diese wilden Empfindungen entlockte, die mich rascher atmen und Hitzewellen über mich hinwegrollen ließen. Jeden Moment davon brannte ich in mein Gedächtnis ein, um später davon zehren zu können.

    Jedes Detail, seine zartfühlenden Hände unter meinem Hemdchen, die über meine Brüste glitten, seine Lippen an meinem Hals, sein warmer Atem an meinem Ohr.

    Und seine unbeschreiblichen Küsse, durch die er mehr zu mir sprach, als durch seine losen Gedanken; dass ich ihm vertrauen konnte, dass er mich begehrte, dass er mich liebte. Sie übermittelten mir ebenso viel wie seine völlig offenliegenden Emotionen, die auf mich übergingen und sich mit meinen eigenen vermischten, bis ich nicht mehr zu sagen vermochte, was zu ihm gehörte und was zu mir, wo ich aufhörte und er anfing, während meine Hände ruhelos über seine erhitzte Haut glitten.

    Mit glasigem Blick rollte Milán sich nach einer Weile vorsichtig von mir herunter, um sich seiner Hose zu entledigen. Heftig atmete ich ein und aus. Ehe ich mich fassen konnte, hatte er mich bereits wieder in einen berauschenden Kuss gezogen. Sengende Hitze erfüllte mich von oben bis unten. Als er mir das Top über den Kopf zog, reckte ich bereitwillig die Arme nach oben.

    Dicht neben ihm liegend fuhr ich durch seine weichen Haare, roch den Wald in ihnen, schaute in seine bezwingenden, verdunkelten Augen und versuchte die Unfassbarkeit des Moments zu begreifen. Lächelnd nahm er langsam meine Finger aus seinen Haaren, führte sie an seinen Mund und küsste erst die Innenfläche, folgte dann den Knochen meines Unterarms und legte schließlich meine Hand auf seinen Rücken, um mich näher zu ziehen. Ich schmiegte mich an ihn und registrierte mit einem wohligen Schauder, dass ihn das hier genauso in seinen Bann zog wie mich. Langsam kraulte ich seinen Nacken.

    Mein Herz raste, als er die Bettdecke über uns ausbreitete. Ich fühlte die durchdringende Wärme seiner Haut auf meiner, verlor mich in seinen liebevollen Berührungen, während sich mein Unterleib zusammenzog und sich eine seltsame Spannung in mir aufbaute. Kaum eine Stelle meines Körpers war nicht von seinen Lippen oder zärtlichen Händen berührt worden; er stand sprichwörtlich in Flammen. Kein Blatt Papier passte mehr zwischen uns.

    Ich hatte lange nicht genug. Und doch erstarrte ich eine Sekunde, als seine Hand zögernd zwischen meine Schenkel fuhr. Milán zog sich sofort zurück.

    Genau das vermittelte mir die Sicherheit, dass ich jederzeit aussteigen konnte, wenn ich mich nicht bereit fühlte. Aber ich wollte nicht aufhören. Diesmal nicht. Mit seinem nächsten Kuss nahm er mir etwas von der plötzlichen Unsicherheit.

    Mühevoll unterdrückte ich ein albernes Kichern, als er mich aufforderte, seine Boxershorts auszuziehen. Kurz grinsten wir uns an; Gott sei Dank nahm er meine Verlegenheit mit Humor. Erneut küssten wir uns. Schließlich überwog meine Neugierde und ich überwand mich, ihn überall anzufassen. Ihm schienen meine forschenden Berührungen zu gefallen, was mich wiederum ermutigte. Die ganze Zeit küssten wir uns, bis meine Lippen brannten. Irgendwann hielt er inne, um mich fragend anzusehen. Er legte seine Stirn an meine und übertrug seine Gedanken auf mich: Wir müssen das nicht tun.

    „Doch", flüsterte ich. Wir mussten genau das tun, sonst würde ich es bereuen, wenn er nicht mehr bei mir sein konnte. Wenn er möglicherweise nie mehr zurückkam.

    „Aber ich hab die Kondome drüben liegen gelassen."

    Mit diesen Worten verpuffte die tragische Romantik. Zum Glück. Denn jetzt verschwand der Kloß in meinem Hals und ich musste lachen. Niemals würde ich von Milán verlangen, in seinem jetzigen Zustand über den Flur zu schleichen und sich blöde Kommentare von meinen Brüdern anzuhören. Mein ohnehin erhitztes Gesicht wurde eine Spur heißer, als ich neben mich langte, den angebrochenen Blister mit der Antibabypille aus meiner Nachttischschublade angelte und ihm diesen unter die Nase hielt.

    „Es ist nicht unbedingt nötig, aber gehen wir besser auf Nummer sicher. Ich laufe schnell rüber zu Joshua. Du kannst liegen bleiben, erklärte ich flüsternd. Erleichtert, dass ihm der peinliche Gang erspart blieb, lächelte er. Es kühlte mich kein Stück ab, als ich im Morgenmantel bei meinen Brüdern anklopfte und Joshua mir kommentarlos, aber grinsend eine ganze Schachtel Kondome aus seinem Rucksack zuwarf. Ich wollte gar nicht wissen, was er in Frankreich vorgehabt hatte. Ich würgte ein „Danke hervor und huschte zurück in mein Zimmer, wo Milán mit hinter dem Kopf verschränkten Armen im Bett lag. Und mit einem Mal stieg meine Aufregung ins Unermessliche.

    Es würde wirklich passieren. Jetzt gleich!

    Nervös knipste ich die Wandlampe neben dem Bett aus. Sex im Hellen war etwas für Fortgeschrittene. Allerdings besaß ich eine hervorragende Nachtsicht. Ich brauchte kein Licht, um jede Kontur seines schönen Gesichts wahrnehmen zu können, die Wildheit in seinen Augen, die nur manchmal hervorkam und mich von Anfang an in ihren

    Bann gezogen hatte. Meine Schulterblätter kribbelten, als ich mich ein wenig aufrichtete, ihn über mich zog und auffordernd anblickte. Für einen kurzen Moment sah es aus, als würden hinter seiner Iris Flammen lodern, doch als ich blinzelte, verschwand das Trugbild. Milán beeinträchtigte sogar mein Sehvermögen. Er grinste auf meine Gedanken hin.

    Dann küsste er mich wieder, wild und ungestüm. Schwindlig sank ich zurück in mein Kissen, während er seine Hände an meinen erhitzten Seiten hinunterfahren ließ und meine kurze Hose abstreifte. Meine Nacktheit erfüllte mich nicht mit Scham, im Gegenteil. Trotz der Dunkelheit erkannte ich den Schimmer in seinen Augen, als er mich von unten ansah; bewundernd und voller Liebe. Ich glaubte, zerspringen zu müssen. Sanft strich ich über seine Wange.

    Sein leises Seufzen, während er zarte Küsse auf meinem Bauch platzierte, brachte mich beinahe um den Verstand. Jetzt erlaubte ich ihm, seine Hand tiefer wandern zu lassen. Mir war so heiß. Und dann erschrak ich kurz und keuchte, weil ich seinen weichen Mund und seine kitzelnde Zunge dort fühlte, wo ich eben noch seine Hand gespürt hatte. Ihn zwischen meinen Beinen zu haben, war fast unerträglich gut. Vor Genuss blieb mir keine Möglichkeit, mich zu schämen, weil er so etwas tat. Wieder wallte diese Spannung in meinem Inneren auf, stärker als jemals zuvor. Noch nie hatte ich etwas Derartiges gefühlt. Es war einfach der Wahnsinn.

    Ich erzitterte, als ich mich auf eine sehr angenehme Weise verkrampfte und unwillkürlich aufstöhnte. O mein Gott! Er ließ mich fliegen!

    Meine Hände umfassten seine Oberarme, während er mich erneut voller Verlangen küsste. Ich schmeckte mich selbst an ihm, als wäre er Teil von mir geworden.

    Nichts hatte mehr Platz in meinem Denken und Fühlen als er und der drängende Wunsch, vollkommen eins mit ihm zu werden. Er musste es mir ansehen, denn er verlor keine Zeit und rollte sich das Kondom über.

    Entschlossen packte ich gleich darauf seine Schultern, zog ihn auf mich und umklammerte ihn mit meinen Beinen.

    Er erstickte den überraschten Laut, der aus meinem Mund kam, mit einem zärtlichen Kuss, während er langsam in mich drang. Der anfängliche Schmerz und die Verwunderung über das ungewohnte Gefühl verschwanden bald. Seine Lippen streiften mein Ohr, als er sein Gesicht an meinem Hals barg und unsere Finger sich miteinander verschränkten. Er ließ mir Zeit, doch nichts hätte mich dazu gebracht, einen Rückzieher zu machen. Behutsam tasteten wir uns voran. Er änderte leicht seine Position, stützte sich über mir ab und überwand das letzte Hindernis.

    Nun zuckte ich zusammen, bemühte mich aber, mich wieder fallen zu lassen wie eben. Ich vertraute ihm und der erneute Schmerz ebbte bald ab.

    „Geht’s dir gut?" fragte er leise.

    Nickend zog ich ihn in einen Kuss. Langsam begann er, sich in mir zu bewegen. Erst vorsichtig, zart und schließlich mutiger liebten wir uns. Es gab nur noch ihn und mich. Näher und näher kamen wir dem Paradies, bis ich implodierte.

    Für einen kurzen Augenblick sah ich Sterne.

    Später lagen wir eng aneinandergeschmiegt da. Ich streichelte sein Gesicht und küsste ihn auf die Wange.

    „Ich liebe dich", flüsterte ich ihm ins Ohr. Nie waren mir diese drei Worte ehrlicher erschienen. In diesen Minuten erfüllten mich Glück und Dankbarkeit. Dass wir uns getrennt hatten und bald voneinander verabschieden mussten, schob ich weit von mir.

    Er rieb seine Nase an meiner und küsste mich sanft.

    Danke, kincsem, raunten seine Gedanken. Seine Arme hielten mich, gaben mir das Gefühl, nirgendwo geliebter und beschützter zu sein als bei ihm. Irgendwann schlief ich in der vertrauten Umarmung ein.

    4

    Als ich spät am nächsten Vormittag aufwachte, war Milán verschwunden. Sicher hatte er sich ins andere Zimmer geschlichen, um Papa nicht zu verärgern.

    Ich stand auf, um aus dem Fenster in den verschneiten Garten zu sehen. Die Sonne ließ den Schnee auf den Ästen und Zweigen des gegenüberliegenden Waldes glitzern. Ich fand es wunderschön. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nackt war, und trat rasch vom Fenster zurück. Das musste ja nicht jeder sehen.

    Schnell duschte ich und zog mich an, hellblaue Jeans und einen tannengrünen Baumwollpullover.

    Obwohl es nach halb elf war, stand noch das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch. Im Haus herrschte verdächtige Stille. Waren sie etwa ohne mich zu einem Schneespaziergang aufgebrochen?

    Wenigstens Matthias musste hier sein, er konnte schließlich kaum laufen und musste sich schonen.

    Ich konzentrierte mich. Meine Fähigkeit, Leute aufzuspüren verhielt sich nicht gerade zuverlässig. Besonders bei meinem jüngsten Bruder. Alleine war ich jedenfalls nicht im Haus.

    „Matthias? Joshua?, rief ich probehalber. „Jemand zu Hause?

    „Hier oben, Katha", ertönte Matthias’ Stimme aus dem ersten Obergeschoss. Mit schnellen Schritten eilte ich wieder hinauf ins Zimmer meiner Brüder.

    Matthias lag in seinem Bett und schaute fern. Als ich hereinkam, schaltete er das Gerät aus.

    „Wo sind die anderen?", fragte ich.

    „Joshua, Milán und Gábor sind heute Nacht weggefahren. Tut mir leid, dass ich sie nicht aufhalten konnte."

    Traurig zuckte ich die Achseln. „Ich hab mit Milán darüber gesprochen. Ich dachte nur, dass sie sich noch ein paar Tage Zeit lassen würden." Trotz der Vorwarnung kam ich mir alleingelassen vor. Erfolglos versuchte ich, die Enttäuschung abzuschütteln.

    Matthias nickte. „Joshua meinte, dass ich die Klappe halten soll, also stell ich mich dumm, wenn Papa nachher anruft. Er ist nach Frankreich zu seinem Kongress gefahren. Jedenfalls behauptet er das. Mama und Oma sind unterwegs, um sie aufzuhalten. Aber ich glaube, diesmal haben sie genügend Vorsprung und ein schnelleres Auto als unsere alte Rostlaube."

    „Was für eins? Etwa Omas Corsa?"

    „Nee, bestimmt nicht. Den hat Papa genommen. Außerdem sagte ich, sie fahren mit einem schnelleren Wagen. Er lachte. „Gábors getunten Subaru Impreza. Zweihundertachtzig PS!

    Seine Augen begannen zu leuchten.

    Lieber Himmel! „Hat das Ding Winterreifen?"

    „Bestimmt, guck dir mal die Straße an."

    Für den Moment ließ ich es gut sein. Ich konnte sowieso nichts tun. Ich zögerte und kniff die Lippen zusammen, dann gab ich mir einen Ruck. Irgendwann musste ich Matthias mal darüber aufklären. Besser spät als nie.

    „Es nützt dir übrigens nichts, wenn du Papa anlügst. Er kann deine Gedanken lesen."

    „Ich weiß, erklärte er zu meiner Verblüffung. „Das hat er oft versucht. Du kannst es auch, nicht? Und Joshua?

    O-kay. Ich schluckte einmal. Der nahm das ja ganz locker!

    „Nur Papa und ich. Sorry, ich durfte nicht darüber reden!"

    „Schon gut. Ich weiß, dass hier jeder Geheimnisse hat. Du und Papa, Oma und Mama, selbst Joshua. Und ich wohl ebenfalls."

    „Ja, das glaub ich dir." Aufmerksam betrachtete ich meinen jüngeren Bruder. Seine hellblauen Augen schauten genauso aufmerksam zurück. Er hatte als Einziger von uns Papas rotbraune Haarfarbe geerbt. Wie Joshua neigte er zu Locken. Von Fotos wusste ich, dass Papa früher die Gleichen besessen hatte. Meine fast schwarzen Haare hingen dagegen glatt und langweilig herunter. Ich lächelte plötzlich, als mir auffiel, dass ich tatsächlich über Frisuren nachgedacht hatte.

    „Hast du schon gefrühstückt?", fragte ich.

    „Nee. Hilfst du mir runter?"

    „Ob das eine gute Idee ist? Wie wär’s, wenn ich was hochbringe?"

    „Okay. Machst du mir warmen Kaba? Und schneid genug Brot!"

    Beim Essen redeten wir weiter. Matthias hatte seinen guten Appetit wiedererlangt und aß das vierte Schokoladenbrot. Gut, dass Oma nichts von dem Frühstück im Bett mitbekam. Gegessen wurde bei ihr nur am Küchentisch.

    Endlich hatte ich mal Zeit, Matthias mit wochenlang aufgeschobenen Fragen zu bombardieren. Trotz aller guten Vorsätze hatte ich dazu bisher keine Gelegenheit gefunden.

    „Was ich dich die ganze Zeit mal fragen wollte, Matthias, wie lange verheimlichst du inzwischen vor uns, dass du Geister sehen kannst?"

    Matthias war so höflich, mir erst mit leerem Mund zu antworten. „Na schon immer halt. Aber ich hab eben gesehen, was sie alle für ein Theater wegen dir und vor allem wegen Amélie gemacht haben, wie Papa uns drei immer beobachtet hat, auch Joshua, also hab ich das für mich behalten."

    Ungläubig starrte ich meinen kleinen Bruder an und vergaß dabei, wieder in mein Honigbrot zu beißen. Ich legte es zurück auf den Teller, der sich wie der von Matthias auf dem Tablett zwischen uns befand. Wie zum Henker hatte er das vor uns allen geheim halten können? Selbst als kleines Kind?

    „Jetzt guck nicht so, hast du denn früher nie was geahnt?" Nein, hatte ich nicht. All die Jahre war ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Bis zu dem Tag, an dem Matthias fast von einem Zug erfasst worden wäre, hatte ich ihn für normal gehalten. Gebannt legte ich meine Hand auf seinen nackten Unterarm.

    „Weiß es Papa?"

    Matthias schüttelte den Kopf. „Das weiß niemand außer dir, deinem Freund, Joshua und Gábor." Ex-Freund, korrigierte ich in Gedanken.

    Er grinste. Meine Augen weiteten sich. Er hatte es gehört. Natürlich hatte er das.

    „Deine Gedanken kann ich eigentlich so gut wie nie lesen", gab ich widerwillig zu.

    Er zuckte die Achseln, nahm sich die nächste Brotscheibe aus dem Körbchen und bestrich sie dick mit Nussnougatcreme. Mir verging der Appetit. Was hatte ich noch alles übersehen? Was war alles an mir vorbeigezogen?

    „Wie hast du das gemacht?"

    Er lächelte belustigt. „Ganz einfach: Ich hab meine Klappe gehalten und mich normal benommen. Was bei den ganzen Verrückten in dieser Familie ein Kinderspiel war."

    Hörte er sich eigentlich selbst reden? Er klang nicht wie ein fünfzehnjähriger Teenager, sondern wie ein Erwachsener, beinahe wie ein alter Mann … Und da fiel der Groschen.

    „Opa Friedrich hat dich unter seine Fittiche genommen, stimmt’s?"

    Matthias war so was wie sein Stammhalter, wenn er das Zeug dazu hatte, ein Jäger zu werden. Und das hatte er offensichtlich. Ein Geist hatte das natürlich wesentlich früher erkannt als ein Lebender.

    Joshua war zwar der Erstgeborene, aber ihm fehlte die übersinnliche Begabung.

    „Manchmal bist du wirklich gut. Wenn keine Jungs deine Sinne vernebeln." Er lachte frech, während ich schockiert nach meiner Teetasse griff, um mich an etwas festzuhalten.

    „Seit wann?" Er wusste, dass ich nicht Milán meinte.

    „Ich weiß es nicht mehr genau. Das mit Opa ist eine meiner ersten Erinnerungen. Er hat oft alleine mit mir gespielt und mir immer wieder erklärt, dass ich niemandem sagen darf, dass ich ihn sehen und mit ihm reden kann. Dass ich aufpassen muss, was ich denke,

    weil meine Schwester und mein Vater hören können, was in meinem Kopf vorgeht. Es war total normal für mich. Erst später hab ich gemerkt, dass andere Familien nicht so sind wie unsere."

    Matthias war wie ich. Ein Medium. Und ich hatte es nicht erkannt! Ausgerechnet mich hatte man beauftragt, den jüngsten Geisterjäger zu finden, dabei erkannte ich nicht mal einen Nachwuchsjäger, wenn er sich direkt vor meiner Nase befand. Ich hatte Matthias zwar in Erwägung gezogen, aber ich hätte viel früher mit ihm reden sollen.

    „Du wusstest also eigentlich immer über alles Bescheid?"

    „Meistens. Ich hab nicht immer zugehört. Deine Gedanken kann ich eh nicht lesen, bis auf eben. Weiß nicht, wieso, mit Joshua und Mama funktioniert es immer einwandfrei, mit Papa meistens. Außerdem hatte ich Schiss, dass du was merkst, wenn ich anfange, dir Fragen zu stellen. Und ich hatte Besseres zu tun, als ständig auf dem Friedhof rumzuhängen oder einsam vor mich hin zu brüten wie du das so gerne machst. Der Geisterkram gehört eben zu meinem Leben dazu, kein Grund, sich deswegen mehr Gedanken zu machen als nötig, oder?"

    „Du kannst nach dem, was in den letzten Monaten passiert ist, immer noch so denken? Meinst du nicht, dass du dich ein intensiver damit beschäftigen solltest?" Mein Ton kam beinahe unfreundlich rüber. Es beruhigte mich nur mäßig, dass mein Kopf vor ihm sicher war. Dass seiner vor mir sicher war, lag bestimmt nicht allein an seiner Fähigkeit, seine Gedanken im Zaum zu halten.

    „Ja, Mami", ätzte Matthias.

    „Sag mal, nimmst du das überhaupt nicht ernst? Du wärst zweimal fast gestorben und tust so, als wäre alles in bester Ordnung!" Erbost funkelte ich ihn an.

    „Ganz ruhig, ja! Kannst du mir verraten, wie ich hier im Bett irgendwas Nützliches machen soll? Und Joshua findet mich eh zu jung, um dabei zu sein."

    „Gerade der. Haben sie dir irgendetwas über den gesuchten jüngsten Jäger erzählt?"

    „Nee. Was ist damit?"

    Ich berichtete ihm in Kurzform, was ich zuvor aus gutem Grund verschwiegen hatte, von Jettas Orakelspruch, was ich mittlerweile über das gestörte Gleichgewicht der Kräfte wusste und dass Irmgard erlaubte, dass Oma mich zu einer Geisterjägerin machte. Matthias hörte gebannt zu.

    „Ich will, dass du mit uns trainierst. Soweit du eben mitmachen kannst. Es gibt keinen Grund mehr, dir alles vorzuenthalten, wenn du die gleiche Begabung hast wie ich. Warum hast du nie was gesagt? Ich begreif das nicht!"

    „Opa wollte nicht, dass es jemand erfährt. Er sagte, es wäre gefährlich, weil viele Jäger Leute wie mich nicht mögen. Oder wie dich. Und je

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