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Kant für Kinder / Katechismus der Magie / Der Philosoph Ernst Marcus
Kant für Kinder / Katechismus der Magie / Der Philosoph Ernst Marcus
Kant für Kinder / Katechismus der Magie / Der Philosoph Ernst Marcus
eBook452 Seiten4 Stunden

Kant für Kinder / Katechismus der Magie / Der Philosoph Ernst Marcus

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Über dieses E-Book

Drei schmale Bücher aus den nicht so goldenen Jahren 1924-30. Kant für Kinder wurde damals begrüßt, der Faksimile-Nachdruck von 2004 ließ den griffigen Titel zum Schlagwort werden. In einfachen Fragen und Antworten, ohne Fremdwörter, bietet das Buch eine gründliche Einführung in Kants Ethik, Religionsphilosophie und Erkenntnistheorie. Der Katechismus, 1978 faksimiliert, will, ebenfalls in Dialogform und vom Standpunkt Kants, auch diejenigen zur Vernunft bringen, die mit übersinnlichen Kräften und okkulten Praktiken umzugehen glauben. Der Mahnruf gibt die erste kenntnisreiche Darstellung von Leben und Werk des Kantianers Ernst Marcus (1856-1928), zugleich eine unvermindert aktuelle Diagnose der Orientierungsprobleme unserer modernen Existenz. Mit Einleitung, Kommentar, Dokumenten und Abbildungen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum8. Juli 2014
ISBN9783735766601
Kant für Kinder / Katechismus der Magie / Der Philosoph Ernst Marcus

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    Buchvorschau

    Kant für Kinder / Katechismus der Magie / Der Philosoph Ernst Marcus - Salomo Friedlaender

    Salomo Friedlaender/Mynona

    Gesammelte Schriften

    Herausgegeben von

    Hartmut Geerken & Detlef Thiel

    In Zusammenarbeit mit der

    Kant-Forschungsstelle

    der Universität Trier

    Band 15

    Inhaltsverzeichnis

    Einleitung: Kants Kinder und seine Geheimlehre von Detlef Thiel

    Kant für Kinder

    Fragelehrbuch zum sittlichen Unterricht (1924)

    Vorwort

    I Was sollen wir tun?

    Anhang: Grundsätze der geschlechtlichen Sittlichkeit

    II Was dürfen wir hoffen?

    III Was können wir wissen?

    Katechismus der Magie

    Nach Immanuel Kants „Von der Macht des Gemütes"

    und Ernst Marcus’ „Theorie der natürlichen Magie"

    In Frage- und Antwortform

    gemeinfaßlich dargestellt (1925)

    Vorwort

    Reihenfolge der Fragen

    Der Philosoph Ernst Marcus als Nachfolger Kants

    Leben und Lehre (3. IX. 1856 – 30. X. 1928) Ein Mahnruf (1930)

    Ankündigungen und Rezensionen

    Anmerkungen und Nachweise

    Verzeichnis der Abbildungen

    Literaturverzeichnis und Abkürzungen

    Namenverzeichnis

    Sachverzeichnis

    Detlef Thiel

    Kants Kinder und seine Geheimlehre

    Kant für Kinder

    Katechismus der Magie

    Mahnruf

    Neuere Rezeption des Kinderkant

    „Der Galvanismus bleibt, was er ist. Kant für Kinder? Vielleicht bleibt auch Kant. In der Formulierung."

    1925, 417

    Drei schmale Bücher aus den nicht so goldenen Jahren 1924-30. Das erste wurde damals recht bekannt, der Nachdruck von 2004 ließ den griffigen Titel zum Schlagwort werden. Der Titel des zweiten Buches, 1978 im falschen Verlag mit schwachgeistigem „Kommentar" faksimiliert, wirkte irritierend. Das dritte Buch hatte damals, 1930, kaum noch Chancen, es ging klanglos unter.

    Die beiden ersten sind Fragelehrbücher, „gemeinfaßliche" Darstellungen. Friedlaender/Mynona (im Folgenden: F/M) veröffentlichte bereits 1907 zwei populäre Einführungen: Logik und Psychologie (GS 5); dem Kinderkant und dem Katechismus folgte 1932 Kant gegen Einstein (GS 1). In den ersten Exiljahren, als er noch hoffte publizieren zu können, schrieb F/M weitere Fragelehrbücher: Kant für Künstler (1934), Gut und Böse (1935), Führer Kant (nach Kants kleineren kritischen Schriften, 1937/38); sie werden erstmals in GS 23 gedruckt.

    1. Kant für Kinder

    Im Jahr 1900 lernt F/M den Philosophen kennen, der ihn aufs tiefste beeinflussen wird: Ernst Marcus (1856-1928), Justizrat in Essen, Verfasser von fünfzehn Büchern und vielen Aufsätzen, in denen er Kants Lehrstücke prüft und im Wesentlichen bestätigt, ihre praktische Anwendung aber klarer darstellt. Diesem didaktischen Impuls folgt auch F/M. „Kant selber hat ein solches Fragelehrbuch für Kinder in Vorschlag gebracht und selber schon angedeutet. Mein eigener ,Kant für Kinder’ ist zwar veröffentlicht, aber bisher Geheimnis geblieben." (Autobiographie, Kap. II) Tatsächlich hegte der junge Kant den Plan einer „Kinderphysik", ohne ihn zu realisieren; Johann Georg Hamann machte sich zuerst über die pädagogischen Inkompetenz seines Freundes lustig, gab dann aber ernsthafte Ratschläge.¹

    Über das von Hamann vermerkte Problem, schülergerecht vorzugehen, war F/M sich im Klaren. „Jedes Kind kann die Existenz der Repulsion, die Undurchdringlichkeit der Materie trotz all ihrer Attraktionskraft konstatieren."² Schon das sechsjährige Kind begreift das Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch. Soll das Nachdenken über Erziehung und Bildung praktisch werden, so muß man Leitfäden an die Hand geben:

    „Man sollte Kindern die Welt pessimistisch, sogar nihilistisch darstellen, aber zugleich auf das Göttliche hinzeigen, als auf das Unentbehrliche, Seltene, Kostbarste, ohne das kein Leben möglich ist: sie sollen die Welt verklären helfen. Das Subjekt muß verlernen, vom Menschen aus nach der Welt zu greifen, es muß von Gott aus durch den Menschen die Welt erfassen."³

    Gemeint ist keine offizielle Theologie oder bestimmte Konfession. Vielmehr zielt F/ M mit Kant auf den der mechanischen Naturkausalität enthobenen höchsten Punkt, von dem aus der Mensch sich erst selbst bestimmen kann als Absolutes, als Freiheit. „Probieren Sie diese Kultivierung des eigenen Willens!", fordert F/M seine Leser mitten im Krieg auf:

    „Sie wird in fünf Jahrzehnten reifer fruchten als fünf Jahrtausende anderer Kulturen. Sie würde, Kindern in der Schule beigebracht, dergestalt, daß diese sich selber nicht mehr ordinär, daß sie Gott nicht außen, sondern in sich, daß sie sich göttlich kennen lernten, das ganze gefälschte Weltkonto berichtigen und die Welt selber zum Stimmen bringen."

    Die Erziehung zu dieser inneren Göttlichkeit folgt einer Tradition, in der auch Kant steht: „Religion ist das Gesetz in uns [...] Das Gesetz in uns heißt Gewissen."⁵ F/M sucht seinen Zeitgenossen eine vernünftig orientierte Perspektive zu geben. Sie muß entschieden unzeitgemäß sein. Die von Wilhelm II. angeordnete Schulkonferenz hatte 1890 die Wehrerziehung beschlossen; lange vor dem Ersten Weltkrieg nahmen führende Militärs Einfluß auf Erziehung und Politik, unterstützt von heute noch beachteten Pädagogen und Philosophen.⁶ Darauf reagiert F/ M auch mit ätzender Ironie, tongue in cheek:

    „Das Kinderspielzeug wird bisher von ... Feiglingen erdacht. Gewiß gibt es z. B. auch hier Soldaten, Festungen, Kanonen, Wehr und Waffen, so daß es knallt, dampft, zischt und prasselt, schreckliche Schlachten geliefert werden. Aber es fließt z. B. kein Blut, die Sache bleibt trocken. Man führe Blut ein (natürlich künstliches!!!), und sofort macht es auch den Kindchen mehr Spaß." (GS 7, 370 f.)

    Was die Groteske Neues Kinderspielzeug im Sommer 1918 mit so grimmiger wie hintersinniger Lust am Detail ausführt, die Vorbereitung der Kinder aufs ,wahre’ Leben mit Hilfe von realistischem Kriegsspielzeug, ist ein Beispiel für F/ Ms Strategie polaristischer Umkehrung: Verzerrung, Pervertierung des Wirklichen bis zur Kenntlichkeit. Dahinter steht freilich die Einsicht: „Das Erziehungs-Prinzip, wonach man die Kinder möglichst lange vom echten, vollen, runden Leben abhält, ist absurd." (ebd.) Dieses Leben muß allerdings, erst recht in Kriegszeiten, gerade nicht militaristisch, sondern pazifistisch definiert werden.

    Am 12. November 1918, einen Tag nach dem Waffenstillstandsvertrag, richtet die Revolutionsregierung einen „Aufruf an das preußische Volk mit Forderungen wie: „Ausbau aller Bildungsinstitutionen, insbesondere der Volksschule. Schaffung der Einheitsschule. Befreiung der Schule von jeglicher kirchlicher Bevormundung. Trennung von Staat und Kirche.⁷ Die Berliner Reichsschulkonferenz 1920 führt zum berühmt-berüchtigten Weimarer Schulkompromiß: Mit Bezug auf Artikel 146,2 der Reichsverfassung vom August 1919 wird die Einrichtung von Simultan-, Konfessions- oder bekenntnisfreien Schulen abhängig gemacht vom Willen und Antrag der Erziehungsberechtigten. Das wurde in den Diskussionen der 1960er Jahre wieder aufgenommen. 1920 wird auch die in Artikel 145 vorgesehene allgemeine obligatorische Grundschule eingeführt. Die Schülerzahlen steigen stetig: auf den höheren Schulen sind es 1921 rund 25.000, 1931 doppelt soviel; im Deutschen Reich 1931 rund 112.000.⁸ Artikel 148 der Verfassung lautet: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben." Zweifellos hat F/M diese Prozesse aufmerksam beobachtet. Im Januar 1921 erklärt er:

    „Auch der gemeinste Mensch fühlt unwillkürlich, daß nicht nur das Kleben am Vorteil, sondern sein noch so kluges Sozialisieren und Kompensieren nicht die höchste sittliche Achtung verdient. Solange man aber dieses dumpfe Gefühl nicht bereits in der Kinderschule mit der logischen Schärfe Kants präzisiert, kann die Moralisierung der Menschheit nicht eintreten."

    Mit überschäumendem Optimismus informiert er am 17. August 1921 den befreundeten Philosophen David Baumgardt:

    „Jetzt schreibe ich einen ,Kant für Kinder’, der natürlich sofort, statt des Katechismus, in allen Schulen eingeführt werden soll. Die Kulturminister sämtlicher Erdstaaten sind in fieberhafter Bewegung, sich das Opus zu sichern. Ganze Übersetzungsfabriken (Trusts, Konzerne) haben sich gebildet. Keyserling übernimmt Sanskrit."

    9. September 1921 an Baumgardt: „Der Kant für Kinder ist erst begonnen und wird noch lange backen müssen." Im selben Monat nennt F/M den Buchtitel zum ersten Mal öffentlich, in einer scharfen Reaktion auf einen Artikel in der Vossischen Zeitung: Arthur Liebert plädiere „gegen die europäische Wissenschaft zugunsten der orientalischen Religiosität; er eifert gegen den europäischen Rationalismus als gegen den Feind der Naivetät, Ruhe, Geschlossenheit".¹⁰ Einen Kantianer, der solche Ansichten vertritt, erinnert F/M daran, daß nach Kant die echte Religion nur innerhalb der praktischen Vernunft möglich ist. Kants

    „Religiosität, Sittenlehre sollte allen Kindern der Erde möglichst frühzeitig beigebracht werden statt orientalisch-biblischer Lehren, die von Liebe triefen und seltsamerweise den Haß der Nationalitäten nicht nur nicht beseitigen, sondern in ,heiligen’ Kriegen und anderen Exzessen sich austoben lassen. Der ,Kant für Kinder’ ist eine schwierigere Aufgabe als die schönste und tiefste orientalische Symbolik, die stets nur Surrogat für Kants praktischen Vernunftglauben und für seine Sittenlehre bleiben wird: – eine Aufgabe, an deren Lösung man schon deshalb nicht verzweifeln darf, weil sie sein soll und also kann. Du sollst dein gesamtes Triebleben vernunftgesetzlich beherrschen lernen, und also kannst du es –: das ist Kants kategorischer Imperativ, der Kern seiner praktischen, d.h. absolut frei tätigen Vernunft."

    Auf dieses Argument pocht F/M stets: Du sollst sittlich handeln, also kannst du es auch – sonst würde Sittlichkeit sich selbst zerstören.¹¹ Über die Kant-Gesellschaft, ihren Begründer Hans Vaihinger und einige zeitgenössische Kantianer hat er seinen Spott gegossen.¹² Kant sei „durch Gelehrtheit unkenntlich gemacht, nicht verstanden worden" (vgl. unten, 59). Nachdem er die Autonomie der Vernunft über alle Opportunität und Religiosität gestellt hat, unterbreitet er sein Angebot:

    „Man orientiert sich heute offenbar leichter im Orient als in Kant; und, wunderlich genug, tun dieses auch die Präsidenten der Kantgesellschaft. Demgegenüber erkläre ich mich gern bereit, einen ,Kant für Kinder’ zu schreiben, falls die Unterrichtsminister ihn statt des Katechismus in sämtlichen Schulen einführen – und mich anständig dafür honorieren."

    Kant für Kinder soll die christliche Unterweisung ersetzen (vgl. unten, 54 f. u. 57). Anfang 1923 schickt F/M einen Entwurf ans Reichsinnenministerium zur Prüfung. Am 14. Mai teilt er seinem Schwager Salomon Samuel mit:

    „Über meinen Kant für Kinder höre ich aus dem Ministerium noch nichts. Ich will ihn als Buch zum zweihundertsten Geburtstag Kants im kommenden April herausgeben. Privatim und halböffentlich hat er schönen Erfolg."

    Ein Beispiel dafür gibt Hannah Höch (1923): „Jetzt gehe ich zu Behnes. Mynona liest aus seinem neuen Buch ,Kant, statt Windeln für den Säugling’." – Am 4. Juni 1923 schreibt F/M an Siegfried Kracauer, Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung:

    „Sehr geehrter Herr Doktor Kracauer!

    Gelegentlich unseres letzten persönlichen Zusammenseins bei Frau H. Fuld bezeigten Sie mir Interesse an meinem geplanten ,Kant für Kinder’. Gestatten Sie mir, Ihrer freundlichen Erlaubnis, Ihnen die selbe Probeskizze, die ich dem Reichsministerium des Innern eingereicht habe, anheimzugeben, jetzt nachzukommen. Sie besteht aus zwei Teilen: dem Referat und dem Entwurf des geplanten Katechismus. Ich bitte Sie sehr, so rasch es Ihre Zeit erlaubt, das Ms. unter zwei Gesichtspunkten zu prüfen:

    1) wäre es mir sehr lieb, wenn Sie es über sich gewännen, das Referat so zu redigieren, daß es sich zum Abdruck in der Frkfrter. Ztg. eignet. Sie werden das nämlich viel besser verstehen als ich, und Sie erkennen wohl unschwer die folgenschwere Bedeutung eines solchen Hinweises in einem solchen Blatte.

    2) hoffe ich, auf Grund eines solchen Aufsatzes leichter einen Verlag zu gewinnen, der es mir ermöglicht, ein bis zwei Monate der feineren Ausarbeitung des Katechismus zu widmen [...]"

    Kracauer notiert auf dem Brief: „Das Manuskript zurückgeschickt mit herzlichen Grüßen 30. Juni" und bringt, wie F/M seiner Schwester Anna Samuel am 4. Juli mitteilt,

    „eine Notiz über meinen Kant für Kinder, der seiner Vollendung entgegenreift [...]. Ohne Marcus wäre mir die Arbeit unmöglich. Sie ist ein Marcus in katechetischer Form, aber ohne das geringste Fremdwort, ohne allen terminologischen Apparat, ganz einfach, zum Gebrauch der Lehrer für Kinder. [...] Durch den Kant-für-Kinder, für den sich die Regierung seit Januar stumm interessiert, erhoffe ich die Wirkung einer (zunächst winzigen) geistigen Lawine. Die Wahrheit, so einfach und unwiderleglich erläutert, hat unwiderstehlichen, hoffentlich zunehmend sich beschleunigenden Erfolg. Seife des Geistes. Das muß sich auch politisch auswirken."

    Bei der Notiz in der Frankfurter Zeitung vom 7. Juli handelt es sich um F/Ms „Referat", derselbe Text erscheint auch im Hamburger Fremdenblatt.¹³ Der knappe Kommentar im Münchner Simplicissimus inspiriert F/M zu einer saftigen Ohrfeige.¹⁴ Er erinnert sich (Autobiographie, Kap. II):

    „Ich antichambrierte vergebens beim Reichsminister. Ein Regierungspräsident schrieb mir: ,Zukunftsmusik’. Als ob es jemals echte Gegenwart ohne Gegenwart des Geistes geben könnte! Diese aber wird in die Zukunft hinausgeschoben ... Der litauische Staat machte einmal Miene, dem ethischen Schulunterricht meinen ,Kant für Kinder’ zugrunde zu legen, es ist aber nichts daraus geworden."

    „Auf Ihren Katechismus bin ich gespannt, schreibt Marcus. „Das Ministerium hat jetzt sicher keine Zeit, sich damit zu befassen. Er sei „sehr neugierig".¹⁵ Inzwischen findet F/M einen Verleger. An Alfred Kubin, 17. Dezember 1923:

    „Ostern 1924 erscheint bei Steegemann (Hannover) mein ,Kant für Kinder’, ein Katechismus zum ethischen Unterricht; eine Art Kant-Marcus-Brevier: ohne Fremdwort, ohne Terminologie; ganz elementar populär."

    Das Buch kommt pünktlich Ende April 1924 heraus.¹⁶ Paul Steegemann hatte in seiner expressionistischen Avantgarde-Reihe „Die Silbergäule 1920 F/Ms „Nachtstück Unterm Leichentuch herausgebracht (GS 4), 1929 F/Ms Anti-Remarque, 1931 die Streitschrift

    gegen Tucholsky (GS 11) sowie einen Nachdruck der Grauen Magie, im Jahr darauf die zweite Auflage des Anti-Freud.

    „Die Form ist von mir, der Inhalt von Marcus & Kant. Beachten Sie besonders den dritten Abschnitt: ,Was können wir wissen?’, der die Quintessenz der Kritik der reinen Vernunft ohne ein einziges Fremdwort auf drei Druckbogen enthält. Vorausgesetzt ist überhaupt nur die gute Kenntnis der deutschen Sprache. Marcus hat das Ding im Ganzen approbiert, wenn er es auch im Einzelnen noch korrigibel findet."¹⁷

    Für die Termini ,Kausalität’, ,Ding an sich’ und ,Kategorien’ stehen „Ursächlichkeit, „Verursachungsgesetz (94 u. ö.); „Rätsel, „Geheimnis, „Urgrund; „Formen des Denkens und „Gedankenformen (116 f. u. 120). Einmal ist die Rede von der, „wie Kant sie nennt, reinen Vernunft, ein andermal von den „Formen unserer Anschauung" (103 u. 107). F/M geht es nicht um bloß historische Kenntnis Kants, sondern um die Sachen selbst. Sein Text ist durchsetzt von ungekennzeichneten Zitaten, Paraphrasen, Varianten aus Marcus, in der Hauptsache aus Der kategorische Imperativ (1907, ²1920, Kap. 27-29, „Die sexuelle Ethik"; Anhang zu Abschnitt I) sowie Kants Weltgebäude (1917, ¹⁸1920). Abschnitt II folgt dem Schlußkapitel („Der Glaube"), Abschnitt III dem Rest dieses Buches.

    Das Vorwort enthält auf neun Seiten das Programm. Die folgenden Abschnitte stehen unter den berühmten drei Fragen, in die Kant „alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) gesetzt hat: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Die erste Frage nennt Kant spekulativ, die zweite „bloß praktisch, die dritte „praktisch und theoretisch zugleich.² Zu Beginn des Logik-Handbuches fügt er die vierte Frage an: „Was ist der Mensch?" und erklärt: „Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie." Doch im Grunde gehörten alle Fragen zur Anthropologie.¹⁹ F/M läßt die vierte Frage beiseite, macht aus der ersten Person Singular jeweils die erste Person Plural und ändert die Reihenfolge: zuerst Ethik, dann Religion, zuletzt Logik. Damit folgt er Kants Empfehlungen:

    „ein moralischer Katechism [...] muß vor dem Religionskatechism hergehen und kann nicht bloß als Einschiebsel in die Religionslehre mit verwebt, sondern muß abgesondert, als ein für sich bestehendes Ganze, vorgetragen werden: denn nur durch rein moralische Grundsätze kann der Überschritt von der Tugendlehre zur Religion getan werden".²⁰

    Das Zwie- oder Lehrgespräch ist kein sokratischer Dialog, der polarisierend vorgeht, indem die Fragen so gestellt werden, daß jeweils nur zwei Antworten möglich sind, von denen die eine ausgeschieden, die andere weiter verfolgt wird.²¹ Die bei dieser Technik vorausgesetzte Hierarchie von Lehrer und Schüler läßt F/M in der Schwebe. „Wer fragt? Wer antwortet?" (92) Fragt der Schüler, der ausführliche Antworten hören will? Oder fragt der Lehrer, der einem Fortgeschrittenen nur kleine Anstöße geben muß, damit er das Thema entwickelt? Oder handelt es sich um den Monolog eines Philosophen, der seine literarische Konstruktion zweier Gesprächspartner durchschimmern läßt?

    Im ersten Abschnitt werden die Grundbegriffe geklärt: Sittlichkeit contra Nützlichkeit; Gesetz (losgelöst von der Natur bzw. vonder Gelegenheit);²² Sittengesetz und Gesetz der Wahrhaftigkeit (Verbot der Lüge);²³ Recht und Rechtsstaat; Eigentum und Strafe; allgemeiner Frieden. Vernunft ist Freiheit und „als tätig bestimmend"; sie soll sich von der Natur lösen, welche als Notwendigkeit und „als erleidend bestimmt" wird. Der Mensch ist aus beidem gemischt, als Naturwesen bloß „Schmarotzer der Erde, als Vernunftwesen aber Triumphator „über alle bestirnten Himmel der Natur. Darin steckt eine beachtliche Korrektur an Kant: Er lasse sich noch vom bestirnten Himmel zermalmen.²⁴ Der von Marcus übernommene Ausdruck ,Schmarotzer’ deutet auf das, was aktuell als ökologische Krise gilt. Indem F/ M das Sittengesetz ausdrücklich auch auf „Tiere, Pflanzen und Sachen" bezieht (67), liefert er Ansätze zu dem, was heute Tierethik heißt.

    Diese Vernunft spricht F/M ohne weiteres „allen Menschen zu („alle Völker, die „junge Menschheit", 72 u. 54). Ist das nicht eine globalisierende Unterstellung, eine postkolonialistische Zumutung? Doch achte man auf die kalkulierten Beispiele: „Neger, Juden, Indianer [...] alle Neger sind Menschen (116), und auf die Präzisierung: Die Menschen sind von Natur verschieden, vernunftgesetzlich aber gleich (70). Die eine Vernunft übertrifft „alle weltumspannenden religiösen Bekenntnisse an wahrer Allgemeinheit; sie „selber ist die göttlichste Offenbarung, die wir kennen" (52 u. 58). Deshalb soll und also kann Kant die Bibel ersetzen, und Kant für Kinder die Katechismen! Vernunftreligion statt Christentum – damit wird jede Art von Aufopferung, speziell die Idee, daß sich einer für alle Menschen geopfert habe, bedeutungslos.

    In der kommunistischen Idee erblickt F/M eine andere Form des Opfers, des Irrtums. Der Privatbesitz wird zugunsten des Allgemeinwohls aufgehoben, die Einzelperson zugunsten der in Allgemeinheit umgelogenen Mehrheit entrechtet, mithin geopfert; „so stellt man die Sittlichkeit in den Dienst der Fütterung und trübt das sittliche Urteil durch Rücksichten auf den Nutzen. (57) Mehrheit, Allgemeinheit, Staat sind Abstraktionen, die grundsätzlich niemals höher stehen als der Einzelne, der Mensch, das Individuum: „Sittliche Urteile über Mehrheiten sind Lügen – „Der Einzelne gilt sittlich so viel wie die Gesamtheit aller und ist dieser nie aufzuopfern." (65) Das ist ein anderes Erbstück Schopenhauers, besonders seines erbitterten Kampfes gegen Hegel. Entsprechend erblickt F/M allgemeine Sittlichkeit als die Folge der einzelpersönlichen. Hier wie sonst spielt er Kant gegen Marx aus. George Grosz und seinen Mit-Agitatoren ruft er zu:

    „Zwingt eure Vernunft zur politischen Energie, und eure fanatische Raserei zur metaphysischen Vernunft! Und dieses letztere könnten Reiche wie Arme von der praktischen Vernunft Immanuel Kants schon in einem ethischen Unterricht auf der Schule lernen."²⁵

    Der Anhang, „Grundsätze der geschlechtlichen Sittlichkeit, erschien bereits manchen Zeitgenossen antiquiert, heute ist er das kontroverseste Stück. Fällt F/ M in Spießermoral zurück? Predigt er päpstlicher als der Papst? „Geschlechtsbefriedigung ausschließlich zum Zweck der Zeugung, strikte Monogamie usw. – und das auch noch „bewiesen"? Bevor Diskussionen heraufbeschworen werden, bei denen die einen das Buch vom Tisch fegen, die anderen es für ihre Zwecke vereinnahmen, sei hier nur zweierlei festgehalten.

    a) F/M folgt Marcus, der seinerseits Kant folgt.²⁶ Die „sogenannte Revolution der Jugend" hat Marcus keine Ruhe gelassen, sie ist noch Gegenstand eines posthumen Werkes (Marcus 1932). Man muß diese Sorge vor dem zeitgenössischen Geflecht vieler Kräfte sehen. Stichworte: Frauen-, Arbeiter-, Friedens-Bewegung, Lebens-, Sozial-, Sexual-Reform. Weiter die von Berliner Ärzten wie Iwan Bloch oder Max Marcuse begründete moderne Sexualwissenschaft; Magnus Hirschfeld; der Bund für Mutterschutz (seit 1905); Freuds Psychoanalyse; Sozialdarwinismus, Eugenik, Rassenhygiene ... Was im ökonomischen, sozialen, ideologischen Klima von Kaiserreich, Weltkrieg, Weimarer Republik entstand, war die Konsequenz der zu rasch nachgeholten Industrialisierung in Deutschland; viele der damals entwickelten Modelle wurden in den als liberalistisch verklärten ,Sechziger Jahren’ wieder aufgenommen.

    b) Über den Rigorismus war F/M sich im Klaren. Unsittlich ist nicht die sexuelle Wollust selbst, nur ihre Gesetzlosigkeit, als „zügellose Ausschweifung oder als „überängstliche Enthaltsamkeit (80). Die objektive gegenseitige Rücksicht, „beim Sexualakte, auf den „Bestand zweier Leiber habe Marcus „etwas pedantisch und quälerisch" betont (an Kubin, 22. Juni 1917). Es geht nicht um einen gleichgültigen Indifferentismus, sondern um einen mittleren Weg der Orientierung, darum, Vernunft ins Leben zu bringen.

    Der zweite Abschnitt entwickelt die Hauptzüge einer Vernunftreligion.²⁷ Wir dürfen – müssen aber nicht – glauben und hoffen, daß es „eine höchste, Gott zu nennende Vernunft" (83) gebe. Ein solcher Vernunftglaube gründet sich nicht auf eine Offenbarung, sondern auf das Sittengesetz.

    Im dritten, ausführlichsten Abschnitt gibt F/ M das Gerüst der Kritik der reinen Vernunft bzw. der Prolegomena von 1783, am Leitfaden von Marcus’ Buch Kants Weltgebäude (1917). Dazu nur eine Bemerkung. Die sokratische Forderung ,Erkenne dich selbst!’ wird umgewandelt: „Wunderbarerweise ist das Ich-Bewußtsein sein eigener Gegenstand. (104) Doch diese absolut zentrale Struktur zerfällt nicht in ein Subjekt und ein Objekt, sondern bildet eine „Kette mit drei Gliedern: Ich, Gegenstand, und die Verbindung zwischen beiden. Es handelt sich um einen Ternar, eine alte Denkfigur, die im ,Satz des Bewußtseins’ des Kant-Schülers Karl Leonhard Reinhold ebenso zu finden ist wie in der Renaissance, etwa bei Nikolaus von Kues, und früher noch im Neuplatonismus.²⁸ Marcus nennt diese Struktur Copula gnostica, gnostische Kette, und verdeutlicht sie anhand eines Kreises:

    „Im Zentrum steht das Ich oder Subjekt, das stets dasselbe bleibt. In der Peripherie treten Zeit und Raum als Gegenstände auf. Peripherie und Zentrum sind verbunden durch die apriorische Copula gnostica. Diese als Radius verbindet jeden Gegenstand mit dem Zentrum und hält ihn zugleich vom Zentrum getrennt." (Marcus 1917, AS I, 76)

    F/M führt das Bild vom Zweidimensionalen ins Sphärische: Mein ursprüngliches Erkenntnisvermögen ist wie eine „Kugel, in deren Mittelpunkt mein Ich steht".²⁹ Dieses ist „die geistige Sonne der Natur", „Mitbewirker der gesamten Natur, deren „Gesetzgeber und „Mittelpunkt" (110, 121, 289). Das Gesetz wird nicht geoffenbart, sondern von der Vernunft frei hervorgebracht als Selbstentwurf des Menschen, schöpferische Hypothesis. Insofern ist Kant für Kinder freilich nicht der einzige Versuch, Kant zu popularisieren, aber zweifellos einer der klarsten und entschiedensten.³⁰ Zweifel werden nicht von irgendwo-her an die Vernunft herangetragen, sondern setzen sie schon voraus; weil sie „der Rüstkammer der Vernunft entnommen" sind, können sie diese niemals zerstören: „Nicht an der Vernunft, sondern gerade auf Grund deiner Vernunft kannst du zweifeln." (54 u. 71) Der kategorische Imperativ wird in den Mittelpunkt gestellt, und zwar gerade nicht als bloße Form, sondern als Kern und Kompaß der praktischen Vernunft. F/M weiß nur zu gut um die Gefahren des Sinnverlustes bei aller Übertragung. Deshalb will er den Kindern statt fertiger Systeme nur das Monogramm einprägen, die abstrakte Formel aller Orientierung, als Keim, der sich im Leben erst entwickeln soll. –

    F/M weist unermüdlich auf sein Buch hin. Die Widmung der Tarzaniade (Oktober 1924), einer Parodie auf die mit riesigem Werbeaufwand vermarkteten Bücher von Edgar Rice Burroughs, lautet: „Dem Verfasser des / Kant für Kinder / des besten Buches der Erde / widmet voller Ehrfurcht / dieses / Bestienbuch / sein alter Ego / Mynona" (GS 13, 450). In der zweiten Auflage der Schöpferischen Indifferenz ersetzt F/M das Nietzsche-Motto durch ein Zitat aus dem Kinderkant (1926; GS 10, 92).

    Graf Hermann Keyserlings Reisetagebuch eines Philosophen (1918) bringt es in fünf Jahren auf sieben Auflagen; die Ende 1920 eröffnete Darmstädter ,Schule der Weisheit’ sieht illustre Gäste: Max Scheler, Paul Natorp, Ernst Troeltsch, Leo Baeck, Otto Flake, Hans Driesch, Paul Feldkeller, Friedrich Gogarten, Rabindranath Tagore ...³¹ F/M diagnostiziert:

    „Wer im Frontispiz seiner Schule der Weisheit gleichsam den Spruch führt: ,Lasset die Inderlein zu uns kommen!’ (statt des wahrlich pädagogischeren: ,Lasset die Kinderlein zu sich kommen!’), verrät, daß er viel lieber philosophisch weise sein als gültig beweisen möchte." ³²

    Der pädagogischere Spruch, Variante zu Nietzsches Variante eines Satzes aus der Bergpredigt,³³ dient F/M zehn Jahre später als Motto für seine Autobiographie. Dem Grafen rät er, mit einer Zeile aus Gottfried August Bürgers Der wilde Jäger:

    „Wie wohl hätte er daran getan, seine Schule der Weisheit weder auf westlichen noch auf östlichen, sondern auf den wahrhaft fruchtbaren Boden zu stellen, den kein Anderer als der einzige Kant vorbereitet hat. Aber ,der Graf verschmäht des Rechten Warnen’ und macht einen schlimmen Gegensatz aus ,Intuition’ und Beweis, aus Indien und Kant. Noch fehlt es an einem ,Kant für Inder’ (ich selbst habe nur einen für Kinder geschrieben)." (ebd.)

    In der autobiographischen Groteske Mein hundertster Geburtstag, Januar 1928, steht ein Vorschlag,

    „wie Mynonas Zentenarium am würdigsten gefeiert werden sollte [...]: Leset meinen ,Kant für Kinder’. Hier habt ihr den Kant in der Nuß [...]. Das ist das allerwichtigste Buch der Erde. Solange dieses Buch nicht von jedem Schullehrer benutzt wird, bleiben Lehrer und Schüler taube Nüsse." (GS 18)

    Steegemann teilt am 23. Juni 1929 mit, daß im Vorjahr „41 Exemplare à M 3.- Ladenpreis verkauft wurden. Vier Monate später, in seiner „Denkmalsenthüllung, dem Anti-Remarque, erklärt F/ M gezielt großspurig:

    „Ins Tornister des Soldaten gehört aber (also sang Lisel Nietzsche) nicht Kants Ethik, sondern der Zarathustra. Hätte man nämlich Kants Ethik schon vor anderthalb Jahrhunderten verstanden und in die Schulen eingeführt, so hätt’s nebbich gar-keinen Weltkrieg gegeben. Wie denn auch der nächste nur noch durch meinen ,Kant für Kinder’ verhütet werden kann" ... „Warum habe ich meinen ,Kant für Kinder’ oder gar meinen Anti-Remarque so unzeitgemäß verfaßt? Bin ich mit meinen Wahrheiten zu früh oder zu spät gekommen?"³⁴

    Zu F/Ms 60. Geburtstag am 4. Mai 1931 gratuliert auch sein siebzehnjähriger Neffe Werner Borchardt: „Frage den jungen Menschen, der sich in dieses Werk vertiefte, nach dessen Wirkung, er wird dir antworten: ,Lies es, und dann sprich mit mir! Am 2. Juni meldet F/ M seiner Frau Marie Luise: „Gelegentlich meines Geburtstags sind zwanzig Kantfürkinders verkauft worden. Es ist das meistgenannte Buch in der Exilkorrespondenz. F/M bemüht sich unermüdlich um Übersetzungen und Neudrucke. Nur einige Beispiele. Freund Gustav Steinschneider berichtet 1933 aus Palästina:

    „Ihr ,Kant für Kinder’, das Licht meiner eignen geistigen Gehversuche, ist hier und zwar gestiftet für eine in statu nascendi befindliche pädagogische Bücherei in Haifa (dem Andenken eines kürzlich bei der Rettung eines ertrinkenden Kindes selbst ertrunkenen jungen Mädchen gewidmet). [...] Ich hoffe sehr, zu bewirken, daß der Kant für Kinder ins Hebr. übersetzt werde. Alsdann muß eine Diskussion entfesselt werden, es in den Lehrplan einzufügen; ich halte dies für eins der dringendsten Erfordernisse der Zeit (nicht die Diskussion, sondern ihr Ergebnis)."

    Dem in den USA lehrenden Kulturschriftsteller Hendrik Willem van Loon schickt F/M am 17. Juni 1933 ein Exemplar und bittet um Übersetzung. Hugh I. Schonfield, Managing Director des Londoner Verlages The Search, scheint vorübergehend an einer englischen Übersetzung interessiert.³⁵ Sie wurde angefertigt, aber erst in den 1960er Jahren, von Hans Peter Zade, später Ingenieur und Übersetzer in Sussex. Sein Vater, der Arzt Dr. Hugo Zade, war ein entfernter Verwandter F/Ms, der mit ihm in Verbindung blieb. Zade junior versuchte, seine Übersetzung zu publizieren, doch über ein Dutzend Verlage lehnten ab.³⁶

    Das durch den Buchtitel nahegelegte Mißverständnis hat F/M selbst mehrfach auszuräumen versucht: Wer sind die Adressaten des Buches? „Bei den jüngeren Kindern soll der Lehrer die Vermittelung, besonders durch sinnreiche Beispiele, übernehmen. Die reifere Jugend soll und kann dieses Buch unmittelbar verstehen."³⁷ Manche Hinweise nähern sich einer Selbstkorrektur:

    „wenn man das Skelett des Kantischen Systems [...] in einem solchen kleinen Modell herauspräpariert, wo dann alles Sinnlich-Alltägliche weg-abstrahiert ist, so provoziert man leider damit einen pedantisch skrupulösen Purismus, ein Aqua-destillata-Moralin [...] Schon oft ist meine Freude darüber, daß Jemand das Büchlein zu Rate zog, dadurch beeinträchtigt worden, daß man puristische Konsequenzen daraus zog. Das Buch ist natürlich für Lehrer bestimmt, welche den ,Kindern’ diese aus ,Bändern, Sehnen und Gebein’ zusammengeflickte Gliederpuppe beleben sollen. [...] Vor allem darf man den Kompaß, den Kant als untrüglich an die Hand gibt, und der das Leben präzis orientiert, keineswegs mit dem Weg selber verwechseln, sonst könnte man keinen Schritt gehen, ohne immerfort Abweichungen konstatieren zu müssen. Man könnte überhaupt nicht anwenden – ja, und darauf kommt es doch an [...]."³⁸

    Rebecca Hanf, Marcus’ mitphilosophierende Freundin und Helferin, später wichtige Briefpartnerin F/Ms, berichtet am 9. März 1940 von einem Fund:

    „In einer grossen Westdeutschen Zeitung steht, daß vor Jahren ein ,Kant für Kinder’ erschienen sei! Natürlich ohne Namensnennung des Verfassers! Der Erfolg des Buches sei nicht so, wie man erwartet habe! Der Artikel trug sogar die Überschrift: K. f. Kinder! Er handelte über Popularisierung und die Quintessenz war, daß solches schwer sei und daß die gegenwärtige ,hohe geistige Aufklärung ... nur dadurch möglich geworden, dass einerseits dem blossen Liebhaber eines Faches das Fach selbst zu schwierig geworden ist’, und daß andrerseits der Gelehrte die Gesetze des Schreibens und der Literatur zu beherrschen gelernt habe. – Sehen Sie wohl, das kommt davon, daß Sie kein Professor sind."³⁹

    Der Verfasser ist Max Bense (Rezension 14). Im September 1944 schlägt F/M Hugo Bergmann, dem Direktor der Nationalbibliothek Jerusalem vor, den Kinderkant ins Hebräische zu übersetzen. Im Diarium 1944/45 notiert er:

    „Das Buch soll anonymisiert, das Vorwort weggelassen, die Reihenfolge so sein: I Was kann ich wissen? II Was soll ich tun? III Was darf ich hoffen? Für die Präpubeszenz ist das sexualethische Kapitel wegzulassen."

    Nach Kriegsende unternimmt er neue Anläufe.

    „Inzwischen schrieb ich an Adams. Es wird nämlich ein Schulbuch gesucht, um die deutschen Kinder zu entgiften. Ich schlug Kantfuerkinder vor. Ich wandte mich mit diesem Vorschlag auch an einen amerikanischen Offizier, den wir durch Baumgardt kennen. Denk’ mal, wenn das Erfolg hätte!"⁴⁰

    Der Offizier, Kurt R. Stransky, Sergeant (Feldwebel) der US Army in Paris, versucht, das Buch bei einem Projekt in der Nähe von Cherbourg einzusetzen, wo 500 nazi-feindliche deutsche Kriegs-gefangene zu Beamten ausgebildet werden sollen.⁴¹ Zur selben Zeit verhandelt Kurt Hiller, Schlüsselfigur des Berliner Expressionismus, politischer Publizist und seit 1911 streitbarer Freund F/ Ms, in London mit einem Verleger, der auch „die Autorität interessieren will.⁴² Der Verlag Bermann-Fischer, Stockholm, teilt am 28. Januar 1946 mit, daß das von F/M angebotene Fragelehrbuch „sich kaum in den Rahmen unseres gegenwärtigen Verlagsprogramms einreihen lassen wird. Noch im letzten Text, den er veröffentlichen kann, bleibt F/ M unvermindert eindringlich:

    „Es wäre komisch anzunehmen, daß der moralisch Handelnde immer erst theoretisch reflektieren müsse. Moral wohnt uns organisch inne. Aber ihre abstrakte Formel sollte schon den Schulkindern eingeprägt werden, um Irrtümer in der Anwendung zu verhüten. Den Unterschied zwischen Gut und Böse sollte man wissenschaftlich erkennen."

    Der französische Autor einer kleinen Schrift habe keine Ahnung von Kant: Sartre, L’existentialisme est un humanisme – später in Deutschland gymnasiale Pflichtlektüre. Wenige Monate vor seinem Tod konnte F/M auf den publikumswirksam inszenierten Existenzialismus noch hellsichtig reagieren.

    „Die moralische Praxis gewinnt unendlich von dem revolutionären Momente an, wo man das Gute vom Bösen mit streng wissenschaftlicher Genauigkeit unterscheidet, und schon die Schulkinder müßten das präzisieren lernen, wenn das Leben endlich einmal aus einer blutigen

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