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Nwiab 3: Nur weil ich anders bin - Ich bin ich
Nwiab 3: Nur weil ich anders bin - Ich bin ich
Nwiab 3: Nur weil ich anders bin - Ich bin ich
eBook572 Seiten8 Stunden

Nwiab 3: Nur weil ich anders bin - Ich bin ich

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Über dieses E-Book

Kai ist immer noch auf der Suche.
Noch immer tut er sich schwer, dauerhafte Freundschaften zu schließen. Das Babyimage haftet einfach zu sehr an ihm.
Trotz aller Bemühungen der Betreuer im Heim, bleibt Kai ein Außenseiter. Bei seinen fast blinden Versuchen, endlich die Anerkennung zu finden, die er braucht, die Freundschaften zu knüpfen, die er so dringend benötigt, gerät Kai in einen hinterhältigen Komplott hinein, der ihn fast an den Rand der Verzweiflung bringt.
Getrieben von dem unbedingten Willen, dazu zu gehören, geht er jede Bedingung ein, die ihm zu seinem vermeintlichen Ziel führen soll. Aber es sind die falschen Freunde, die er sich da sucht.

Doch zuerst muss Kai eine weitere, harte Prüfung überstehen. Den Prozess gegen seinen Vater, der ihm alle Kraft kosten wird, die er aufzubringen vermag.

Nwiab 3 ist die letzte Episode der Trilogie "Nwiab - Nur weil ich anders bin".
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. Apr. 2015
ISBN9783738679250
Nwiab 3: Nur weil ich anders bin - Ich bin ich

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    Buchvorschau

    Nwiab 3 - Andreas Prün

    Epilog

    1. Kais Geheimnis

    (Baby? Wieso Baby?)

    Als das Telefon an diesem Samstagmittag im Büro von Frau Berger klingelte, war sie gerade im Aufbruch. Sie kramte bereits in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel, drückte Taschentücher und Kosmetikartikel zur Seite und fand ihn schließlich unter ihrem Handy. Und jedes Mal, wenn sie das tragbare Telefon sah, überlegte sie, warum sie überhaupt eins hatte. So gut wie niemand rief sie über diese Nummer an. Fast sämtliche Telefonate wurden über den Apparat in ihrem Büro abgewickelt. Auch privates. Das Gerät zu Hause benutzte sie genauso oft, wie sie eigentlich daheim war. So gut wie nie. Sie kaufte sich das Handy weil sie glaubte, immer und überall erreichbar sein zu müssen, oder zu wollen. Sodass sie nichts und niemanden mehr verpassen könnte. Bescheid wusste einfach. Aber das wurde nichts. Manchmal kam es ihr so vor, als ob ihr Handy ein Schweigegelübde abgelegt hatte.

    Sie zog ihre Hand aus der unendlichen Tiefe ihrer Handtasche und hob den Hörer ab.

    „Kinder- und Jugendheim Nürnberg, Berger!"

    „Ja... schönen guten Tag, kam eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher. „Pruy ist mein Name. Sie erinnern sich vielleicht? Die Heimleiterin überlegte kurz. Ihre Stirn schlug leichte Falten.

    „Ja. Ähm ... Sie waren doch gestern da. Weil ihr Sohn meinte, dass... „Richtig. Das war alles ein Missverständnis. Tut mir wirklich leid. Mein Sohn ist manchmal etwas voreilig. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. „Nun ja. Sind halt doch noch Kinder, nicht wahr?"

    „Ja. Da haben sie recht."

    „Was kann ich für sie tun?" Wieder griff ihre Hand nach dem Kugelschreiber, drehte ihn bis er sich überschlug und mit der Spitze fast immer auf der gleichen Stelle ihres Kalenders landete. Würde sie diese Spielerei nicht schon perfekt beherrschen, wäre wohl an manchen Tagen außer vielen kleinen Punkten in dem Terminplaner nichts mehr zu erkennen.

    „Nun ... ich hätte eine Frage an sie. Es geht darum, dass wir, also mein Mann, Michael und ich, morgen einen Ausflug in einen Freizeitpark machen wollen. Und dazu möchten wir Kai gerne einladen."

    „Kein Problem, sagte Frau Berger sichtlich erfreut, „das können sie gerne machen. Das wird ihm sicherlich gut tun.

    „Das denken wir auch. Deswegen wollen wir ihn ja auch gerne mitnehmen. Einfach mal raus aus dem Heim." Frau Pruy stutzte kurz. Wieder mal war ihr Mundwerk schneller als ihr Gehirn.

    „Ich meine ... äh ... das sollte jetzt nicht heißen, dass ..."

    „Schon gut, schon gut. Ich weiß, was sie meinen.

    Abwechslung tut den Kindern gut. Gerade Kai braucht das jetzt wirklich, weil er sich heute leider von seinem Freund trennen musste."

    „Oh... wirklich? Das tut mir leid. Warum das denn?"

    „Ganz einfach. Wir fanden eine Pflegefamilie für Fabian. So heißt sein Freund. Er hat das Heim heute Morgen verlassen."

    „Verstehe. Dann ist es ja umso besser."

    „Ganz sicher. Sie tun ihm damit auf jeden Fall was Gutes. Sie müssten ihn allerdings abholen!"

    „Das ist kein Problem. Wir fahren sowieso mit dem Auto."

    „Wohin soll es denn gehen?"

    „Wir wollen nach Rust. In den Europapark."

    „Oh. Das ist ja schon eine ziemlich weite Strecke."

    „Ja, da haben sie Recht. Und da liegt auch das Problem.

    Wir hätten den Vorschlag gemacht, dass Kai bei uns übernachten kann. Wenn er will, natürlich nur. Wir wären ja doch ziemlich lang unterwegs, und da wäre es wohl das Beste, wenn er ..."

    „Sie wissen aber schon, dass am Montag wieder Schule ist", unterbrach Frau Berger ihre Gesprächspartnerin höflich, aber bestimmt.

    „ Ja sicher. Wissen sie, Michael muss ja auch in die Schule. Die beiden gehen sogar in dieselbe Klasse. Ich kümmere mich darum, dass sie pünktlich und mit Frühstück im Bauch in der Schule sind. Darauf können sie sich verlassen. Und nach einem ordentlichen Mittagessen bringe ich ihn dann wieder zurück."

    Frau Berger überlegte kurz. Übernachtungen bei Privatpersonen hatte sie bei ihren Schützlingen eigentlich nicht so gerne. Sie verlor dann das Gefühl der Kontrolle. Und darauf verzichtete sie doch eher selten. Aber bei Kai ... Sie sah ihn vor ihrem geistigen Auge, und ein kurzer Blick in sein Gesicht genügte.

    „Okay! Ich bin einverstanden. Ich werde es Kai sofort sagen. Er wird sich sicher freuen."

    „Nein! Bitte. Sagen sie ihm nichts. Michael ist schon unterwegs zu ihm. Er will es ihm unbedingt selber erzählen." Frau Berger lachte auf.

    „Der wusste wohl schon, dass ich einverstanden bin, stimmt’s? Sonst wäre er wohl noch nicht losgefahren!"

    „Ja, da haben sie Recht. Er konnte es gar nicht erwarten."

    „Also gut. Dann will ich ihm den Spaß nicht verderben."

    „Ich hoffe, Kai ist da, oder?"

    „Ja, ist er, und ziemlich deprimiert. Da kommt ihr Sohn mit so einer Nachricht gerade recht."

    „Na, dann ist ja alles klar. Ich danke ihnen sehr, Frau Berger."

    „Nein, ich danke ihnen."

    Und lächelnd legte sie auf. Ja, das wird Kai gut tun. Sie freute sich nun richtig für ihn.

    *

    Michael fegte mit dem Rad um die Ecke und nahm den Schwung mit, bis er fast vor der großen Eingangstreppe des Heimes zum Stehen kam. Das Fahrrad an die Wand gelehnt, ging er hinauf und klopfte an die Scheibe des kleinen Hausmeisterbüros. Sofort sah der Mann auf.

    „Hallo! Ich möchte bitte zu Kai. Ist er da?" Der Hausmeister sah auf seine Liste und nickte.

    „Ja. Ist er. Warte. Ich hol ihn."

    „Nein, nein. Ich such schon selber. Danke!"

    „Irgendwoher kenne ich dich, sagte er und kratzte sich am Kopf. „Du warst doch schon mal hier, oder?

    „Ja. Kai und ich gehen in dieselbe Klasse. Ich habe ihn schon mal besucht."

    „Na, dann kennst du dich hier ja aus. Viel Spaß beim Suchen", grinste er und Michael drückte die große Doppeltür auf. Er wird wohl im seinem Zimmer sein, dachte er. War das jetzt erster oder zweiter Stock?... verdammt ... ich glaub zweiter...

    Er konnte sich nur noch an die Zimmernummer erinnern. Das heißt, er wusste nur noch die letzten beiden Ziffern. Eine drei und eine vier. Was davor stand, wollte im partout nicht einfallen. Vielleicht hätte ich doch den Hausmeister suchen lassen sollen. „Ach was! sagte er zu sich selber. „Den finde ich schon.

    Er lief in den zweiten Stock hoch und kontrollierte Zimmer um Zimmer. Aus manchen kamen Stimmen. Andere wiederum waren totenstill. Als er endlich 234 gefunden hatte, klopfte er kurz und trat dann ein. Und ohne groß in den Raum zu gucken, redete er sofort los.

    „Hey Kai! Stell dir vor, ich hab eine Überra..." Und dann verstummte er.

    Es war nicht Kai, den er dort antraf. Es war Jan. Eng umschlungen mit seiner Freundin Jasmin im Bett.

    „Was willst du hier?" schrie Jan sofort, als er sich erschrocken zu Michael umdrehte.

    Verpiss dich!

    „Sorry Leute ... ich ... hab mich wohl in der Zimmernummer geirrt. stammelte Michael und hob beide Hände. „Ich ... wollte eigentlich zu Kai. „Was willst du denn von dem Baby?" fragte Jan und stand auf. Michael erwartete, dass er den Jungen nun nackt vor sich sehen würde, aber er hatte noch eine blaue Boxershort an. Sie waren wohl gerade erst am Anfang ihrer Fummelei.

    „Baby? Wieso Baby?" war die logische Frage von ihm.

    „Ist einer, der ins Bett pisst, etwa kein Baby?"

    „Und am Daumen lutscht!" rief das Mädchen von hinten aus dem Bett. Michael bekam große Augen.

    „Was ... wie ...?" Er verstand überhaupt nichts mehr.

    „Der Loser ist ein Stockwerk darunter, du Idiot! Und jetzt zieh ab!"

    „Ja, ja. Ist ja schon gut. Ich wollte euch nicht stören, bei ... na ihr wisst schon."

    „Hey! Wenn du ein Wort darüber der Berger sagst, bist du tot, klar?" Michael musste kurz schmunzeln. Es war keine Absicht, die beiden bei ihrem Schäferstündchen zu stören. Offensichtlich war er doch im Mädchenstockwerk gelandet. Dass Jungs und Mädchen getrennt wohnten, wusste er noch. Er war nur der Meinung, dass die Mädels unten untergebracht waren.

    Und dass die Jungs wohl nicht so gerne hier gesehen werden, konnte er verstehen. Das war doch damals im Schullandheim schon so gewesen.

    „Von mir erfährt niemand was, sagte Michael und öffnete die Tür. „Viel Spaß noch! Dann trat er auf den Flur hinaus, verschloss das Zimmer wieder und lehnte sich erstmal an die Wand.

    Was hat der Typ da gesagt? Baby? Kai sei ein Baby? Und was von „ins Bett pissen und „am Daumen lutschen! Das kann doch gar nicht sein. Kai ist ein Daumenlutscher? Genauso wie er? Das wäre ja ... nein, das kann nicht sein. Das wäre ja zu schön. Bestimmt wollten sie ihn nur verarschen. Aber... warum kommen sie dann auf so was? Normalerweise benutzt man doch andere Sachen, um Leuten was anzuhängen, oder? Vielleicht einen Diebstahl. Oder Drogen oder ähnliches.

    Michael schüttelte den Kopf. Da gibt's nur eins: du musst es herausfinden!

    *

    Ich saß mit meinem Teddy im Arm in meinem Zimmer auf dem Stuhl und sah traurig durchs geöffnete Fenster.

    Die Nachmittagssonne tauchte den vorderen Hof des Heimes in ein, schon fast, gleißendes Licht. Dieser Sommer war wirklich sehr heiß und das machte das Tragen meines blöden Gipsverbandes nur noch mehr zur Qual. Eine Woche noch, dachte ich, dann ist das Scheißding endlich weg. Hoffte ich zumindest.

    Ich fühlte eine Leere in mir. Fabian war gerade mal ein paar Stunden weg, schon vermisste ich ihn sehr. Es wunderte mich fast ein wenig. Kannte ich ihn doch erst seit knapp einer Woche. Ich hätte nicht gedacht, dass es möglich gewesen wäre, innerhalb einer so kurzen Zeit eine so enge Freundschaft aufzubauen. Ja ... Freundschaft. Ein schönes Wort, dachte ich. Fabian und ich waren Freunde. Richtige Freunde. Wann hattest du zum letzten Mal so etwas? Ich konnte mich nicht erinnern.

    Ich drückte den Teddy fester an mich und steckte den Daumen in den Mund. Der hat mich schon immer getröstet, wenn ich traurig war. Und er würde mich nie im Stich lassen. Er ist immer für mich da.

    „Nicht so wie Fabi, nuschelte ich. „Der ist einfach abgehau...

    Halt! Nein! Kai, hör auf. Fabian kann nichts dafür. Freue dich für ihn.

    „Tu ich ja auch", sagte ich leise. Und es stimmte. Aber trotzdem ist es doof, dass er weg ist.

    *

    Michael lief die Treppe hinunter und bog sogleich in den langen Gang ein, der zu den Unterkünften für die Jungs führte. Ich muss es herausfinden, dachte er. Da muss was dran sein. Er kicherte bei dem Gedanken, dass Kai tatsächlich noch ein Daumenlutscher sein könnte. Aber wie könnte er es in Erfahrung bringen?

    Er könnte ihn einfach danach fragen. So wie zum Beispiel:

    „Hey, stimmt das, dass du noch am Daumen lutschst?" Aber diesen Gedanken verwarf der Junge wieder. Denn, was ist, wenn Kai einfach Nein sagen würde? Er würde da stehen wie ein Idiot. Und erreicht hätte er gar nichts.

    126, 128, 130 ... noch ein paar Schritte und ... ja. 134. Das muss es sein. Kein Wunder, dass man sich hier mal in der Tür irren kann. Sehen ja auch alle gleich aus. Michael hob die rechte Hand und wollte klopfen. Und als er so zwangsläufig auf seinen Daumen sah, kam ihm eine Idee.

    *

    Ich solle aufpassen hat Fabian zu mir gesagt. Besonders auf Jan, meinte er. Und dann lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Er hat recht. Fabian hat mich immer irgendwie beschützt. Vor Jan und seinen gemeinen Attacken. Vor Pierre, dem Mitläufer. Aber das war jetzt nicht mehr der Fall. Du bist nun auf dich alleine gestellt, Kai. Du musst jetzt selber sehen, wie du zu Recht kommst. Und da stellten sich für mich nur zwei Möglichkeiten. Erstens, du bleibst der Prügelknabe für die beiden. Oder zweitens, du schließt dich ihnen an. Du wirst einfach einer von ihnen. Denn wenn du genauso bist wie sie, dann gibt es doch für die keinen Grund mehr, auf dir herumzuhacken.

    „Ja. Das ist es", sagte ich, nahm den Daumen raus und griff nach der Schachtel Zigaretten auf dem Tisch. Jan hat sie wohl vorhin hier liegen gelassen.

    „Na dann wollen wir mal", ermutigte ich mich und nahm eine Kippe in den Mund. Das Feuerzeug, ebenfalls aus der Schachtel gefummelt, zündete ich mir zum ersten Mal in meinem Leben eine Zigarette an. Daumen gegen Kippe. Das ist der erste Schritt in die Jan-Pierre-Clique. Hihi, das reimt sich, grinste ich und zog den Rauch in die Lungen. Sofort bekam ich einen Hustenanfall, der seinesgleichen suchte. Ein ekliger, verbrannter Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, ein leichtes Schwindelgefühl folgte. Igitt! Wie kann man nur so was gut finden? Aber nicht aufgeben, Kai. Die erste schmeckt immer Scheiße. Aber das wird schon. Und tapfer zog ich ein zweites Mal. Und dann klopfte es an der Tür.

    Erschrocken fuhr ich herum und bevor ich „Herein" sagen konnte, stand Michael schon im Zimmer.

    „Hey", sagte er und hob die Hand zum Gruß.

    Sofort warf ich die Zigarette aus dem Fenster.

    „Du rauchst?", fragte er und kam näher

    „Ähm ... nein ... ich wollte es bloß mal probieren. Nichts weiter."

    „Ja, ja, probieren. Mein Vater hat früher auch mal nur probiert. Und jetzt ist er süchtig nach dem Zeug."

    „Hey! Das war echt meine erste. Wirklich!" Michael grinste.

    „Ist ja schon gut. Mir kann's ja egal sein."

    „Hallo erstmal, begrüßte ich ihn. „Ich wusste gar nicht, dass du kommen wolltest. Oder hab ich was vergessen?

    „Nein, nein. Ich wollte dir nur eine Überraschung sagen."

    „Ja? Was denn?", fragte ich nicht unneugierig. Michael rückte einen Stuhl zurecht und nahm neben mir Platz.

    Er achtete darauf, sich so hinzusetzen, dass er relativ unbemerkt auf meine Hände schielen konnte. Da er ja nicht wusste, an welchem Daumen ich nuckelte, und ob ich es überhaupt noch machte, musste er also beide beobachten.

    „Nun sag schon. Was willst du mir sagen?" Ich merkte, dass sein Blick an mir runter wanderte. Konnte mir aber nicht erklären, warum er das machte. Ein paar Sekunden verharrten seine Augen auf meinem linken Arm, oder der linken Hand, das konnte ich nicht genau sagen. Ich hatte das Gefühl, er würde irgendwas suchen.

    „Was ist denn nun?", fuhr ich ihn an. Er erschrak fast und sagte:

    „Ach so, ja. Also pass auf. Das wird total super.

    Morgen fahren wir in den EUROPAPARK!! Ist das nicht spitze?" Ich sah ihn irritiert an.

    „Ja ... und was hab ich damit zu tun?"

    „Na, du fährst mit. Mit mir und meinen Alten. Cool, oder? Da können wir den ganzen Tag Achterbahn fahren, oder diese Wasser-Spritz-Dinger. Du weißt schon. Das wird so geil. Na, was sagst du? Ich lächelte ihn kurz an. „Ja ... das freut mich sehr. Ehrlich. Aber daraus wird wohl nichts werden. „Häh? Warum denn nicht?"

    „Es tut mir leid, aber ... ich kann ja nicht mal den Eintritt bezahlen. So viel Geld habe ich nicht." Michael schlug sich gegen die Stirn.

    „Mann, bist du blöd. Den zahlen doch meine Eltern. Und Essen und Trinken auch. Du brauchst gar nichts löhnen. Genauso wie ich."

    „Das finde ich ganz nett von euch. Aber... und dabei schüttelte ich den Kopf. „...das kann ich nicht annehmen. Ich möchte keinem zur Last fallen. „Red keinen Quatsch. Du bist eingeladen und fertig. Morgen früh holen wir dich ab. Um acht Uhr. Meine Mutter hat alles schon geregelt."

    „Wow. Das ist Klasse", staunte ich.

    „Na, sag ich doch." Er klopfte mir auf die Schultern.

    „Ich hoffe, das geht mit deinem Arm auch. Wegen Achterbahn und so."

    „Bestimmt. Muss halt ein bisschen aufpassen. Kommt Jochen auch mit?" fragte ich. Doch Michael verneinte.

    „Ich wollte ihn fragen, aber der ist so komisch in letzter Zeit. Hat er halt Pech gehabt."

    „Hm. Ich weiß nicht, ob das so gut ist?"

    „Was meinst du?"

    „Wenn du ihn nicht fragst, meine ich. Schließlich ist er doch dein bester Freund, oder nicht?" Michael nickte.

    „Ja, schon, aber..."

    „Er kann mich nicht leiden", unterbrach ich ihn.

    „Was? Blödsinn!"

    „Ist aber so. Er mag mich nicht."

    „Unsinn. Vielleicht hat er andere Sorgen, oder so was. Keine Ahnung. Der kriegt sich schon wieder ein. Wir kennen uns jetzt schon so lange. Das wird schon wieder."

    „Ich würde ihn trotzdem fragen. Es wäre nur fair ihm gegenüber." Michael überlegte kurz.

    „Ja, okay. Hast ja recht."

    „Und wenn er mit will, dann fahrt halt nur ihr beide. Ich will euch da den Tag nicht verderben." Plötzlich stand Michael auf und stemmte die Hände in die Hüften.

    „Hey! Du gehst mir echt auf die Eier mit deinem blöden Gequatsche. Wir haben dich eingeladen. Und du fährst auch mit. Egal, ob mit Jochen oder ohne. Haste kapiert?" Seine Stimme klang jetzt richtig wütend, so dass ich fast Angst bekam, schon wieder etwas falsch gemacht zu haben. Aber ich wollte doch nur höflich sein.

    „Pass mal auf, Kai", und dann setzte er sich wieder.

    „Du musst dich nicht ständig ... ach ich weiß auch nicht. Du bist so ... so übertrieben freundlich irgendwie. Ständig sagst du was von, ich hoffe, ich stör euch nicht, oder ich will keinem zur Last fallen. Alter ... so was sagt kein Mensch. Vielleicht die Erwachsenen, aber wir doch nicht!"

    Ich sah ihn an, hörte was er sagte und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Schon wieder, obwohl ich es nicht wollte, habe ich mich falsch verhalten. Und das tat mir ihm gegenüber schon wieder leid. Ich möchte nicht, dass er oder irgendjemand anderes, böse auf mich ist, schlecht über mich redet und so weiter. Das hab ich noch nie leiden können. Und genau da liegt mein Fehler.

    LMA... das sind die Zauberbuchstaben, die du brauchst.

    LMA... das ist das Gefühl, das du brauchst. Nicht immer. Denke daran.

    LMA... stärkt dein Selbstbewusstsein. Und von dem hast du sowieso viel zuwenig.

    „Es tut mir leid. Ich wollte nicht..."

    „Hör auf, dich ständig zu entschuldigen, blaffte er mich an. „Das brauchst du nicht. Ehrlich! Sei doch einfach ganz normal!

    „Okay, okay. Ist ja schon gut. Dann werde ich halt in Zukunft einfach frecher zu dir sein." Jetzt grinste er.

    „Genau so ist es. Aber nicht zuviel, sonst ..." Er hob die rechte Hand und ballte sie zur Faust. Ich grinste zurück.

    „Ich muss jetzt nach Hause", sagte er und stand auf.

    „Also morgen früh um acht Uhr dann. Und sei pünktlich!"

    „Klar. Ich warte einfach schon vor der Tür."

    „Ja. Ist okay. Dann bis morgen." Winkend ging er hinaus. Manchmal ist er wirklich ein komischer, dachte er sich und stieg auf sein Fahrrad. Aber wenn er wirklich noch am Daumen lutscht, dann ...

    „oh nein, sagte er zu sich, „das hab ich ja ganz vergessen! Sofort bremste er und sah zurück in den Vorgarten des Heims. „Jetzt hast du überhaupt nicht aufgepasst, du Dummer", schimpfte er mit sich selber.

    Aber jetzt noch mal hinfahren ist auch blöd. Und was sollte er ihm sagen? Hey, zeig mir mal deine Daumen? Quatsch. Und anlügen wollte er ihn auch nicht und ihm irgendeinen Unsinn erzählen, warum er noch einmal zurückkam.

    Michael sah sich seinen rechten Daumen an und fragte sich, ob Kai wohl erkennen könnte, dass er zum Nuckeln „missbraucht wird. Schließlich wäre er ja „vom Fach. Müsste also wissen, woher seine Hornhaut auf dem Daumen kam.

    „Ich muss morgen besser aufpassen, befahl er sich und fuhr wieder los. „Ich muss wissen, ob es stimmt. Ich muss einfach!

    2. Im Keller

    („Suchst du was Bestimmtes?")

    Nachdem Michael gegangen war saß ich noch ein paar Minuten mit einem derart blöden Grinsen im Gesicht am Tisch, dass ich wie ein Idiot ausgesehen haben musste. Aber ich freute mich einfach zu sehr über die Einladung in den Freizeitpark. Michaels Eltern sind wirklich sehr nett, dachte ich bei mir, stand auf, ging die zwei Schritte zum offenen Fenster und sah hinaus auf den Parkplatz des Kinderheims. Christians kleiner, gelber VW stand verlassen auf der geschotterten, etwas zu unterdimensionierten Stellfläche für die Mitarbeiter des Hauses. Was die Berger für ein Auto hatte, wusste ich nicht. Nur der Käfer blieb mir in Erinnerung, als ich Christian mal einsteigen sah. Ich musste kichern. Ein so kleines Auto für einen so großen Mann. Schon komisch. Aber ich fand den Wagen irgendwie niedlich. So knubbelig! Wer weiß, vielleicht, wenn ich erwachsen bin, fahre ich auch mal so einen. Wenn ich es mir leisten kann.

    Ich ging wieder in die Mitte des Zimmers zurück und streckte mich dabei ausgiebig. Den rechten Arm in die Höhe und den Kopf zur Seite gelegt, spannte ich meine Muskeln kurz an und ließ dann eine Entspannung folgen. Und dann fuhr es in meine Nase. Oh Mann. Mein T-Shirt.

    Ich hustete knapp und künstlich. Ein undefinierbarer Gestank ging von dem Stoff aus. Nicht unbedingt stark oder penetrant, aber doch so heftig, dass ich mich sofort unwohl in meiner Haut fühlte. Na ja, hatte ich das Shirt doch schließlich schon zwei Tage an. Und bei der Hitze war das ja auch kein Wunder. Also zog ich es kurzerhand aus und holte mir aus dem Schrank ein neues, das gleichzeitig auch mein letztes, sauberes war. Kaum über den Kopf gezogen, wanderte mein Blick auf den schon beträchtlich angewachsenen Haufen an Schmutzwäsche, der sich ganz unten im Schrank aufgetürmt hatte. Tja, dann wird es wohl mal Zeit, dachte ich.

    Mit einem Berg Klamotten auf den Armen, wohl darauf achtend, dass nichts herunterfällt, ging ich die Treppe hinunter in den Keller. Die Tür zum Raum mit den vielen Waschmaschinen fand ich schnell wieder, war ich doch mit Fabian vor ein paar Tagen schon einmal hier als Jan, der Arsch, meine Mütze mit Ketchup besudelt hatte. Doch Maria brachte sie schnell wieder sauber. Und das gleiche hoffte ich nun auch für meine Sachen. Aber wenn sie schon solche Härtefälle wie Tomaten auf weißem Stoff gelöst hatte, dann dürften meine verschwitzten T-Shirts wohl das geringste Problem sein.

    Vor der gewünschten Tür angekommen, ließ ich die Kleider fallen und klopfte an. Nichts rührte sich. Ich klopfte erneut. Wartete. Rief sogar mal „Hallo und „ist da jemand? Aber ich bekam keine Antwort. Bis ich Schritte auf der Treppe hörte.

    „Suchst du was Bestimmtes?", fragte Christian, der in meine Richtung ging und freundlich lächelte.

    „Ähm ... ja ... ich wollte ... also meine Wäsche..."

    „Maria ist heute nicht da. Es ist Samstag, junger Mann. Am Wochenende hat sie immer frei."

    „Ach so. Das wusste ich nicht. Da habe ich wohl Pech gehabt."

    „Sieht so aus", sagte er, steckte seine Hände in die Hosentaschen und grinste. Dann sah er auf meinen Wäscheberg und zuckte mit dem Kopf in dessen Richtung.

    „Aber so hätte Maria das eh nicht angenommen." Ich sah ebenfalls auf den Boden und fragte:

    „Warum denn nicht? Ist es zuviel auf einmal?" Christian lachte.

    „Nein, nein. Aber du musst das alles in einen Wäschesack tun. Darauf kommt dann dein Name und den gibst du ihr dann. Wie soll sie denn sonst wissen, wem welche Sachen gehören, hm?"

    „Ach so geht das", sagte ich und kratzte mich am Kopf.

    „Hast du denn keinen Wäschesack, sag mal?" Ich verneinte.

    „Also gut. Warte hier. Ich hole schnell einen. Dann brauchst du die Sachen nicht wieder in dein Zimmer schleppen."

    „Schon okay. Die Tür ist sowieso abgeschlossen. Ich kann sowieso nicht ..."

    „Kein Problem. Ich hab einen Schlüssel", konterte er, drehte sich um und ging zwei Türen weiter in einen anderen Raum.

    Mit einem großen, weißen Beutel kam er wieder zurück. Gemeinsam stopften wir dann meine Klamotten hinein und zogen den Gummizug fest. Daran hing ein kleines Namenschild, das Christian freundlicherweise für mich ausfüllte.

    „Einen Kugelschreiber braucht man immer und überall in dem Haus hier", lachte er und steckte denselbigen wieder ein. Dann schloss er die Tür zum Wäscheraum auf und bat mich hinein.

    „Leg ihn auf das Regal da rechts. Dann wird er automatisch am Montag mit gewaschen. Und im Regal gegenüber sind die fertigen Sachen. Siehst du?" Er zeigte mir die Kleider, die im Gegensatz zu den Beuteln, fein säuberlich zusammengelegt und gebügelt waren. Der Sack, samt Namenschild, lag ebenfalls picobello und ganz ordentlich auf den jeweiligen Haufen. So sah jeder sofort, welche Sachen ihm gehörten und welche nicht.

    „Jetzt, wo wir schon drin sind, sagte ich, „könntest du sie mir doch gleich noch waschen oder?

    „Hey, hey, hey... sehe ich aus wie ein Waschweib?"

    Selbstverständlich sagte er das nur aus Spaß und ich spielte einfach mit.

    „Na ja ... wenn du mich so fragst?"

    „Na warte!" Sofort packte er mich. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, geschweige denn ausweichen. Und ohne mir auch nur im Geringsten weh zu tun, nahm er mich in den Schwitzkasten.

    „Na? Hältst du mich noch immer für ein Waschweib?

    Sag schon, sag schon!" Ich musste lachen, weil er so rumalberte.

    „Nein! Nein!, flehte ich. „Niemals! Ich nehme alles zurück!

    „So ist es brav." Dann lockerte er seinen Griff und ich war frei. Wohl absichtlich drehte er mir den Rücken zu und tat so, als ob er gehen wollte. Da griff ich ihn von hinten an. Doch leider ohne großen Erfolg. In weniger als fünf Sekunden war ich in derselben Situation wie vorher. Dann lachte er herzhaft.

    „Keine Chance, Kai. Vergiss es!"

    „Na warte! Ich ..." Ich versuchte, irgendwie freizukommen. Ich drehte und wandte mich wie ein Aal, aber es war hoffnungslos. Erst als Christian nachgab, konnte ich aus seinem Arm herausschlüpfen.

    „Du musst noch viel üben, sagte er und rückte sein T-Shirt zurecht. „Denn jetzt, wo Fabian weg ist, brauche ich ein neues Opfer.

    „Na warte erst, bis mein Arm wieder okay ist. Dann aber ..." Ich hielt ihm drohend meinen Gips entgegen und grinste böse. Bezweifelte aber bereits schon meine Worte.

    „Hast du am Wochenende denn nicht frei?", fragte ich ihn nach einer kurzen Verschnaufpause.

    „Nein. Dieses nicht. Und dann hab ich auch noch Nachtschicht von Montag bis Freitag. Ein Kollege ist krank geworden, weißt du?"

    „Nachtschicht? Die ganze Nacht wach und so?"

    „Ja klar!"

    „Wow. Und was machst du dann die ganze Zeit?"

    „Na, ich passe auf dich auf, wenn du schläfst. Was denkst du denn? „Echt? Ich machte große Augen.

    „Ähm ... nur auf ... mich, oder ..."

    „Nein. Natürlich nicht, grinste er. „Bist ja nicht der einzige hier. Nein, ich muss alle zwei Stunden meinen Rundgang machen. Das heißt, ich gehe von Zimmer zu Zimmer und schau nach, ob ihr auch alle schön in euren Betten seid. Das ist schon alles.

    „Alle zwei Stunden? Das ist ja nervig."

    „Da hast du recht. Job ist Job, Kai. Aber..." Und dann bückte er sich zu mir runter und setzte seinen Satz im Flüsterton fort

    „... wenn ich ehrlich bin..." Ein prüfender Blick durch den Gang folgte. Auch einer über seine rechte Schulter.

    „...ich guck nur so um Mitternacht mal rein. Den Rest schenk ich mir. Aber... pssst." Er legte den Finger auf die Lippen und grinste kurz.

    „Klar. Ich sag nix. Ehrenwort."

    „So ist’s brav." Er richtete sich wieder auf.

    „Und da ist noch keiner aufgewacht? Wenn du rein gekommen bist, meine ich?"

    „Selten. Ich bin ja auch ganz leise. Und außerdem hab ich meine Taschenlampe dabei. Ich brauch euch bloß anzuleuchten. Das reicht schon."

    „Ach so. Ich überlegte kurz. „Ist ja lustig. Dann siehst du uns allen beim Schlafen zu, kicherte ich.

    „Ja klar. Und vor allem du siehst lustig aus mit deinem Däumchen im Mund."

    „Hahaha. Sehr witzig." Ich ballte grimmig die rechte Faust.

    „Hey, das sollte ein Spaß schein. Außerdem, wissen doch eh schon alle hier dass du Daumenlutscher bist."

    „Trotzdem!" erwiderte ich motzend.

    „Tststs ... bist doch selbst schuld, nicht wahr?"

    „Ja, schon ... aber ..."

    „Keine Sorge, ich kann dich beruhigen. Du bist nicht der einzige hier. „Echt?! Wer noch? Sag’s mir! Plötzlich bekam ich starkes Herzklopfen und meine Hände wurden feucht.

    „Hm ... warte mal ..., überlegte er künstlich, „Ann-Katrin ... im Zimmer 244 ... glaube ich und Sophie ... 212 ... halt nein ... 214. Genau! Die beiden erwische ich auch immer wieder dabei.

    „Cool! Wie alt sind sie?" Und dann verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen.

    „Ach weißt du, wenn ich mich nicht täusche, dann sind sie ... so um die... fünf?" Und dann lachte er.

    „Hey! Das ist gemein!, schrie ich, „du verarscht mich hier!

    „Ach komm schon. Du musst kontern! Sag´ was dagegen! Wehr´ dich!" Und blitzschnell war ich wieder in seinem Schwitzkasten. Er war wirklich verdammt schnell. Das muss man ihm lassen. Wenn ich in Zukunft als Ersatz für Fabian mit ihm raufen will, muss ich viel üben. Das Problem ist nur... wie geht das...?

    *

    „Und? Was hat er gesagt? Nun erzähl schon!" Mit diesen Worten begrüßte die Mutter von Michael ihren Sohn.

    „Also irgendwie ... ich weiß auch nicht."

    „Was ... mag er nicht mit?"

    „Doch, doch. Aber er hat komisch reagiert."

    „Was meinst du denn damit?" Michael ging zum Kühlschrank und nahm sich eine Cola raus. Diese 0,33 Liter Flaschen waren wirklich praktisch. Die konnte man, wie Dosen, einfach so leer trinken, ohne immer extra ein Glas holen zu müssen. Mit einem Plopp fiel der Deckel ab und dann trank er erstmal einen Schluck.

    „Na nun red schon! Was ist denn jetzt los?" Michael setzte die Flasche ab.

    „Gefreut hat er sich schon. Aber erst später."

    Wie später? Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!

    „Es war so komisch. Zuerst hatte er gemeint, er gehe nicht mit weil er den Eintritt nicht bezahlen könnte. Und dann, weil er die Einladung nicht annehmen könnte. Und lauter so einen Scheiß." Er schüttelte verständnislos den Kopf.

    „Und dann hat er sich ständig entschuldigt. Er will keinem zur Last fallen und, dass keiner auf ihn böse ist. Und so weiter und so weiter. Also... ich weiß auch nicht. So was sagt doch kein normaler Mensch, stimmt’s Mama?" Er hoffte auf eine Bestätigung, doch seine Mutter grübelte bereits. Anscheinend haben seine Eltern bei Kais Erziehung ganze Arbeit geleistet. Höflich, freundlich, bescheiden ... Respekt. Aber... das stand doch im totalen Gegensatz dazu, was Michael ihr über Kai erzählt hatte. Was er für ein Martyrium erlebt hatte. Mit seinem Vater. Vielleicht ging die Erziehung ja mehr von seiner Mutter aus, die leider schon so früh sterben musste. Vielleicht hat sie ihm ja die durchaus anerkennenden Charaktereigenschaften mit auf den Weg gegeben. Das ist wirklich erstaunlich. So was findet man heutzutage selten. Die meisten Jungs in seinem Alter sind doch nichts weiter als freche, ungehobelte Rotzlöffel. Und auch ihr Sohn war da keine Ausnahme. Aber im Großen und Ganzen war sie doch sehr stolz auf ihn.

    „Er ist halt höflich, nichts weiter", sagte sie und hob den Deckel vom Kartoffeltopf. Dampf strömte heraus.

    „Trotzdem! So übertreiben braucht er auch wieder nicht."

    „Könnte dir nicht schaden", grinste sie und setzte den Deckel wieder drauf. Doch Michael rümpfte nur die Nase.

    „Ach, bevor ich es vergesse: Jochen war vorhin hier. Er wollte wissen, wo du bist."

    „Ja und? Was hast du gesagt?"

    „Die Wahrheit. Dass du zu Kai gefahren bist, und dass wir morgen in den Freizeitpark fahren."

    „Hast du ihn gefragt, ob er... mit will?"

    „Ja habe ich. Aber als er vernahm, dass Kai auch mitkommt, sagte er nur: nein danke und verschwand dann plötzlich."

    „Weil er ein Idiot ist. Deswegen!" Erneut trank Michael einen Schluck.

    „Nein, Michi..., weil er eifersüchtig ist." Fast prustete er die Cola wieder aus.

    „Eifersüchtig? Auf wen denn, bitteschön?"

    „Na, auf Kai natürlich. Auf wen denn sonst?"

    „Quatsch!"

    „Kein Quatsch. Er ist sauer, weil du mehr Zeit mit Kai verbringst, als mit ihm."

    „Aber das stimmt doch gar nicht. Wir sind jeden Tag zusammen. Und außerdem..."

    „Rede mit ihm, Michispatz. Dringend! Sonst ist es vielleicht zu spät." Seine Mutter hatte plötzlich diesen strengen Ausdruck in den Augen, den Michael nur zu gut kannte. Es war derselbe, als sie damals die Nuckelflasche und die Schnuller in seinem Schulrucksack fand...

    „Wir essen um sechs", sagte sie noch und Michael verabschiedete sich. Sollte Jochen wirklich eifersüchtig sein? Auf Kai? Das konnte er sich gar nicht vorstellen. Eifersucht gibt es doch nur bei Mädchen. Aber man wird sehen, dachte er sich; stieg auf sein Fahrrad und fuhr die paar Straßen weiter zu seinem, angeblich besten, Freund.

    3. Rivalen im Freundeskreis

    („Sind wir Freunde?")

    Stefan saß wieder mal vor seinem PC und starrte auf den Bildschirm. Der Posteingang blieb, bis auf ein paar Werbemails, nun schon seit drei Tagen leer. Genau wie beim ersten Mal, als Kai abgeholt wurde und er hoffte, schnellstmöglich eine Nachricht von ihm zu bekommen, hoffte er nun auch dieses Mal. In ihm breitete sich Enttäuschung aus, obwohl er immer und immer wieder versuchte Verständnis aufzubringen. Aber für eine kleine Nachricht wird doch wohl noch Zeit sein, oder?

    Stefan bremste sich und nippte an seiner Cola. Antworten könnte Kai trotzdem. Schließlich hatte er auf seine Mail ja auch sofort reagiert und sie retour geschickt. Er wünschte sich einfach ein Lebenszeichen von ihm. Und wenn man vorher wochenlang fast jeden Tag miteinander gechattet hatte, kam einem das Warten auf eine E-Mail-Antwort doch vor wie eine Ewigkeit.

    Er versuchte sich vorzustellen, wie das Heim aussah, in dem Kai jetzt lebte. Oder leben musste. Wie viele Kinder wohl mit auf seinem Zimmer waren? Wie das Essen schmeckte? Wie die Betreuer waren? Doch so sehr er auch probierte positive Bilder vor sein geistiges Auge zu bekommen, sie wurden immer wieder verdrängt.

    Bilder von dunklen Gängen, von muffigen Zimmern, großen Schlafsälen mit metallenen, ewig quietschenden, Bettgestellen. Bilder von matschigem, gelbem Brei, der von einer unrasierten, rauchenden, in fettiger Küchenkleidung dastehenden Köchin, ausgeteilt wurde. Die rostige Kelle, die immer wieder in den großen Topf tauchte, schwappte das Zeug auf die Teller. Mit toten Fliegen drin.

    „Hör auf damit, sagte Stefan zu sich selber, „das ist Quatsch. Kai geht es gut. Hat er ja geschrieben. Er hat einfach nicht die Gelegenheit zu mailen. Hat nun mal keinen eigenen Computer mehr. Und Internetcafe kostet auch Geld. So einfach ist das. Schluss!

    Er stand auf und ging in die Küche. Das Schreiben vom Gericht hing mit einer roten Nadel an seiner Pinnwand. Mittwoch ... dachte er. In vier Tagen ist es soweit. Und es war alles arrangiert. Urlaub genommen, gleich die ganze Woche, Zug gebucht, Anzug gebügelt.

    Er überlegte, was er sagen würde, vor dem Richter. Und noch mehr überlegte er, was er wohl gefragt werden würde. Am meisten hatte er Angst, dass sie ihn vielleicht als Pädophilien hinstellen könnten. Schließlich hatte er Kai zu sich genommen. Ein minderjähriges, fremdes Kind. Aber das war doch aus einem ganz anderen Grund. Trotzdem, dieser Gedanke schlich schon um ihn, seit er den Brief vom Gericht bekam. Aber das war nicht die Wahrheit. Und Verhandlungen sind doch da, um die Wahrheit herauszufinden.

    Aber Stefan freute sich auch. Er freute sich, Kai wieder zu sehen. Ihn in die Arme schließen zu können. Wenn er das durfte. Und vielleicht, wenn alles gut geht, könnten sie ja nach der Verhandlung ein Eis essen gehen, oder so was. Und erzählen, was so war. Und was sein wird.

    *

    Jochens Mutter öffnete die Tür und lächelte.

    „Hallo Michael."

    „Hallo. Ist Jochen auch da?", fragte er. Irgendwie steckte ihm ein Kloß im Hals. Und zwar seitdem er auf den Klingelknopf gedrückt hatte. Nein ... schon ein bisschen vorher.

    „Ja, ist er. Er ist in seinem Zimmer und spielt Computer." Seine Mutter gab ihm den Weg frei und Michael ging an ihr vorbei in Richtung Treppe. In der Doppelhaushälfte, in dem sie wohnten, lag sein Zimmer im ersten Stock, genau über der Küche.

    „Hey, Michael! Warte mal!" Mit dem rechten Fuß bereits auf der dritten Stufe und der Hand am Geländer stoppte er und sah zu ihr rüber.

    „Ihr habt euch gestritten, stimmt’s? Er kniff die Augen zusammen. „Woher wissen Sie das? Sie lächelte.

    „Mütter wissen so was. Sie spüren genau, wenn etwas mit ihrem Kindern nicht stimmt."

    „So, so ..."

    „Kannst du mir glauben. Ist so." Er nickte zwar, aber glaubte ihr nicht wirklich.

    „Und außerdem hat Jochen es mir gesagt", lachte sie dann und auch Michael musste grinsen. Sein Kloß im Hals war verschwunden.

    „Was hat er gesagt?", fragte er neugierig und ging wieder eine Stufe nach unten.

    „Willst du es wortwörtlich wissen?"

    „Ja. Wäre gut."

    „Okay, aber du darfst nicht eingeschnappt sein."

    „Warum sollte ich das?"

    „Na, weil er gesagt hat, dass du ein Arsch bist." Jetzt bekam Michael doch große Augen. Und Zorn breitete sich in ihm aus.

    „Es waren seine Worte. Tut mir leid, verteidigte sie sich und hob beide Hände. „Und du wolltest es wissen.

    „Und... was hat er noch gesagt?" Seine Hand krallte sich nun regelrecht im Handlauf des Treppengeländers fest.

    „Das ist unwichtig. Gehe rauf zu ihm und kläre das selbst."

    Ja... okay. Er ging wieder zwei Stufen hinauf.

    „Ach... Michael?, rief sie ihm noch zu, „ich find das ganz toll, dass du gekommen bist um das aus der Welt zu schaffen. Ehrlich. Michael lächelte flach und ging dann ohne Kommentar weiter nach oben.

    „Was willst du denn hier?", maulte Jochen Michael an, nachdem dieser in sein Zimmer kam. Er kurzer Blick zur Seite genügte ihm, um zu sehen, wer zu Besuch kam. Dann waren seinen Augen wieder völlig auf den Bildschirm fixiert.

    „Sind dir die Heimkinder zu langweilig geworden?"

    „Ich bin also ein Arsch, ja?", blaffte Michael. Doch Jochen hob abweisend die Schultern.

    „Hallo! Ich rede mit dir!"

    „Na dann red doch! Oder ne... hau´ einfach ab. Sind dir doch die neuen Freunde lieber als die alten!" Michael ballte die Fäuste.

    „Das stimmt doch gar nicht!"

    „Und ob das stimmt!", blaffte Jochen zurück, ohne ihn anzusehen.

    „Schalt´ doch mal den Scheiß Kasten da aus, verdammt noch mal! „Ach ... leck mich! war nur Jochens Antwort und Michael wurde sauer. Energisch ging er zu ihm und knallte mit der Faust auf den roten Schalter der Sechsfach-Steckdosenleiste. Sofort verstummten PC und Lautsprecher. Es herrschte eine fast unbehagliche Stille im Raum, wo vorher noch Maschinengewehrschüsse und schreiende Menschenlaute zu hören waren. Und jetzt knisterte nur noch leise ein paar Mal der Monitor.

    „Sag mal, spinnst du, oder was?! Jochen starrte zuerst auf seinen Bildschirm. Zuerst noch Mord und Totschlag, dann erkannte er nur noch eine dunkelgraue Fläche. „Ich hab vielleicht noch nicht abgespeichert, du Arschloch! Doch Michael zuckte nur mit den Schultern. Jochen sprang auf. Er wollte ihn am Kragen packen und einfach vermöbeln. Aber er stand nur da, sah ihn mit offenem Mund an und atmete schnell vor Zorn. „Ich will mir dir reden, Mann, kapierst du das nicht? Doch er winkte ab. „Was sollen wir schon reden? Ist doch alles klar.

    „Nichts ist klar. Du führst dich auf, wie ein Dreijähriger!"

    „Ach ... und du? Wer lutscht denn noch am Daumen wie ein Baby? Du oder ich?"

    „Halts Maul, verdammt! Das hat damit überhaupt nichts zu tun!"

    „Hat es wohl!"

    „Nein!"

    „Doch!"

    Jochen setzte sich mit verschränkten Armen und dem Rücken zu ihm aufs Bett. Michael hingegen sah traurig auf den Boden. Wieder beherrschte die Stille den Raum. Eine Ruhe, die erdrückend war. Bis Jochen dann auf einmal leise sagte:

    „Sind wir noch Freunde, Micha? Sind wir Freunde?" Michael sah auf und antwortete ihm zuerst nicht. Er wollte nichts Falsches sagen. Aber er wollte auch mit gar keiner Antwort nichts Falsches sagen. Also sagte er:

    „Sicher. Wie immer. „Und warum hängst du dann dauern mit Kai zusammen rum, und nicht mit mir? Er holte tief Luft und setzte sich zu ihm. Mittlerweile hatte sich auch Jochen wieder zu ihm rumgedreht. „Warte mal ..., sagte er, „ich muss überlegen.

    „Was überlegst du?"

    „Pssst ..."

    Michael haderte mit sich. Sollte er ... oder sollte er nicht. Er hat es Kai zwar nicht versprochen, aber ... es geht Jochen auch nichts an... eigentlich. Aber auf der anderen Seite ... ach scheiß drauf!

    „Kannst du dir vorstellen, wie das ist?" Jochen sah ihn irritiert an. „Wie was ist?" Michael biss sich auf die Unterlippe.

    „Wenn man ... zu Hause ... ach verdammt!"

    „Wovon quatschst du denn da?"

    „Okay, pass auf. Das hört sich vielleicht jetzt ein bisschen blöd an, aber was soll’s." Er schluckte und leckte sich über die Lippen.

    „Wenn du mal so über deine Eltern nachdenkst ... was meinst du wie die so sind? „Nervend. Am liebsten würde ich sie auf den Mond schießen. „Möchtest du das wirklich? Denk nach!" Jetzt sah ihn Jochen noch irritierter

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