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Waldenserblut. Historischer Kriminalroman: Eine packende, lebendig geschriebene Kombination aus Fakten und Fiktion zum Thema religiöse Minderheiten und Migration
Waldenserblut. Historischer Kriminalroman: Eine packende, lebendig geschriebene Kombination aus Fakten und Fiktion zum Thema religiöse Minderheiten und Migration
Waldenserblut. Historischer Kriminalroman: Eine packende, lebendig geschriebene Kombination aus Fakten und Fiktion zum Thema religiöse Minderheiten und Migration
eBook376 Seiten5 Stunden

Waldenserblut. Historischer Kriminalroman: Eine packende, lebendig geschriebene Kombination aus Fakten und Fiktion zum Thema religiöse Minderheiten und Migration

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Über dieses E-Book

Die spannende und bis heute nachwirkende Geschichte der Waldenser in Baden-Württemberg wird in in diesem historischen Kriminalroman lebendig. Auch zu Beginn des 18. Jahrhunderts war das Leben für die Angehörigen von religiösen Minderheiten und für Migranten nicht einfach. Aberglaube und Gier standen fortschrittlichen Tendenzen im Wege, darunter hatten vor allem Außenseiter und Minderheiten zu leiden, woran sich bis heute nicht allzu viel geändert hat.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Apr. 2019
ISBN9783842518469
Waldenserblut. Historischer Kriminalroman: Eine packende, lebendig geschriebene Kombination aus Fakten und Fiktion zum Thema religiöse Minderheiten und Migration

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    Buchvorschau

    Waldenserblut. Historischer Kriminalroman - Ulrich Maier

    umzusehen.

    DER HEXER

    HEUCHELBERGWALD BEI SCHLUCHTERN

    Mitten in einem dichten Wald am Nordrand des Heuchelbergs, nahe der Grenze zum Herzogtum Württemberg und zur Reichsstadt Heilbronn, lebte vor über dreihundert Jahren ein Mann, den die Leute den Hexer nannten, wenn sie unter sich über ihn lästerten; wenn sie aber seiner Hilfe bedurften, nannten sie ihn den weisen Samuel.

    Ein Großteil des Waldes gehörte als kleine Exklave zum Ritterstift Odenheim, das nahe Schluchtern dagegen unterstand dem kurpfälzischen Amt Mosbach. Das pfälzische Dorf mit seiner kleinen Gemarkung lag eingezwängt zwischen dem Herrschaftsbereich des Freiherrn von Neipperg und dem Herzogtum Württemberg, ein bis zwei Wegstunden entfernt von dem selbstständigen Gebiet der ehrwürdigen Reichsstadt Heilbronn.

    Der Hexer hatte sich seinen Wohnsitz zwischen all diesen Ländergrenzen nicht zufällig ausgesucht. Drüben im Württembergischen durfte er sich nicht sehen lassen, wegen schwerer Anschuldigungen, die man dort gegen ihn erhob: Giftmischerei, Hexerei, Mord und Kindesentführung warfen ihm die Behörden vor. Die Stiftsherren von Odenheim kümmerten sich wenig um ihren Wald, weit weg von ihrem Stammsitz, den sie seit Langem in die Residenz Bruchsal des Bistums Speyer verlegt hatten, und für den kurpfälzischen Amtmann in Mosbach lag das kleine Schluchtern noch weiter entfernt.

    Aber der Freiherr von Neipperg im nahen Schwaigern hielt schützend seine Hand über ihn. Sicher vor Verfolgung war er freilich auch in dem abgelegenen Grenzgebiet nördlich des Heuchelbergs nicht.

    Dass er sich in diesem versteckten Winkel nahe der seit Jahrhunderten tief im Boden des Waldes versunkenen Harchenburg niedergelassen hatte, dafür gab es einen weiteren Grund. Denn gleich jenseits des Heuchelbergs hatten sich seine Landsleute aus dem Pragelatal angesiedelt. Sie kamen vom nordwestlichsten Zipfel der Dauphiné in die Kolonie, die der Herzog von Württemberg den geflüchteten Waldensern auf den Gemarkungen Nordheim und Hausen zugewiesen hatte. Wie er selbst waren sie als Angehörige der französisch-reformierten Kirche vor einigen Jahren aus ihrer Heimat vertrieben worden, weil sie sich standhaft geweigert hatten, zum katholischen Glauben zurückzukehren.

    In einem kleinen Seitental des Wolfsbrunnenbachs hatte sich der Hexer auf einer Waldlichtung in einem alten Gemäuer eingerichtet, das wohl vor dem Dreißigjährigen Krieg als Forsthaus gedient hatte. Das verfallene Häuschen durfte er mit Genehmigung des kurpfälzischen Hofes auf eigene Kosten wieder instand setzen, denn mittellos war er nicht.

    Bei ihm lebte ein Junge von damals vierzehn Jahren, aus der Kolonie, ein Waisenkind, das dort niemand haben wollte, denn man munkelte, es sei von bösem Blut.

    Im Herd flackerte ein kleines Feuer und ließ die Schatten gespenstisch über die Wände tanzen. Der Alte saß in seinem Lehnstuhl an einem schweren Eichentisch und las beim Licht der dicken Kerze in einer alten Schrift.

    »Bring mir den Grand Albert aus dem Bücherschrank«, herrschte er den Jungen an, der sich gleich auf den Weg machte und den schweren Wälzer anschleppte.

    »Und jetzt nimm den Korb und hol Holz«, brummte er, nachdem er das Buch mit beiden Händen in Empfang genommen. Beiläufig und kaum verständlich murmelte er so etwas wie einen Dank.

    »Nimm das Beil mit, wir brauchen auch Späne zum Anfeuern!«, rief er Pierre hinterher.

    Kaum hatte der Junge mit dem Holzhacken auf dem schweren Eichenklotz vor dem Schuppen begonnen, da hörte er Pferdehufe und knackende Zweige. Ein Reiter näherte sich auf dem schmalen Weg vom Wolfsbrunnenbach ihrem Haus. Er trug einen weiten, ärmellosen Mantel aus schwarzem Tuch und auf dem Kopf ein federgeschmücktes Barett. An einem langen Riemen über der Schulter hing eine Tasche aus glänzend schwarzem Leder.

    Pierre erkannte schnell, dass er einen Vertreter des gelehrten oder gar geistlichen Standes vor sich hatte, denn Besuch bekam der Alte nicht selten, und er hatte gelernt, die Leute, die zu ihm kamen, nach ihrer Kleidung und ihrem Auftreten zu taxieren.

    »Führ mich zu Meister Samuel«, forderte der fremde Reiter den Jungen beim Absitzen auf.

    Als dieser ihm abwartend dabei zusah, wie er aus dem Steigbügel auf den Boden sprang, runzelte der Fremde die Stirn und wiederholte seinen Auftrag auf Französisch.

    Während er den Zügelriemen seines Pferdes um einen großen bronzenen Ring schlug, der in die Mauer eingelassen war, und ihm auffordernd in die Augen sah, nickte der Junge zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und wies auf die Haustür, die sich in eben diesem Augenblick öffnete.

    Der Alte trat unter die Tür und blinzelte dem Reiter im hellen Licht der Abendsonne entgegen, die durch das Laub der Buchenzweige gleißend auf seine Augen fiel und ihn blendete. Als er den Gast endlich erkannt hatte, bat er ihn nach einem kurzen Gruß herein. Den Jungen schickte er in den Stall zu den Ziegen und trug ihm auf, dort auszumisten und neu einzustreuen, aber dem Pferd des Gastes zuvor einen Eimer Wasser aus dem nahen Bach zu holen und es zu versorgen.

    Kaum waren die beiden im Haus verschwunden, holte der Junge einen Holzkübel aus dem Stall, lief zum Bach und schleppte den schweren Wassereimer zurück. Mit Freude machte er sich daran, das Pferd zu tränken, und tätschelte dabei seinen Hals, während er ihm leise zusprach und beim Saufen zusah. Wie gerne hätte er das schöne Tier losgemacht und wäre fortgeritten – durch den Wald, über die Felder, ins weite Land hinein!

    Dann ging er mit dem leeren Eimer in den Stall zu den Ziegen. Doch bevor er sich an die aufgetragene Arbeit machte, löste er ein Holzstück aus einem Astloch in der Holzwand zum angrenzenden Haus, das so den Blick hinüber zur großen Stube freigab, und begann hindurchzuspähen.

    Von seinem Versteck aus konnte er den ganzen Raum überblicken: Neben dem Herd das große Regal mit den Glasflaschen, Tiegeln, Mörsern, kupfernen Töpfen und kleinen Pfannen, die der Alte für die Herstellung seiner Wundermittel verwendete, daneben die Wand, wo die Kräuterbüschel zum Trocknen aufgehängt waren, auf der anderen Seite der schmale, hohe Schrank, immer verschlossen, mit den seltenen Kostbarkeiten.

    Der Alte und der Besucher unterhielten sich auf Deutsch, das er inzwischen gut verstand. Der junge Mann mit dem schwarzen Umhang saß auf dem gedrechselten Holzstuhl des Meisters mit den breiten ledergepolsterten Armlehnen und redete auf den Alten ein. Der hatte auf einem Schemel ihm gegenüber Platz genommen. Er wollte eine Arznei, so viel hatte der Junge mitbekommen, nicht für sich selbst, sondern für den Kapitular der Odenheimer Stiftsritter in Bruchsal, einem speyrischen Domherrn.

    Während der Mann noch sprach, stand der Meister von seinem Schemel auf und legte ein paar dürre Äste ins Herdfeuer. Sie loderten hell auf und verbreiteten ein unruhig flackerndes Licht. Er hieß den Besucher in die Flammen schauen, und als dieser seinen Kopf neugierig zum Feuer wandte, berührte ihn der Alte wie zufällig leicht an der Schulter und sprach zu ihm mit leiser, beschwörender Stimme einige Worte auf Latein. Dann hob er langsam seine Rechte und führte sie vor dem Gesicht des Mannes in ruhiger Bewegung auf und ab und wieder auf und ab.

    Pierre ahnte schon, was das zu bedeuten hatte, und einen Augenblick später trat das ein, was er erwartet hatte.

    Der Fremde erstarrte mit einem Mal. In seinem Holzstuhl verharrte er regungslos, immer noch das Gesicht dem Feuer zugewandt, während ihn der Alte mit kurzem Blick prüfend musterte und sacht anstieß.

    Wie oft hatte Pierre ähnliche Szenen erlebt! Der Meister zögerte nicht, manche seiner Besucher in tiefen Schlaf zu versetzen, bevor er am Herd zu hantieren begann, damit diese nichts davon mitbekamen, was er da trieb.

    So trat der Alte auch jetzt wieder an den Herd, setzte einen Tiegel auf ein dreibeiniges eisernes Gestell, gab einige Zutaten hinein, schloss den Schrank seiner gehüteten Kostbarkeiten auf und entnahm ihm ein kleines braunes Glasfläschchen, aus dem er einige Tropfen in den Tiegel träufelte.

    Bald begann es zu dampfen und zu zischen. Eine gelbliche Wolke stieg auf und verteilte sich im Raum. Während der Fremde immer noch reglos dasaß, rührte der Meister die Mischung sorgsam um, nahm sie vom Feuer, murmelte einige lateinische Sprüche und füllte die Flüssigkeit aus dem Tiegel vorsichtig durch den Trichter mit dem feinen Sieb in ein weiteres Glasfläschchen, das er gleich verkorkte und mit Wachs versiegelte.

    Zum Schluss drückte er in das noch weiche Wachs über Kork und Flaschenhals seinen Siegelring.

    Kaum hatte er das Fläschchen auf den Tisch gestellt, wandte er sich wieder seinem Besucher zu, sah ihm eindringlich ins Gesicht und sprach nur ein Wort: »Sursum!«

    Gespannt wartete der Junge darauf, was nun geschähe, und verbiss sich ein Lachen. Der Angesprochene reagierte sofort, sprang auf, rieb sich die Augen und betrachtete verwundert den Alten, der ihm nun lächelnd die gewünschte Arznei überreichte.

    »Verzeiht, ich war eben ganz in Gedanken.«

    Der Alte nickte freundlich, bat ihn, sich noch kurz zu gedulden, und wies auf den Stuhl, in den sich der Besucher wieder setzte. Er nahm einen Bogen Papier, schrieb einige flüchtige Zeilen, faltete ihn mehrfach und versiegelte den Brief auf dieselbe Weise, wie er eben das Fläschchen verschlossen hatte. Mit der flachen Hand schob er das Schriftstück seinem Besucher über den Tisch zu.

    Der stand auf, zog aus seiner schwarzen Ledertasche einen Stoffbeutel und überreichte dem Alten daraus drei Goldmünzen, die dieser nach einer angedeuteten Verbeugung schnell in der Tasche seines weiten Umhangs verschwinden ließ, bevor er den Herrn zur Tür begleitete und sich mit Dank und Gruß verabschiedete. Schnell steckte der Junge das Holzstück in das Astloch zurück und machte sich ans Ausmisten des Stalls.

    REISE NACH BRACKENHEIM

    BRACKENHEIM

    Die Kutsche schaukelte ächzend über die steinige Straße und machte das Lesen fast unmöglich. Daniel Pastre schaute auf die hügelige Landschaft, während er an diesem sonnigen Mittag durch Felder und Wiesen auf die württembergische Amtsstadt Brackenheim zufuhr.

    Früh am Morgen war er vom Pfarrhaus des württembergischen Grenzstädtchens Knittlingen aufgebrochen. Ein Fuhrmann hatte ihn bis zur Poststation im nahen pfälzischen Bretten mitgenommen. Über die ebenfalls kurpfälzische Stadt Eppingen hatte ihn die Reise zunächst in die nahe Reichsstadt Heilbronn geführt. Hier musste er in eine privat betriebene Landkutsche ins württembergische Brackenheim umsteigen. Mehrmals hatte er an diesem Tag eine Landesgrenze überquert.

    Noch einmal machte er den Versuch, sich in der schwankenden Kutsche in die Unterlagen zu vertiefen, die ihm Pfarrer Jean Dumas aus der Waldensergemeinde Villars bei Knittlingen mitgegeben hatte. Ein Streitfall innerhalb einer Gemeinde war nichts Außergewöhnliches. Aber was dem Nordhausener Pfarrer von seinen Kirchenältesten vorgeworfen wurde, sprengte alles bisher Dagewesene.

    Dumas wollte sich über die Lage in der neuen Kolonie bei Brackenheim informieren lassen. Er sollte auf der kommenden Synode über die Streitfälle in Nordhausen berichten. Da er selbst altershalber keine weiten Reisen mehr unternehmen konnte, hatte er seinen Pfarrvikar Daniel Pastre losgeschickt, der ihn bei seinen synodalen Aufgaben unterstützte.

    Pastre hatte in Genf und Marburg Theologie studiert und wartete seit Monaten auf eine eigene Pfarrei in einer waldensischen oder hugenottischen Gemeinde. Seit mehr als fünf Jahren lebte er nun in Deutschland und beherrschte die Sprache inzwischen fast akzentfrei. Obwohl die Menschen im hessischen Marburg ganz anders redeten als in Württemberg, verstand er sie problemlos und konnte sich mit ihnen fließend unterhalten.

    »Hüa, Hüa!«, rief der Kutscher und ließ die Leine auf den Pferderücken klatschen, aber die schaukelnde Kiste fuhr immer langsamer, und schließlich stand sie still.

    Ärgerlich sprang der Kutscher von seinem Sitz, trat zu seinen Fahrgästen und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Bitte die verehrten Passagiere auszusteigen, gleich geht’s weiter!«

    Daniel Pastre und die beiden anderen Fahrgäste zwängten sich aus der Kutsche und warteten auf eine weitere Erklärung.

    »Die Straße hier ist zu steil«, entschuldigte sich der Kutscher, »aber seht, da oben haben wir die höchste Stelle schon erreicht. Es sind nur ein paar Schritte zu Fuß, dann könnt Ihr wieder einsteigen.«

    Der Dickbäuchige schimpfte und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Warum habe er nicht vier Pferde vorgespannt statt nur zwei alte Schindmähren? Eine Zumutung sei das! Schließlich habe man ja für die Reise in der Kutsche bezahlt! Missmutig machte er sich auf den Weg.

    Pastre half dem Kutscher, ohne sich darum bitten zu lassen, nahm das Pferd auf der rechten Seite am Riemen, während sich der Kutscher um den Gaul auf der linken kümmerte. Sie redeten den Tieren gut zu, und schließlich ruckte die um drei Fahrgäste erleichterte Kutsche wieder an.

    »Da unten liegt schon Brackenheim«, sagte der Kutscher zu Daniel, als sie endlich oben waren, und zeigte mit dem Peitschenstiel auf das württembergische Amtsstädtchen, das Ziel ihrer Reise.

    Dort lebte der Pfarrer von Nordhausen, Jean Guémar – nicht in einer der behelfsmäßigen Bretterhütten in der etwas entfernt liegenden Kolonie, sondern in einem bequemeren Haus in der Stadt.

    Bei der Poststation sah sich Pastre um, entdeckte das nahegelegene Gasthaus und erkundigte sich dort nach dem Weg.

    Der Wirt beäugte ihn misstrauisch. »Er sucht den welschen Pfarrer? Was will Er denn da?«

    »Ich komme im Auftrag der Waldensersynode und habe mich für heute bei ihm angemeldet.«

    »Von der Waldensersynode, so, so«, antwortete der Wirt mit gespielter Bedeutsamkeit. »Will Er nicht zuvor mit unserem richtigen Pfarrer sprechen? Der hält nicht viel von den welschen Teufeln da draußen!«

    »Es sind Christenmenschen, wie Ihr selbst einer seid!«, brauste Pastre auf und unterdrückte seinen aufkommenden Zorn nur mühsam. Wie sprach dieser ungehobelte Kerl über seine Landsleute? Er musterte den Wirt mit gerunzelter Stirn und fragte ihn schließlich laut und vernehmlich ein weiteres Mal nach dem Weg. Endlich erhielt er die gewünschte Auskunft: Die Hauptstraße hinauf bis zum Schloss. Dort solle er sich noch einmal erkundigen.

    Pastre machte sich auf den Weg durch die behäbigen hochgiebeligen Häuser der württembergischen Amtsstadt, welche die Straße säumten. Kaum jemand war hier zu sehen. Viele Baustellen fielen ihm auf. Aber auch dort wurde kaum gearbeitet.

    Vor dem Schloss traf er endlich auf einen Gendarmen, der ihm mürrisch antwortete, nachdem er ihm mit hochgezogenen Brauen von oben bis unten gemustert hatte. Er zeigte auf ein schmales Häuschen, wartete erst gar nicht seinen Dank ab, wandte sich um und schlenderte auf die Toreinfahrt dem Schlosshof zu.

    Pastre kam sich in diesem verschlafenen Nest wie ein Eindringling vor. Mit Fremden hatte man hier wohl schlechte Erfahrungen gemacht.

    Der Pfarrer sei nicht zu Hause, erklärte ihm ein vielleicht zehnjähriges Mädchen, das vor dem Haus auf einer Bank saß, Erbsen aus den Schoten pulte und in eine großen irdene Schüssel warf, was jedes Mal einen dumpfen Klang hervorrief. Als der Fremde nicht weiterging, unterbrach sie ihre Arbeit, stellte die Schüssel neben sich auf die Bank, nickte ihm freundlich zu und fragte: »Aber die Frau Pfarrer ist da. Soll ich sie holen?«

    Schon war sie aufgesprungen und lief ins Haus. Nach wenigen Augenblicken kam sie mit einer beleibten Dame zurück, die ihn ebenfalls misstrauisch musterte und dann auf Französisch ansprach.

    »Ihr kommt von Dumas aus Villars? Wir haben Euch erst am Abend erwartet. Mein Gemahl ist noch unterwegs. Darf ich Euch hereinbitten? Wollt Ihr schon mal Euer Zimmer beziehen?«

    »Danke, danke«, lehnte Daniel Pastre höflich ab. Es war noch früher Nachmittag, und ihm kam der Gedanke, dass er die Zeit bis zum Abend besser nutzen konnte, als hier untätig auf den Pfarrer zu warten.

    »Ich seh mich noch etwas im Städtchen um, aber mein Gepäck könnte ich vielleicht bei Euch stehen lassen?«

    Die Pfarrersfrau blickte ihn etwas befremdet an und trug dem Mädchen auf, dem jungen Herrn den Weg in das Gästezimmer zu zeigen. Sie sprach sie ebenfalls auf Französisch an, fiel Pastre auf.

    »Hilfst du deiner Mutter im Haushalt?«, fragte er beiläufig, als sie die schmale Treppe hinaufgestiegen und vor seinem Zimmer angekommen waren.

    »Ich habe keine Mutter mehr«, antwortete das Mädchen leise, »und mein Vater ist auch schon lange tot.«

    Ihre Antwort ging ihm nahe. Er dachte an die vielen Opfer und die ungezählten Waisen und Halbwaisen, die der Krieg gezeitigt hatte, der seit zwanzig Jahren in seiner Heimat immer wieder aufflammte. Sacht strich er dem Mädchen übers Haar. »Bist du mit den Flüchtlingen in die Kolonie gekommen?«

    Sie nickte stumm, und als er sie nach dem Weg dorthin fragte, gab sie ihm bereitwillig Auskunft. »Ganz einfach, die Landstraße nach Heilbronn, zuerst kommt Dürrenzimmern und dann schon Nordhausen.«

    Da war er doch eben hergekommen! Er musste, ohne es zu ahnen, an der Kolonie vorbeigefahren sein. Spontan fragte er: »Willst du mich begleiten?«

    Kurz leuchteten ihre Augen auf, dann blickte sie verlegen zu Boden. »Ich darf nicht«, sagte sie schnell, drehte sich um und rannte die Treppe hinunter.

    Was für eine seltsame Atmosphäre herrschte in diesem Haus, dachte sich Pastre und schüttelte den Kopf.

    »DU STEHST UNTER MEINEM BANN!«

    HEUCHELBERGWALD BEI SCHLUCHTERN

    Kaum war der Besucher davongeritten, rief ihn der Alte in die große Stube. Als Pierre unter der Tür stand und auf seinen Auftrag wartete, winkte ihn der Meister zu sich heran.

    »Du sollst mir nicht bei der Arbeit zusehen! Wie oft habe ich dir das schon gesagt!«, wies er den Jungen barsch zurecht und gab ihm eine Kopfnuss. »Hast du die Verse schon abgeschrieben?«

    Pierre nickte, holte vom Regal eine Wachstafel und reichte sie ihm. Der Alte überflog den Text und brummte etwas Unverständliches, was der Junge als Zustimmung deutete.

    »Hast du die Fabel auch verstanden?« Er sah ihn herausfordernd an. »Erklär mir den Inhalt! Auf Deutsch!«

    Pierre versuchte es, scheiterte aber schon bald.

    »Dann eben auf Französisch«, grummelte der Alte und hörte sich eine Weile an, was der Junge da zusammenstammelte. Schließlich gab er ihm die Tafel zurück und schickte ihn wieder zu den Ziegen.

    Noch war Pierre nicht mit dem Einstreuen fertig, da rief ihn der Meister erneut. Er stand schon im Hof und wartete ungeduldig auf ihn. Den bequemen Hausmantel, den er sonst zu tragen pflegte, hatte er mit seiner Reisekleidung vertauscht. Über einer schwarzen Hose, die bis unter die Knie reichte und über den weißen Strümpfen mit Schnallen geschlossen war, trug er ein Lederwams, darunter ein weißes Hemd mit weiten Ärmeln. Den Kopf hielt er mit einem breitkrempigen Hut bedeckt.

    »Hol den Esel aus dem Stall und leg ihm das Traggeschirr an«, rief der Alte und wandte sich noch einmal zum Haus.

    »In die Kolonie?«, fragte der Pierre hoffnungsvoll.

    »Nach Schluchtern!«, gab der Meister unwillig Antwort. »Warte hier auf mich«, rief er ihm zu und verschwand im Haus.

    Wie ihm aufgetragen war, führte der Junge den Esel aus dem Stall. Doch anstatt ihm das Tragegestell aufzulegen, sprang er in einer plötzlichen Eingebung übermütig auf seinen Rücken, trieb ihn mit den Fersen an und ließ ihn laufen, hinunter zum Wolfsbrunnenbach, dann nach links über den schmalen Weg Richtung Heuchelberg, auf dessen anderer Seite bald die Felder und Wiesen der Kolonie begannen.

    Sollte der Alte doch allein nach Schluchtern! Er wollte sehen, wie weit die Leute mit ihrem Dorf vorangekommen waren. Vor ein paar Wochen hatte der Feldvermesser die Bauplätze abgesteckt. War das Bauholz schon da? Als Erstes sollte eine kleine Holzkirche errichtet werden, hatte ihm der Alte berichtet und dabei nur geringschätzig gelacht.

    Pierre war noch nicht weit gekommen, da hörte er einen gellenden Pfiff hinter sich. Der Esel bockte, drückte die Vorderhufe in die Erde und ging keinen Schritt mehr weiter. Vergeblich versuchte er dem Tier gut zuzureden, tätschelte seinen Hals. Der Esel blieb wie angewurzelt stehen und spitzte stattdessen die Ohren. Da wurde er wütend und hieb ihm seine Fersen in die Seiten. Noch ein Pfiff! Jetzt drehte der Esel jäh um, schlug mit den Hinterbeinen aus, warf den Jungen ab und trabte Richtung Haus zurück.

    Er war auf den Rücken gefallen, schnappte nach Luft. Das Unterholz hatte seinen Sturz zwar etwas abgefedert, aber er spürte alle Rippen. Mühsam drehte er sich auf die Knie, stand auf und schaute sich um. Einen halben Steinwurf von ihm entfernt sah er den Meister gemessenen Schrittes den Berg zu ihm hochsteigen. Sollte er fortrennen? Aber wohin? Sich bei den Leuten drüben in der Kolonie verstecken? Über die Grenze ins Württembergische hinein oder hinüber in die große Stadt am Fluss? Darüber konnte er sich jetzt keine großen Gedanken machen. Einfach weg!

    Pierre bog die Äste auseinander, rannte ins Dickicht hinein und achtete nicht auf das Gestrüpp, über das er sprang, nicht auf die Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen. Das Gebüsch schloss sich hinter ihm sofort wieder. Bald würde der Alte keine Spur mehr von ihm finden.

    Die Sonne war längst untergegangen, und die Dämmerung versetzte die Umgebung in ein graublaues Zwielicht. Von Zeit zu Zeit blieb Pierre stehen, lauschte angestrengt, ob er knackende Zweige oder die Rufe des Alten hörte. Nichts.

    Mit einem Mal erfüllte ihn ein unbeschreibliches Gefühl des Triumphes. Wenn er die eingeschlagene Richtung beibehielt, immer schräg den Berg hinauf, müsste er bald oben am Grat stehen, wo sich die verwachsenen alten Weinberge bis ins Tal zogen, hinunter nach Nordhausen, in die Kolonie seiner Landsleute.

    Als Pierre schließlich oben bei der versunkenen Burg stand, bemerkte er, dass er sich noch weiter nach rechts halten müsste. Hastig kletterte er über mehrere Erdwälle, lief den schmalen Bergrücken über der engen Waldschlucht entlang und keuchte vor Anstrengung, als er drüben den steilen Hang hinaufhastete.

    Kurz vor dem Grat lichtete sich der Wald und machte einer schmalen Ebene Platz. Das Buschwerk trat zurück, kniehohe Gräser breiteten sich aus, durchsetzt von verschiedenen Stauden. Der Boden wurde weicher und feuchter. Mit seinen bloßen Füßen sank Pierre bis über die Knöchel ein. Wenn er sie herauszog, schmatzte der moorige Grund und warf Blasen. Wieder und wieder musste er Brennnesselfeldern ausweichen. Als er nicht aufpasste, stolperte er über einen dürren Ast und schlug der Länge nach hin, mitten in den sumpfigen Morast. Kaum hatte er den Kopf aus dem matschigen Dreckloch gehoben, sah er den Alten ruhigen Schrittes von der Lichtung her auf ihn zu spazieren. Wo kam der jetzt her?

    Meister Samuel zog ihn hoch, schüttelte ihn kräftig durch und versetzte ihm anschließend eine schallende Ohrfeige.

    »Hast du gedacht, du könntest mir davonlaufen?« Der Alte sah ihn durchdringend an. »Merk dir eins! Du kommst allein nicht aus diesem Wald heraus, solange ich das nicht will, denn du stehst unter meinem Bann. Hast du das kapiert?«

    Der Junge nickte stumm und hielt sich die schmerzende Wange.

    »Komm mit! Lauf vor mir her! Aber mach keine Dummheiten mehr!«

    Während Pierre den Berg hinabstolperte, dachte er daran, wie der Alte den Besucher in Schlaf versetzt hatte. Mit welcher Macht konnte er das Verhalten der Menschen bestimmen, ihren Willen ausschalten und sie beispielsweise in einen tiefen Traum versetzen? Verhexte er sie? Aber nach ihrem magischen Schlaf sah man ihnen nichts mehr an. Sie schienen sich überhaupt nicht daran zu erinnern, was der Meister mit ihnen angestellt hatte.

    Wie hatte er ihn nur so schnell finden können? Wie aus dem Nichts war er auf der Lichtung vor ihm erschienen. Er konnte doch nicht an ihm vorbeigelaufen sein? Der Meister hatte ihn längst noch nicht eingeholt! Das hätte er gehört. So schnell konnte der gar nicht laufen! Aber wie hatte er es dann geschafft, plötzlich da zu sein? Konnte er etwa fliegen? Und was sollte seine Erklärung bedeuten, die fast wie eine Drohung geklungen hatte: »Du stehst unter meinem Bann!?«

    Bei einbrechender Dunkelheit kamen sie zurück. Der Meister hieß ihn einen Eimer Wasser holen und schickte Pierre die schmale Holzstiege in seine Schlafkammer hoch.

    »Wasch dich, richte deine Kleider, und dann ab ins Bett!« Der Alte kam ihm nach, schlug die Tür von außen zu und verriegelte sie.

    Er hatte ihn einfach eingesperrt! Durch das schmale Fenster sah der Junge wenig später, wie er mit dem Esel loszog, Richtung Schluchtern.

    Ohne Abendbrot ins Bett? Er hatte Hunger! Wie lange würde der Alte wegbleiben? Schnell hatte er sich den gröbsten Schmutz mit Stroh abgewischt und sich umgezogen, dann trank er ein paar Hände voll Wasser aus dem Eimer und öffnete das Fenster.

    Prüfend blickte er hinab in den Hof. Sollte er hinunterspringen? Nein, das war entschieden zu tief! Und wenn er sich aus dem Fenster hangelte? Dann blieben noch gut zwei Mannslängen bis zum Erdboden. Auch zu gefährlich. Aber wenn er seinen Gürtel um das Fensterkreuz schlänge? Da fiel sein Blick auf die Wäscheleine, an der er eben seine nassen Sachen zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie spannte sich hinter dem Bett von einer Wand seiner Kammer zur anderen. Rasch holte er die Kleider von der Leine, knüpfte sie los und nahm Maß. Gut zwei Klafter! Das müsste reichen! Aber würde sie auch halten? Er prüfte das gedrehte Hanfseil auf kleine Risse, zog mehrmals kräftig daran. Es hielt!

    In aller Eile schlug Pierre die Leine um den dicken Dachbalken, der über dem Fenster aus der Wand ragte, und verknotete sie. Vorsichtig stieg er auf die Fensterbank, zog noch einige Male kräftig daran, während er beobachtete, ob die Knoten fest genug angezogen waren, und ließ sich langsam an ihr hinab, indem er sich in regelmäßigen Abständen von der Hauswand mit den Füßen abstieß. Das letzte Stück musste er springen.

    Auch die Haustür war von außen verriegelt und mit einem Schloss gesichert. Aber das kümmerte ihn wenig. Vom angebauten Ziegenstall führte ein schmales Türchen in die Küche. Es war zwar ebenfalls verschlossen, aber er wusste, wo der Schlüssel versteckt war. Der lag auf dem Balken, der den Verschlag des Esels von den Ziegen abtrennte, ganz oben, in einem schmalen Spalt unter der Decke eingeklemmt.

    Ohne Zeit zu verlieren, schlüpfte Pierre in den Ziegenstall, fingerte nach dem Schlüssel und öffnete das Türchen in die Küche. Dort schnitt er sich ein großes Stück Brot ab und schlang es in sich hinein.

    Eine diebische Freude erfasste ihn. Kauend stieg er die Holzstiege zu seiner Schlafkammer hoch, schob lässig den Riegel zurück, ging zum Fenster und schaute zufrieden hinunter auf den Hof. Im fahlen Mondlicht sah er da die Leine baumeln, zog sie hoch, löste den Knoten am Dachbalken und spannte sie an die Haken quer durch seine Kammer. Dann sammelte er die Kleider von seinem Strohsack und hängte sie wieder auf. Den Wassereimer nahm er mit, als er sich auf den

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