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Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit: für junge Menschen in multiplen Problemlagen
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eBook331 Seiten3 Stunden

Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit: für junge Menschen in multiplen Problemlagen

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Über dieses E-Book

Zwischen den Zeiten

Junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen auf ihren Weg zu führen, dies hat sich die Sächsische Jugendstiftung mit ihrem Programm "Zwischen den Zeiten" zum Ziel gesetzt. Kern des Programms sind maximal einwöchige Pilgerreisen – klar strukturiert und pädagogisch begleitet. Das Pilgern hilft jungen Menschen dabei, das Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen, das zuvor durch prekäre Lebenssituationen oder Straftaten gekennzeichnet war. Die bisherige Bilanz kann sich sehen lassen: Mehr als 500 junge Menschen pilgerten auf mehr als 50 Touren über 5.000 Kilometer. Sie leisteten dabei über 7.000 gemeinnützige Arbeitsstunden als gesellschaftliche Wiedergutmachung ab.
In diesem Buch beleuchten und diskutieren ExpertInnen aus der Soziologie, Psychologie, Theologie und Pädagogik diesen Ansatz und ziehen schließlich sozialpädagogische Schlüsse daraus. Ein spannendes und zugleich aufschlussreiches Fachbuch für SozialpädagogInnen, TheologInnen und SoziologInnen sowie für Interessierte aus den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe.
SpracheDeutsch
HerausgeberUVK Verlag
Erscheinungsdatum16. Dez. 2019
ISBN9783739805252
Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit: für junge Menschen in multiplen Problemlagen

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    Buchvorschau

    Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit - Sächsische Jugendstiftung

    1Durchhalten wird belohnt – Fragen an Sven Enger, Ideengeber des Programms »Zwischen den Zeiten«

    Journalistin Iris Milde im Interview mit Sven Enger

    Mit Straffälligen eine Woche auf alten Pfaden pilgern und am Ende bekommen die Teilnehmer sechzig Sozialstunden gutgeschrieben. Das war die Grundidee von Sven Enger, aus dem er das Programm »Zwischen den Zeiten« entwickelte. Inzwischen hat er Hunderte Jugendliche fünf Tage lang auf ihrem Weg zu sich selbst begleitet. In folgendem Interview lässt er die vergangenen Pilgerreisen Revue passieren.

    Menschen pilgern, weil sie zu sich selbst oder zu Gott finden wollen, weil sie neue Menschen kennenlernen oder einfach Ruhe und Natur genießen möchten. Die Jugendlichen, die im Rahmen des Programms »Zwischen den Zeiten« pilgern, interessiert das alles herzlich wenig. Was sind das für Jugendliche und welche Motivation haben sie, auf einem Pilgerweg zu gehen?

    Sven Enger: Sie unterscheiden sich meiner Meinung nach schon von den „traditionellen Pilgern". Also zuerst einmal sind die meisten jungen Menschen, die mit uns pilgern, geschickt, von einer Behörde, von einem Amt, von einem Jugendmitarbeiter. Beinahe immer ist das Ausgangsmoment eine akute Problemlage. Das kann alles Mögliche sein, also Straffälligkeit, das können aber auch junge Leute sein, die langzeitarbeitslos sind, oder aber in einer Umbruchsituation stecken, die sie gerade allein nicht recht bewältigen, wie die Ablösung vom Elternhaus oder von einer Einrichtung. Das sind die typischen Zugangsmomente. Beim ersten Mal sind sie fast alle geschickt, es ist also ganz, ganz selten, dass jemand absolut freiwillig mit uns gehen möchte, um sich auf sich selbst und seinen Weg zu besinnen.

    Junge Menschen in Umbruchsituationen und schweren Lebenslagen. Daher kommt auch der Name des Programms: »Zwischen den Zeiten«. Was bedeutet der genau?

    Sven Enger: Er hat zwei Bedeutungen. Also zum einen die Zeit, in der das Teenagerdasein aufhört und das Erwachsenwerden beginnt. Zum anderen, nehmen an »Zwischen den Zeiten« straffällige Jugendliche von 18 bis 21 Jahren teil. Diese sind eigentlich schon volljährig, werden aber sehr oft nach dem deutschen Jugendstrafrecht als Heranwachsende behandelt und dadurch noch etwas milder verurteilt. Man öffnet ihnen gewissermaßen noch Entwicklungsfenster. Gerade diese Zielgruppe steht vor einem klaren Umbruch, denn mit 21 beginnt definitiv das Erwachsenenstrafrecht, das weniger erziehend, sondern deutlich mehr strafend ist. Deshalb zwischen den Zeiten.

    Mildere Verurteilung heißt in diesem Fall, dass die jungen Menschen für ihren Fehltritt nicht in Haft müssen, sondern mit Sozialstunden beauflagt werden. Was haben die Jungs – und bis auf ganz wenige Ausnahmen sind es ja männliche Straffällige, die mit Ihnen pilgern – denn so auf dem Kerbholz?

    Sven Enger: Also im unteren Bereich ist das sehr häufig Betrug und Erschleichen von Leistungen, zum Beispiel notorische Schwarzfahrer. Im Mittelfeld wurden viele, vor allem männliche Teilnehmer, aufgrund von Körperverletzung, Raub, Beschaffungskriminalität oder Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt. Die Obergrenze bilden Taten, wie etwa fahrlässige Tötung, wenn zum Beispiel jemand alkoholisiert einen Verkehrsunfall verschuldet hat. Solche schwereren Straftaten kommen sehr selten vor. Und alles, was darüber hinausgeht, wird in der Regel sowieso nicht mehr nur mit Arbeitsstunden belegt.

    »Zwischen den Zeiten« hat zwar keinen religiösen Ursprung. Aber die Idee zu dem Projekt entstand, als Sie in einer Kirchgemeinde gearbeitet haben. Was gab den Impuls?

    Sven Enger: Das war so 2009. Da habe ich für eine Kirchgemeinde hier in Dresden gearbeitet. Ich war zwar Sozialarbeiter im kirchlichen Dienst, aber zuständig für die „Leute von der Straße". Auch das hatte keinen religiösen Hintergrund. Das war einfach in der Kirche angesiedelt. Und in diesen Jahren hatten wir ein sehr hohes Aufkommen überwiegend an jungen Männern, die – verordnet vom Gericht – Arbeitsstunden leisten mussten. Sie hatten also die Auflage, gemeinnützige Stunden zu absolvieren wegen kleinerer Vergehen und das bot sich in dieser großen Kirchgemeinde an. Die Gemeinden waren damals gerade fusioniert worden und hatten viele Häuser zu erhalten und zu pflegen. Da haben wir Putz abgeschlagen und Laub gerecht, Komposthaufen umgesetzt und Wände gepinselt. Und irgendwann waren die Gebäude und Räume so weit saniert, dass es für ungelernte Kräfte eigentlich keine Einsatzmöglichkeiten mehr gab. Aber die jungen Leute kamen ja trotzdem weiter, wir waren eine etablierte Einsatzstelle geworden. Zu dieser Zeit waren die Pilgerwege in Sachsen noch neu. Und ich hatte von verschiedenen Initiativen gehört, die dort pilgern, und wusste, da gibt es gemeinnützige Herbergen, die gerade im Aufbau sind. Und ich dachte mir: Vielleicht könnte ich mit einer Truppe von jungen Leuten dort entlangziehen und dann könnten sie dort ihre Arbeitsstunden leisten. Da war der Pilgergedanke noch gar nicht so sehr im Vordergrund, sondern eher die Ableistung der Stunden. Man geht eine Woche da lang, es ist sehr kompakt, die jungen Männer können nicht weg und so entstand die Idee aus dem Bedarf heraus.

    Von der Idee zur Umsetzung war es ein steiniger Weg, denn Sie brauchten Verbündete. Wie kam die Idee tatsächlich „auf den Weg"?

    Sven Enger: Vor der Umsetzung ist die Hürde der Finanzierung zu nehmen. In den Jahren 2009, 2010 und 2011 wurde das Ganze etabliert. Ich musste ein Grundkonzept entwerfen, musste Leute ansprechen. In dieser Zeit habe ich verschiedene Stellen abgeklappert und bin am Ende bei der Jugendgerichtshilfe gelandet. Dort kam ja auch der eigentliche Bedarf her. Und da habe ich hier im Jugendamt Dresden Glück gehabt, denn die Leute hatten Mut. Das muss man ein bisschen erklären: Die Jugendhilfe ist ein Bereich, in dem auch immer mal wieder gespart wird. Zu dieser Zeit war wirklich wenig Geld da. Und dass eine Behörde den Mut hat, in einer „Sparzeit" eine neue Idee umzusetzen, ist wirklich außergewöhnlich. Und so gab es dann 2011 die erste offizielle Durchführung in Kooperation mit einem kommunalen Jugendhilfeträger.

    Und da hieß das Programm auch noch anders.

    Sven Enger: Ja, da war es vorerst nur ein Projekt und das hatte verschiedene Arbeitstitel. Einer hat sich hartnäckig gehalten: „Der Arbeitsweg". Also wie wenn man früh zur Arbeit geht. Und das war tatsächlich so: Sie gehen und arbeiten. Später sind wir von dem Begriff abgewichen. Ich finde ihn nicht so treffend.

    Warum nicht?

    Sven Enger: Klar, er beschreibt das Wesentliche für die Zielgruppe der Straffälligen. Aber für andere Zielgruppen als die Straftäter würde ich ihn nie verwenden, er ist sehr einseitig. Und wenn ich Vertreter anderer europäischer Projekte getroffen habe, zum Beispiel in Italien, dann haben die mich völlig entgeistert angeschaut: „Das ist ja wie im Dritten Reich, Arbeitsweg." Das hatte für sie einen Widerhall, der mir selbst nie in den Sinn gekommen war.

    Seit 2013 läuft das Programm unter dem Dach der Sächsischen Jugendstiftung. Wie kam es dazu?

    Sven Enger: Das ist ein großer Schritt gewesen, ein richtiger Perspektivenwechsel. Die Ergebnisse, die auf kommunaler Ebene in Dresden erzielt wurden, waren so vielversprechend, dass die Stiftung gesagt hat: Ja, das könnten wir vielleicht auf andere Zielgruppen und den ganzen Freistaat ausweiten. Und so ist das Projekt 2013 zur Sächsischen Jugendstiftung gekommen, zunächst in unveränderter Form, aber mit der Maßgabe, das Programm für andere Zielgruppen zu öffnen. Ab da kamen dann junge Leute auf Jobsuche hinzu und junge Erwachsene mit gebrochenen Biographien oder schlechten Teilhabevoraussetzungen, wie fehlendem Schulabschluss.

    Arbeitslose, also junge Erwachsene, die von den Jobcentern geschickt werden, sind die zweite große Gruppe Jugendlicher, die mit Ihnen pilgern. Was versprechen sie beziehungsweise ihre Betreuer sich von so einer Pilgerreise?

    Sven Enger: Beim Jobcenter geht es um die Aktivierung und die Mitwirkung. Eine Grundpflicht eines jungen Arbeitslosen ist es, dass er mitwirkt bei seiner Vermittlung. Ich bin in der Zusammenarbeit mit den Jobcentern auf verschiedenste Ansichten gestoßen. Es gab Sachbearbeiter, die gesagt haben: „Wenn die nicht mitgehen, dann kürzen wir denen einfach das Hartz IV. So etwas machen wir als Sächsische Jugendstiftung natürlich nicht mit. Wir haben da die Perspektive verändert, indem wir gesagt haben: „Leute, die sich Ihnen verweigert haben und jetzt freiwillig bei so einer Pilgerreise mitgehen, die stellen eigentlich unter Beweis, dass sie zulassen, sich zu belasten. Die wollen sich einer Herausforderung stellen. Und wenn sie das durchgehalten haben, dann sollten die vorzeitig wieder in den Genuss der Bezüge kommen. Das ist ein Gedanke, der im Jobcenter ganz gut aufgenommen wird. Aus dem Jobcenterbereich kommen aber tatsächlich auch die meisten, die später freiwillig mit uns eine weitere Tour gehen. Dann meist nach dem Motto: Irgendwie bin ich in einer Sackgasse, ich muss mal überlegen, wo ich überhaupt hin will.

    Der Ablauf der Woche ist trotzdem für alle Zielgruppen gleich oder gibt es da Abweichungen?

    Sven Enger: Das Programm ist nicht das gleiche. Die hohe Konfrontation, die mit den Straffälligen genutzt wird, weil es ja eine gerichtliche Auflage ist, die Stunden abzuleisten, die macht mit Leuten, die freiwillig gehen, wenig Sinn. Es bleibt aber in einem Punkt gleich herausfordernd: Laufen muss jeder selbst.

    Jeder Weg hat ein Ziel. Für die Jugendlichen ist es zum Beispiel das Ziel, ihre Sozialstunden abzubauen. Was ist Ihr Ziel?

    Sven Enger: Ich fand es immer sinnvoll, dass sich ein junger Mensch mal aus seinem Umfeld herausbegibt und sich gänzlich andere Lebensentwürfe anschaut. Meiner Meinung nach sollte man nicht immer nur sagen: Mach dies anders oder jenes besser. Junge Leute müssen auch mal sehen, wie es anders geht. Und diese ganze Welt der Herbergen und des Pilgerwegs ist tatsächlich ein sehr konträrer Lebensentwurf zu dem, was neunundneunzig Prozent unserer Teilnehmenden kennen. Also, wenn man zum Beispiel in einem Plattenbau in Dresden oder Leipzig aufwächst, ist das etwas ganz anderes als die ländliche Umgebung der Via Regia und die auf Solidarität und Nächstenliebe ausgerichteten Herbergen. Und darüber hinaus fand ich es immer ein erstrebenswertes Ziel, die jungen Leute nicht nur aus ihrem geographischen Umfeld herauszunehmen, sondern tatsächlich auch mal aus ihren Systemen. Denn dann können sie plötzlich eine völlig neue Rolle annehmen. Man kann austesten, wie es wäre, anders zu sein, aber man wird auch automatisch anders behandelt. Also wenn ich in meinem normalen Umfeld jemand bin, der häufig Probleme verursacht, dann kriege ich irgendwann ein entsprechendes Label. Ich kriege so einen Sticker, auf dem steht „Problem und werde dann auch so behandelt. Wenn ich daneben auch noch wenig wirtschaftliche Kraft habe und arm bin, dann unterscheide ich mich schon allein durch meine Kleidung von den anderen in meiner Altersgruppe. Aber wenn dann so ein relativ „zerlumpter, junger Mensch mit einem Rucksack die Via Regia entlangzieht, dann ist das in der Wahrnehmung der Außenwelt ein Pilger, der schon eine Weile unterwegs ist. Wenn der in eine Herberge eincheckt, wird er, egal mit welchem Problem er kommt, behandelt wie jeder andere. Das heißt, während des Pilgerns wird vorübergehend das alte Label abgemacht und durch ein neues ersetzt. Da erhält ein junger Mensch die Chance zu empfinden, wie das ist, ein anderes Label zu tragen, auch wenn die jungen Leute das nicht sofort realisieren. Aber das hat bei manchen Jugendlichen einiges ausgelöst.

    Zum Beispiel?

    Sven Enger: Einmal war es so heiß, dass man nicht genügend Wasser tragen konnte. Wenn es sehr heiß ist, braucht man schon einige Liter am Tag. Sie waren gezwungen, Leute an der Strecke zu fragen: Können wir mal in Ihrem Garten Wasser auffüllen. Und eine Frau hat gesagt: „Jungs, ihr werdet doch hier nicht Wasser trinken wie meine Kühe. Ich gebe euch Mineralwasser. Und sie schenkte ihnen Mineralwasser in Flaschen. Da sagte einer: „Herr Enger, wissen Sie, wenn ich in meinem Plattenbau irgendwo klingele und nach etwas frage, da kriege ich überhaupt nichts. Oder ein junger Mensch hat mal schweigend mit mir in einer Kirche gesessen. Die anderen waren dann schon wieder raus, denen war das zu leise. Und der blieb einfach sitzen. Wir liefen dann weiter und so zwei Kilometer später sagte er plötzlich aus dem Schweigen heraus: „Wissen Sie, was ich gerade gemerkt habe? Ruhe tut mir gut. Das ist für einen neunzehnjährigen Rabauken wirklich eine große Erkenntnis. Eine andere Situation war in einer Herberge. Die jungen Leute schlafen getrennt von uns in ihrem eigenen Bereich, das ist mir auch wichtig, die müssen ja auch mal über uns schimpfen können. Und zu mir hat mal einer gesagt: „Ich bin total begeistert. Ich dachte, wir werden hier abends eingeschlossen. Das lässt erahnen, wie fest der sein Label schon dran hatte.

    Sie sagten, die meisten Jugendlichen werden geschickt. Aber für Sie ist auch ein Grundprinzip die Freiwilligkeit. Wie passt das zusammen?

    Sven Enger: Sie werden geschickt, aber sie müssen selber durchhalten. Das kann ihnen keiner abnehmen und das ist dann freiwillig. Viele „traditionelle Pilger haben auch einen konkreten Grund, warum sie losgehen, eine Umbruchzeit, eine Krankheit, einen Verlust, ein Bedürfnis. Und sie entscheiden sich freiwillig loszugehen und zu suchen. Sie werden also aktiv. Das ist bei unserer Zielgruppe anders. Sie sind bis dahin passiv, denn sie werden ja von einem Amt, einer Behörde geschickt. Aber nach dem Loslaufen sind meiner Meinung nach alle gleich, denn das Durchhalten und Weitergehen ist dann eine eigene Entscheidung, die jeder Pilgernde täglich neu treffen muss. Und auch wenn ein junger Mensch sagt, ich breche die Pilgerreise ab, ist das prinzipiell akzeptabel. Dann hat er eine Entscheidung getroffen. Wenn er das ordentlich macht und sagt: „Das ist hier nichts für mich, dann ist das beachtenswert. Denn er hat zum Beispiel nicht den Leiter durch einen Regelverstoß gezwungen, ihn zu entlassen. Und zur Freiwilligkeit gehört letztendlich auch, dass die jungen Straffälligen sich zumindest aussuchen können, wo sie ihre gemeinnützigen Arbeitsstunden leisten, ob in einem Krankenhaus, einem Jugendhaus oder bei uns. Es gibt also keine expliziten Verurteilungen zum Pilgern, und das soll auch so bleiben.

    Sie sind fünf Tage mit den Jugendlichen unterwegs. Montag bis Freitag. Wie beginnt eine typische Pilgerwoche?

    Sven Enger: Ich lerne die Gruppen am Montagfrüh kennen. Bei den Straffälligen sind es eigentlich immer junge Männer. Junge Frauen werden in dieser Altersgruppe seltener straffällig oder befinden sich oft schon in anderen Lebenslagen, sind zum Beispiel bereits Mutter. Die meisten jungen Menschen, die ich geführt habe, kannte ich vorher nicht. Bei Straffälligen generell nicht. Ich weiß nichts von ihrer Vorgeschichte. Das macht es mir viel leichter, erst einmal alle gleich zu behandeln. Denn es gibt Straftaten, die auch mich mehr abschrecken als andere.

    Das heißt, meist erzählen Ihnen die Jugendlichen in einem ruhigen Gespräch auf dem Weg, warum sie dabei sind?

    Sven Enger: Ja, aber sie müssen es nicht. Es geht in dieser Woche nicht vorrangig um die Taten der Vergangenheit, sondern um eine mögliche Zukunft. Für ihre Fehler sind sie verurteilt worden. Sie haben im Kontext dieser Dinge schon alles erzählt, zum Beispiel bei der Polizei, beim Jugendamt, beim Jugendrichter. Sie haben in der Regel vor den Gerichten und vor den Sachbearbeitern Versprechen abgelegt, dass sie sich bessern wollen. Dafür erfahren sie ja auch Milde. Und meine Aufgabe ist es eher, das gegebene Versprechen zu prüfen und mit ihnen nach Perspektiven zu suchen.

    Wie wird auf dem Weg ein Versprechen geprüft?

    Sven Enger: Na, vor allem durch die Bewältigung der Strecke. Achtzig Kilometer lassen sich nicht durch Worte verkürzen, sie müssen gegangen werden. Das Ganze ist in gewisser Hinsicht auch ein Symbol dafür, dass sie es mit ihrer Entscheidung ernst meinen.

    Der Beginn des Pilgerns markiert also in jeder Hinsicht einen Neustart für die jungen Menschen. Was passiert am Montag?

    Sven Enger: Ich übernehme eine Gruppe, fahre mit ihnen, meist mit dem Zug, an den Startpunkt, denn ich laufe mit den Gruppen immer von einem bestimmten Punkt in Richtung ihrer Heimat zurück. Das hat sich bewährt, denn, wenn so ein junger Mensch vor hat abzuhauen, will er in der Regel nach Hause, also kann er eigentlich auch mit der Gruppe weiterlaufen, das motiviert ein bisschen besser. Ein typischer Montagmorgen ist ziemlich wortkarg. Viele der jungen Menschen sind noch deutlich geschwächt vom harten Partywochenende, das doch etwas früher zu Ende ging als üblich. Wir starten um acht, sonst schafft man die erste Tagesstrecke nicht. Am Montag sind ungefähr zwanzig Kilometer dran. Was man auf den ersten Blick sieht, ist der Ausrüstungszustand. Also jeder Teilnehmer bekommt von uns über die Sachbearbeiter eine Information, was sie für die Woche brauchen und was vielleicht eher nicht. Und das Ganze ist vorzugsweise in einem Rucksack zu transportieren, denn sie müssen es ja circa achtzig Kilometer weit tragen. Wer keinen Rucksack hat oder wem etwas fehlt, der kann das über die Sächsische Jugendstiftung kostenfrei ausleihen, sodass niemand ausgeschlossen ist. Ich erlebe aber regelmäßig am Montagmorgen Leute, die mit einer Reisetasche dastehen und sagen: „Ach, das kriege ich schon hin." Ich weiß in dem Moment schon, die werden es schwerer haben, weil sich eine Reisetasche einfach nicht so gut trägt wie ein Rucksack.

    Was machen Sie dann? Haben Sie einen Notfallrucksack dabei?

    Sven Enger: Nein, denn es gilt die Selbstverantwortung. Es gibt ein Vorbereitungsblatt, das erhalten alle über die zuständigen Jugendmitarbeiter. Und sie haben alle ausreichend Zeit sich vorzubereiten. Und an diesem Punkt beginnt auch die Reflexion. Ich bin Sozialarbeiter, ich helfe beim Reflektieren, nicht beim Tragen. Man kann etwa sagen: „Sehen Sie, das haben Sie selbst verursacht. Es geht Ihnen jetzt schlechter als Ihren Gefährten, weil Sie sich nicht vorbereitet haben. Sie hätten sich einen Rucksack ausleihen können." Das hört sich zunächst zynisch an, ist es aber nicht, das ist einfach die Realität. Wenn man sich immer so schlecht vorbereitet, wird man es immer schwerer haben. Nicht die Welt macht es mir schwerer, sondern ich mir selbst. Um eben solche Erkenntnisse, die sich auf den Alltag zurück übertragen lassen, geht es in unserem Programm.

    Wie starten Sie in die Wanderung?

    Sven Enger: Wir

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