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Das pathologische Leiden der Bella Jolie: Novelle. Mit Illustrationen von Ailish Trimble
Das pathologische Leiden der Bella Jolie: Novelle. Mit Illustrationen von Ailish Trimble
Das pathologische Leiden der Bella Jolie: Novelle. Mit Illustrationen von Ailish Trimble
eBook148 Seiten1 Stunde

Das pathologische Leiden der Bella Jolie: Novelle. Mit Illustrationen von Ailish Trimble

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Über dieses E-Book

Eine moderne Variante des Narziss-Mythos – nicht romantisch und verklärt, sondern zeitgemäß und realistisch.

Sie nennt sich ›Bella Jolie‹. Ihr Gesicht ist digital genauestens registriert. Sie fotografiert es, jeden Tag, hundert Mal am Tag, irgendwann tausend Mal. Bis sie nicht mehr lebt. Der Fall wird zu einer gesellschaftlichen Sensation. Wer war diese Frau, die ihren Anblick scheinbar so sehr liebte, dass er sie tötete? Wegbegleiter zeichnen ein zutiefst widersprüchliches Psychogramm einer aufgeweckten und lebensmüden Tochter, Freundin und Geliebten…
Ramona Raabe erzählt in ihrem literarischen Debüt von einer fiktiven Suchterkrankung, welche das hochaktuelle Phänomen der "Selfie"-Kultur auf dramatische Weise zuspitzt und ihm zugleich eine sensible Tiefe verleiht.
Eine eindringliche Novelle über die Sehnsucht nach dem Ich, das sich bewahren lässt.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum23. Mai 2018
ISBN9783947373246
Das pathologische Leiden der Bella Jolie: Novelle. Mit Illustrationen von Ailish Trimble

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    Buchvorschau

    Das pathologische Leiden der Bella Jolie - Ramona Raabe

    dürfen.

    Der Vermieter

    Paul.

    In sich zusammengesunken, lehnt die junge Frau auf dem Dielenboden an der Wand, wie ein dünnes Stück Stoff, das eine Weile im Wind getanzt und sich nun endgültig hinabgesenkt hat. Wie eine Marionette, der mitten im Spiel die Fäden abgeschnitten worden sind. Kein Leben pulsiert mehr in ihr. Kein Zittern. Kein Hauch von einer Haltung. Das Haar ist vor ihr Gesicht gefallen wie ein Vorhang. Es ist honigblond, goldbraun. Strähnig und fettig hängt es von ihrem Kopf herunter. Schuppen haben sich in ihm eingenistet. Er weiß, dass sie schön ist, bevor er ihr Gesicht zu sehen bekommt. Beinahe ist es so, als könne er es ihrem Kopf ansehen. Oder den blassen Armen, die leblos von den Schultern hängen. Die fragilen Finger, von denen manche noch sanft das Gerät berühren, das sie in der Hand hält. Es ist kein Revolver. Es ist dasselbe Gerät, das auch er vorm Schlafengehen zu Rate zieht. Und auch jeden Morgen, um das Wetter zu erfahren, und die Nachrichten aus der Nacht. Der Körper, der das Handy im Schoß fürsorglich umschließt wie eine Mutter ihr Kind, ist spindeldürr. Nichts hält ihn mehr.

    So erinnert er sich an das erste Mal, als er sie sah. Es war das beste und somit für ihn das originäre Bild ihrer Statur und ihres Gesichtes. Mit den vielen publik gemachten Selbstfotografien von ihr konnte er nichts anfangen. Die abertausenden öffentlichen Fotos. Und die wenigen – aber dafür sehr bekannten –, welche die Medien immer wieder zeigen würden. Auf Titelbildern ihrer Blätter. Als Bilder ihrer Blogbeiträge. Als Illustration eines Artikels in einem Schulbuch. Die junge Frau und ihr forschender, fragender Blick in die Kamera, die zu ihrem täglichen Spiegel geworden war. Warum sie genau diese drei, vier bekannten Fotos immer wieder wählten, war ihm unklar. Es waren Fotos, auf denen sie lächelte. Dabei tat sie das auf den meisten Porträts nicht. Jedes Kind hätte sie auf einem dieser Fotos erkannt, aber auf anderen wäre sie im ersten Moment eine völlig Fremde geblieben. Nur ein anderer von viel zu vielen Menschen. Auf den bekannten Bildern ist sie Bella Jolie, die Bella Jolie. Die Menschen mögen wohl Wiederholungen. Sie mögen das Wiedererkennen. Es gibt ihnen das Gefühl, über ein Wissen der Abläufe zu verfügen. Dieses Wissen lässt sie glauben, sie hätten der Nichtplanbarkeit des Lebens etwas Unumstößliches entgegenzusetzen. Als könnten sie nicht so schnell überrascht werden. Natürlich ist so ein Foto in der Illustrierten keine Wissenschaft. Aber zweifelsohne versuchen sie es zu einer zu machen. Es gibt in dieser medial überfluteten Welt irgendwo noch ein Gespür für eine gemeinsame Heimat im Vertrauten, auch wenn sie aus denselben Posen und Possen besteht. Also immer wieder dieselben Bilder der Bella Jolie.

    Vor der Ikonographie dahinter graust es ihm. Für ihn war dies das erste Bild: das leblose Mädchen auf dem verstaubten Fußboden, der erste Eindruck, der sich unwiderruflich in ihn brannte. Leblos, leblos, wunderschön. Ein Dornröschen, das nie auf einen Prinzen gewartet hat. Eine junge Frau, eigentlich. So, wie sie da lag, eher ein Mädchen. Für immer ein Mädchen. Wie sagt man? Nur Tote bleiben ewig jung.

    Der Vater hatte angerufen, ganz aufgelöst, ja, man muss schon sagen: hysterisch. Dass man umgehend in dieser Wohnung nachschauen müsse! Hinterhaus, dritte Etage rechts, Sie erinnern sich doch sicher an meine Tochter. Er müsse sofort dahin, dies sei ein Notfall, er müsse nachsehen, ob die Mieterin in dem Objekt anzutreffen sei. Die Mutter sorge sich so fürchterlich. (Das klang nach einem Vorwand zur Relativierung der eigenen Panik.) Seit Wochen sei die Tochter verschwunden! Ja, er wisse, dass sie erwachsen sei, er sei schließlich der Vater (dies war ein Wort, dessen Wirkmacht er anscheinend nicht ausreichend zur Kenntnis genommen sah). Nein, sie hätten mittlerweile keinen persönlichen Kontakt mehr. Nein, das liege nicht daran, dass es einen Streit gegeben hätte. Das Verhältnis sei sehr innig. Nicht unproblematisch, zugegeben, aber innig. Es liege daran, dass niemand mehr persönlichen Kontakt zu seiner Tochter habe. Ob er keinen Zweitschlüssel habe? Ja, es habe Lebenszeichen gegeben, die Tochter veröffentliche noch Fotos. Nein, der Account könne nicht gehackt sein, die Fotos zeigten sie selbst! Vor einiger Zeit noch mehrmals am Tag! Der Schlüssel, hat er keinen Schlüssel? Ihr Gesicht, immerzu ihr Gesicht! Und meistens ein wenig Hintergrund. Aber immer weniger, immer weniger davon. Die Enge des Zooms macht sich breit. Trotzdem: ein bisschen Hintergrund. Auch wenn dieser sich in den letzten Wochen nicht verändert hat. Eine weiße Wand. Raufasertapete. Zu Hilfe doch, es muss jemand sofort nachschauen! Nach den Fotos zu urteilen, scheine das Töchterchen die Räumlichkeiten in den letzten Wochen nicht mehr gewechselt zu haben. Mehr wisse man doch auch nicht. Nur so viel: Es war, als habe er als Vater durch die Bilder an ihrem Leben teilhaben können, und doch war sie zum Geist geworden, aber immerhin zu einem mitteilsamen, regulär einkehrenden Geist. Aber seit dreiundsiebzig Stunden, seit dreiundsiebzig gab es kein neues Foto mehr. Das war zu lang, viel zu lang. Das war undenkbar. Damit galt Janina Ast als

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