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Rote Brücke Band 2: Budapest-Protokolle
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eBook542 Seiten4 Stunden

Rote Brücke Band 2: Budapest-Protokolle

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Über dieses E-Book

Ein Symbol öffnet die Tür zur Vergangenheit. Eine Tochter sucht ihren verschollenen Vater. Ein System, das Menschen auslöschte.
Die Budapester Journalistin Anna Varga stolpert über ein rätselhaftes Symbol – einen roten Bogen mit zwei Punkten – in den Akten eines toten Beamten. Was zunächst wie eine journalistische Recherche beginnt, wird zur verzweifelten Suche nach ihrer eigenen Identität.
Operation Transit Rot war mehr als ein geheimes Programm der Staatsicherheit. Es war eine systematische Auslöschung von Menschen: Dissidenten, Journalisten, unbequeme Geister wurden nicht eliminiert – sie wurden umgeschrieben. Neue Namen, neue Erinnerungen, neue Leben. Ihre alten Identitäten verschwanden aus allen Akten, als hätten sie nie existiert.
Anna entdeckt, dass ihr totgeglaubter Vater András Fehér eines der Opfer war. Irgendwo in Europa lebt er unter dem Namen Mihály Török – ohne zu wissen, wer er wirklich ist. Ihre Mutter Katalin, die Anna als liebevolle Journalistin kannte, war Teil des Systems, das Menschen half, ihre Identität zu wechseln. Eine „Schutzperson" im Dienst eines Programms, das Tausende Leben zerstörte.
Die Suche führt Anna durch drei Länder:
• In den Archiven von Budapest findet sie verschlüsselte Dokumente und Tonbänder, die niemand hören sollte
• In Bukarest stößt sie auf das „Bukarest-Protokoll" – den Beweis für geheime Übergaben zwischen Geheimdiensten
• In Berlin trifft sie auf den Mann, der einmal ihr Vater war, der sie nicht erkennt
Doch Anna ist nicht die Einzige, die nach der Wahrheit sucht. Ein mysteriöser „Archivar" verfolgt sie, gibt ihr Hinweise, warnt sie vor Gefahren. Bálint, ihr einstiger Verbündeter, entpuppt sich als einer der psychologischen Analysten von Transit Rot. Und General Attila Horváth, der Mann, der das Programm leitete, lebt noch immer – und ist bereit, alles zu tun, um seine Vergangenheit zu schützen.
Die Freiheitsbrücke in Budapest wird zum Zentrum des Mysteriums:
Hier wurden die Transformationen geplant. Hier traf Anna als Kind ihren Vater zum letzten Mal. Hier beginnt und endet jede Geschichte. Die Brücke ist nicht nur Schauplatz – sie ist Symbol für den Übergang zwischen Identitäten, für die Unmöglichkeit der Rückkehr, für die Frage: Wer bin ich wirklich, wenn meine Erinnerungen ausgelöscht werden?
Anna muss sich entscheiden:
• Veröffentlicht sie die „Transit-Liste" mit tausenden Namen und riskiert damit nicht nur ihr Leben, sondern auch das Leben all jener, die unter neuer Identität Frieden gefunden haben?
• Kann sie ihrem Vater seine Erinnerungen zurückgeben – oder würde die Wahrheit ihn zerstören?
• Und wem kann sie vertrauen in einer Welt, in der jede Identität eine Lüge sein könnte?
„Rote Brücke" ist ein atmosphärisch dichter Thriller über:
• Die Macht von Erinnerung und die Gewalt des Vergessens
• Die Frage nach Identität in einer Welt der Manipulation
• Mütterliche Liebe, die alles opfert – auch die Wahrheit
• Die Verantwortung, historische Verbrechen aufzudecken
• Den Preis der Gerechtigkeit und die Grenzen der Vergebung
Der Roman verbindet die Spannung eines Politthrilers mit der emotionalen Tiefe eines Familiendramas. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Ungarn und Deutschland, zwischen Wahrheit und Konstruktion entspinnt sich eine Geschichte, die den Leser nicht mehr loslässt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition GmbH
Erscheinungsdatum11. Dez. 2025
ISBN9783384775528
Rote Brücke Band 2: Budapest-Protokolle
Autor

Danilo Sieren

Danilo – Autor, Gestalter, Visionär Danilo wurde im sächsischen Riesa geboren und lebt heute in Dortmund. Als Autor mit einem ausgeprägten Sinn für emotionale Tiefe, kulturelle Authentizität und poetische Sprache erschafft er literarische Welten, die berühren und bleiben. Seine Texte zeichnen sich durch stilistische Raffinesse, fließende Komposition und eine klare Ablehnung von formelhafter Kürze oder repetitiver Sprache aus – jedes Wort trägt, jedes Bild wirkt. Danilo denkt Geschichten nicht linear, sondern in Schichten: Plot, Design und Markenidentität entstehen bei ihm stets parallel. Er verbindet strategisches Denken mit künstlerischer Intuition und entwickelt narrative Konzepte, die weit über das Geschriebene hinausreichen. Seine visuelle Handschrift ist ebenso präzise wie seine Prosa – fotorealistische, textfreie Cover und typografische Ornamentik sind für ihn keine Dekoration, sondern Teil der Erzählung. Als kreativer Perfektionist arbeitet Danilo iterativ, offen für radikale Umbrüche und feine Nuancen. Er liebt das Spiel mit Ambivalenz, emotionaler Resonanz und symbolischer Tiefe – und versteht es, Leserinnen und Leser in atmosphärisch dichte, realistisch-magische Räume zu führen. Seine Arbeit ist geprägt von einem tiefen Respekt für Sprache, Struktur und Wirkung. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit begleitet Danilo seine Projekte gestalterisch und konzeptionell bis ins Detail. Er denkt international, visuell und generationenübergreifend – mit einem klaren Ziel: Geschichten zu schaffen, die nicht nur gelesen, sondern erlebt werden.

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    Buchvorschau

    Rote Brücke Band 2 - Danilo Sieren

    Kapitel 1 – Der rote Bogen

    ※  ※  ※

    Budapest, Oktober

    Die Wohnung roch nach Staub und Schweigen. Anna Varga stand im Türrahmen, die Hand noch auf der Klinke, und versuchte zu verstehen, was sie sah. Der Mann lag auf dem Rücken, die Augen offen, die Hände gefaltet auf der Brust, als hätte er sich selbst für ein Begräbnis vorbereitet. Kein Blut. Keine Spuren von Gewalt. Nur ein Körper, der aufgehört hatte zu atmen.

    Das Licht fiel schräg durch die schweren Vorhänge, zerschnitt den Raum in Streifen aus Gold und Dunkelheit. Staub tanzte in den Sonnenstrahlen, träge, als hätte die Zeit hier aufgehört zu existieren. Die Stille war absolut. Nicht die angenehme Stille eines ruhigen Nachmittags, sondern die schwere, drückende Stille eines Ortes, an dem gerade etwas Endgültiges geschehen war.

    Anna atmete flach. Ihr Herz hämmerte, aber ihre Hand war ruhig. Sie hatte Tote gesehen. Nicht viele, aber genug, um zu wissen, wie sich der Moment anfühlte, in dem man begriff, dass ein Leben vorbei war. Es war nicht dramatisch. Es war einfach nur... still.

    Sie war nicht hergekommen, um einen Toten zu finden.

    Sie war gekommen, weil der Mann – Georg Lindner, ehemaliger Konsularbeamter der DDR, pensioniert seit 1991, wohnhaft in Budapest seit dreißig Jahren – ihr eine Nachricht hinterlassen hatte. Keine E-Mail, kein Anruf. Ein Brief. Handgeschrieben. In einem Umschlag ohne Absender, aber mit einem Budapester Poststempel vom vergangenen Montag.

    Der Brief war kurz gewesen. Präzise. Fast militärisch.

    Frau Varga. Sie haben nach der Wahrheit gesucht. Ich habe sie gefunden. Kommen Sie am Donnerstag um 14 Uhr. Allein. Andrássy út 47, vierter Stock. Bringen Sie niemanden mit. Vertrauen Sie niemandem. – G.L.

    Keine Erklärung. Keine Details. Nur eine Einladung – oder eine Warnung.

    Das war vor zwei Tagen gewesen.

    Jetzt war es Donnerstag, 14:17 Uhr, und Georg Lindner war tot.

    Anna trat einen Schritt zurück, holte ihr Telefon heraus, zögerte. Die Polizei rufen? Ja. Natürlich. Das war das Richtige. Das Vernünftige. Aber zuerst... sie sah sich um. Die Wohnung war klein, ordentlich, altmodisch. Schwere Vorhänge aus dunkelgrünem Samt. Dunkle Möbel, schweres Holz, Stil der Siebziger. Bücher in Regalen, die bis zur Decke reichten – Philosophie, Geschichte, Politikwissenschaft, alles auf Deutsch. Ein Leben in vier Wänden. Ein Leben, das jetzt vorbei war.

    Auf dem Tisch neben dem Körper lag ein Dokument. Vergilbtes Papier, offizielle Stempel, kyrillische Buchstaben. Anna trat näher, vorsichtig, als könnte der Tote sie hören. Sie beugte sich vor, ohne etwas zu berühren.

    Das Dokument war alt. Sehr alt. Die Tinte war verblichen, das Papier brüchig. Ein offizielles Formular, ausgefüllt mit Schreibmaschine. Russisch. Anna konnte kein Russisch, aber sie erkannte die Struktur – Name, Geburtsdatum, Nationalität. Ein Identitätsdokument. Oder etwas Ähnliches.

    Und dann sah sie es.

    Ein Symbol. Gezeichnet mit roter Tinte. Oben rechts auf dem Dokument, wo normalerweise ein Stempel oder eine Unterschrift gewesen wäre. Kein Wort, keine Erklärung. Nur das Zeichen.

    Ein stilisierter Brückenbogen. Zwei Punkte darunter. Einfach, klar, präzise. Wie eine technische Zeichnung. Wie ein Code.

    Anna starrte darauf, das Herz plötzlich laut in ihren Ohren. Sie kannte dieses Symbol nicht. Aber sie spürte, dass es wichtig war. Mehr als wichtig. Gefährlich.

    Sie fotografierte es mit ihrem Handy. Drei Aufnahmen, aus verschiedenen Winkeln. Das Dokument. Das Symbol. Den Raum. Dann steckte sie das Telefon weg und sah sich weiter um.

    Der Raum war zu ordentlich. Zu perfekt. Kein Geschirr in der Spüle. Keine Zeitungen auf dem Tisch. Keine Spuren von Leben. Es war, als hätte Lindner gewusst, dass jemand kommen würde. Als hätte er aufgeräumt. Sich vorbereitet.

    Oder als hätte jemand anderes aufgeräumt.

    Anna ging zum Schreibtisch. Drei Schubladen. Sie öffnete die erste. Leer. Die zweite. Leer. Die dritte. Ein einzelner Umschlag. Kein Name darauf. Sie öffnete ihn vorsichtig.

    Darin: ein Foto. Schwarz-weiß. Aufgenommen in den Achtzigern, schätzte Anna. Es zeigte eine Brücke. Nicht die Kettenbrücke, nicht die Freiheitsbrücke. Eine andere. Kleiner. Unscheinbarer. Im Hintergrund: Menschen. Drei oder vier. Zu unscharf, um Gesichter zu erkennen. Aber einer von ihnen trug einen Aktenkoffer.

    Anna drehte das Foto um. Auf der Rückseite, mit Bleistift geschrieben: 1987. Transit 3.

    Transit.

    Das Wort hallte in ihrem Kopf. Sie hatte es schon einmal gehört. Wo? Wann? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber es fühlte sich wichtig an.

    Sie steckte das Foto ein. Dann rief sie die Polizei.

    Andrássy út, 14:45 Uh

    Die Polizei kam nach zwanzig Minuten. Zwei Beamte in Uniform, ein Mann und eine Frau, beide jung, beide gelangweilt. Sie stellten die üblichen Fragen. Wer sie sei. Warum sie hier sei. Wie sie den Mann kenne.

    Anna antwortete knapp, präzise. Sie war Journalistin. Lindner hatte sie kontaktiert. Sie sei gekommen, um mit ihm zu sprechen. Die Tür sei angelehnt gewesen – nicht offen, aber nicht verschlossen. Sie habe geklopft, keine Antwort bekommen, die Tür aufgedrückt. Sie habe ihn tot aufgefunden.

    „Haben Sie etwas angefasst?", fragte der männliche Beamte. Er war Ende zwanzig, schlaksig, mit müden Augen.

    „Nein."

    „Sind Sie sicher?"

    „Ja."

    „Die Tür war angelehnt?"

    „Ja."

    „Nicht aufgebrochen?"

    „Nein. Sie war nur nicht richtig geschlossen."

    Der Beamte notierte etwas. Die Frau – älter, kompakter, mit scharfem Blick – trat in die Wohnung, sah sich um, kam zurück.

    „Sieht aus wie ein natürlicher Tod, sagte sie. „Herzversagen, würde ich sagen. Der Mann war alt.

    „Er war zweiundsechzig", sagte Anna.

    „Alt genug."

    „Werden Sie eine Autopsie durchführen?"

    „Wenn der Arzt es für nötig hält. Aber ich sehe keine Anzeichen von Gewalt."

    „Es gibt ein Dokument. Auf dem Tisch. Mit einem Symbol."

    Die Frau sah sie an. „Und?"

    „Es könnte wichtig sein."

    „Wir werden es sicherstellen. Danke für den Hinweis."

    Der männliche Beamte klappte sein Notizbuch zu. „Wir müssen die Wohnung versiegeln. Sie können gehen, aber wir brauchen Ihre Kontaktdaten für den Fall, dass wir weitere Fragen haben."

    Anna gab ihnen ihre Telefonnummer und ihre Adresse. Dann ging sie.

    Im Treppenhaus blieb sie stehen, lehnte sich gegen die Wand, atmete tief ein. Ihr Herz beruhigte sich langsam. Sie dachte an Lindner, an das Symbol, an das Foto. An das Wort: Transit.

    Sie musste herausfinden, was es bedeutete.

    Andrássy út, 15:00 Uhr

    Draußen war die Luft kühl, der Himmel grau. Oktober in Budapest. Die Blätter der Platanen färbten sich gelb und braun, bedeckten die Gehwege mit einem raschelnden Teppich. Die Andrássy út war voll von Menschen – Touristen, die zur Oper schlenderten, Geschäftsleute mit Aktentaschen, Studenten mit Kopfhörern. Das Leben ging weiter, gleichgültig gegenüber dem Tod eines alten Mannes in einer stillen Wohnung.

    Anna ging langsam, die Hände in den Taschen. Sie dachte an das Dokument, an das Symbol, an das Foto. Sie musste herausfinden, wer Georg Lindner wirklich war. Was er gewusst hatte. Warum er sie kontaktiert hatte.

    Und warum er tot war.

    Sie bog in eine Seitengasse ein, ging zu einem kleinen Café, setzte sich an einen Tisch am Fenster. Sie bestellte einen Kaffee, öffnete ihren Laptop.

    Georg Lindner. Sie gab den Namen in die Suchmaschine ein.

    Wenig. Ein Wikipedia-Eintrag, kurz und trocken. Geboren 1944 in Dresden. Studium der Politikwissenschaften in Leipzig. Eintritt in den diplomatischen Dienst der DDR 1968. Konsularbeamter in Budapest 1978–1989. Nach der Wende in Deutschland geblieben – nein, Korrektur: nach Ungarn zurückgekehrt. Pensionierung 1991. Kein Skandal. Keine Auszeichnungen. Ein unauffälliges Leben.

    Zu unauffällig.

    Anna lehnte sich zurück. Menschen wie Lindner hinterließen keine Spuren. Sie waren Schatten, die sich durch die Geschichte bewegten, ohne gesehen zu werden. Aber manchmal – nur manchmal – hinterließen sie Risse. Und durch diese Risse konnte man sehen, was darunter lag.

    Sie öffnete ihr Archiv. Dateien, gesammelt über Jahre. Interviews, Dokumente, Akten aus dem Staatsarchiv. Alles, was sie über das Netzwerk wusste, über die Operation Schwarze Donau, über die Menschen, die gestorben waren, damit andere schweigen konnten.

    Ihr Buch – Schwarze Donau: Ein Netzwerk im Schatten – war vor drei Jahren erschienen. Es hatte für Aufsehen gesorgt. Nicht spektakulär, aber nachhaltig. Übersetzungen in achtzehn Sprachen. Positive Kritiken. Einige Angriffe, aber das war zu erwarten gewesen. Die Wahrheit machte Menschen nervös.

    Seitdem hatte sie weitergearbeitet. Vorträge gehalten. Artikel geschrieben. Aber sie hatte auch weiterrecherchiert. Die Geschichte war nicht vorbei. Das Netzwerk war nicht tot. Es hatte sich nur verändert. Neue Gesichter. Neue Methoden. Aber die Mechanismen waren dieselben.

    Sie suchte nach Lindners Namen in ihrem Archiv. Nichts.

    Sie suchte nach „DDR-Konsulat Budapest". Dutzende Treffer. Berichte, Akten, Interviews. Aber keiner davon erwähnte Lindner prominent. Er war eine Randnotiz. Ein Name in einer Liste. Nichts Besonderes.

    Sie suchte nach „1987". Das Jahr auf dem Foto. Das Jahr, das sie spürte, war wichtig.

    Ein Dokument tauchte auf. Eine entschlüsselte Akte aus dem ungarischen Staatsarchiv. Freigegeben 2019. Titel: „Operative Zusammenarbeit zwischen MfS und ÁVH, 1985–1989".

    Anna öffnete die Datei. Sechzig Seiten. Meistens Verwaltungskram. Namen geschwärzt. Daten geschwärzt. Aber auf Seite 47 fand sie etwas.

    Ein Satz. Unscheinbar, fast verloren zwischen den Zeilen.

    „Lindner, Georg. Konsulat Budapest. Zuständig für Transit-Koordination, Zeitraum unklar. Keine weiteren Angaben verfügbar."

    Transit-Koordination.

    Anna starrte auf die Worte. Ihr Puls beschleunigte sich. Das war es. Das Wort. Transit. Aber was bedeutete es?

    Sie suchte weiter. Transit als Begriff. Durchreise. Durchgang. Übergang. Logistik.

    Aber das ergab keinen Sinn. Warum sollte ein Konsularbeamter für „Transit-Koordination zuständig sein? Was wurde „koordiniert? Und warum war der Zeitraum unklar?

    Sie speicherte die Datei, dann griff sie zum Telefon.

    Telefonat, 15:45 Uhr

    „Bálint Kovács."

    Die Stimme war ruhig, professionell, ein wenig distanziert. Anna hatte ihn seit drei Jahren nicht gesprochen. Nicht seit dem Ende der Untersuchung. Nicht seit dem Tag, an dem sie beschlossen hatten, getrennte Wege zu gehen. Es war keine dramatische Trennung gewesen. Nur eine stille Übereinkunft. Sie hatten zu viel gemeinsam durchgemacht. Zu viel gesehen. Manchmal musste man Abstand nehmen, um weiterleben zu können.

    „Bálint. Ich bin's."

    Eine Pause. Dann, leiser: „Anna. Das ist... unerwartet."

    „Ich brauche deine Hilfe."

    „Natürlich tust du das." Ein Hauch von Ironie in seiner Stimme. Aber auch Wärme.

    „Bálint –"

    „Was ist passiert?"

    Sie erzählte ihm von Lindner, von dem Brief, von dem Dokument, von dem Symbol. Sie schickte ihm das Foto per Nachricht.

    „Hast du das schon mal gesehen?", fragte sie.

    Eine längere Pause. Sie hörte ihn atmen. Dann: „Nein. Nicht genau so."

    „Nicht genau so?"

    „Es erinnert mich an etwas. Etwas aus den Akten. Markierungen. Codes. Wir haben sie nie vollständig entschlüsselt."

    „Welche Akten?"

    „Die, die wir damals gefunden haben. In Brüssel. Erinnerst du dich?"

    „Ja."

    „Es gab Hinweise auf eine Operation. Oder mehrere. Aber die Informationen waren bruchstückhaft. Namen waren geschwärzt. Daten fehlten. Aber es gab immer wieder dieses Wort: Transit."

    „Transit. Es taucht überall auf."

    „Ja. Aber niemand wusste, was es bedeutet. Offiziell gab es nie eine Operation namens Transit."

    „Offiziell."

    „Genau."

    Anna lehnte sich zurück. „Ich muss mehr über Lindner herausfinden. Kannst du mir helfen?"

    Ein Seufzer. „Anna –"

    „Bitte."

    „Du weißt, dass das gefährlich sein könnte."

    „Ich weiß."

    „Du weißt, dass Menschen sterben, wenn sie zu viel fragen."

    „Lindner ist tot."

    „Genau deshalb."

    „Bálint. Bitte."

    Eine lange Pause. Dann: „Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber sei vorsichtig."

    „Immer."

    „Nein, Anna. Nie. Du bist nie vorsichtig. Das ist das Problem."

    Sie lächelte schwach. „Vielleicht."

    „Ich melde mich."

    Er legte auf.

    Anna starrte auf ihr Telefon. Bálint. Sie hatte nicht gedacht, dass sie ihn jemals wieder anrufen würde. Aber hier war sie. Und er hatte nicht Nein gesagt.

    Das bedeutete etwas.

    Annas Wohnung, 18:00 Uhr

    Sie lebte im fünften Bezirk, in einem renovierten Altbau mit hohen Decken und Parkettboden. Die Wohnung war hell, minimalistisch eingerichtet. Ein Schreibtisch am Fenster mit Blick auf eine ruhige Straße. Ein Sofa. Ein Bücherregal. Keine Fotos an den Wänden. Keine Erinnerungsstücke. Nur Arbeit.

    Sie hatte gelernt, ohne Ballast zu leben. Nach dem Tod ihrer Mutter. Nach dem Kampf gegen das Netzwerk. Nach den Monaten der Flucht, der Angst, der Erschöpfung. Sie hatte gelernt, dass Dinge einen belasteten. Dass Erinnerungen einen festhielten. Dass man freier war, wenn man nichts hatte, woran man sich klammern konnte.

    Ihr Vater lebte zwei Straßen weiter. Sie sahen sich zweimal die Woche. Nicht mehr, nicht weniger. Es war genug. Mehr hätte sie nicht ertragen. Sie liebte ihn. Aber sie brauchte Abstand. Er verstand das. Oder er tat so, als ob.

    Anna setzte sich an den Schreibtisch, öffnete ihren Laptop. Sie musste methodisch vorgehen. Eins nach dem anderen. Zuerst: Wer war Georg Lindner wirklich?

    Sie rief das Staatsarchiv an. Die Stimme am anderen Ende war freundlich, aber desinteressiert.

    „Ich möchte einen Termin vereinbaren. Forschungszweck: Diplomatie Geschichte der DDR in Ungarn, 1980er Jahre."

    „Name?"

    „Anna Varga."

    Eine Pause. Dann: „Einen Moment."

    Klicken. Warten. Dann eine andere Stimme. Älter. Förmlicher.

    „Frau Varga. Ich bin Dr. Éva Molnár, Leiterin der historischen Abteilung. Sie möchten Zugang zu Akten über DDR-Diplomatie?"

    „Ja. Speziell über die Jahre 1985 bis 1989."

    „Darf ich fragen, wofür?"

    „Recherche für ein Buchprojekt."

    „Verstehe. Wir haben umfangreiche Bestände. Aber vieles ist noch gesperrt."

    „Ich weiß. Ich habe bereits mit einigen Akten gearbeitet."

    „Ihr Name ist mir bekannt, Frau Varga. Ihr Buch hat... Aufmerksamkeit erregt."

    Anna hörte die Vorsicht in der Stimme. „Ich hoffe, das ist kein Problem."

    „Nein. Aber es bedeutet, dass Ihr Zugang überprüft werden muss. Formalität."

    „Wie lange dauert das?"

    „Ein paar Tage. Ich rufe Sie zurück."

    „Danke."

    Sie legte auf. Ein paar Tage. Das war zu lang. Sie brauchte die Informationen jetzt.

    Sie öffnete eine verschlüsselte Nachricht und schrieb an einen Kontakt. Jemand, den sie vor zwei Jahren kennengelernt hatte. Ein Archivar, der Zugang zu Dingen hatte, die nicht öffentlich waren. Er hatte ihr schon einmal geholfen. Aus Überzeugung, nicht für Geld.

    „Hallo. Ich brauche Informationen über einen Mann namens Georg Lindner. DDR-Konsulat Budapest, 1978–1989. Speziell: Transit-Koordination. Alles, was du finden kannst. Dringend. – A."

    Sie schickte die Nachricht. Dann wartete sie.

    Café Gerbeaud, 20:00 Uhr

    Anna traf Bálint in einem Café am Vörösmarty tér. Es war ein Ort, den sie beide kannten. Neutral. Öffentlich. Sicher.

    Er saß bereits da, eine Tasse Kaffee vor sich, den Blick auf sein Telefon gerichtet. Als er sie sah, stand er auf. Sie umarmten sich nicht. Sie setzten sich.

    „Du siehst müde aus", sagte er.

    „Ich bin müde."

    „Wie lange arbeitest du schon an dieser Geschichte?"

    „Seit heute Nachmittag."

    Er lächelte schwach. „Das meine ich nicht."

    „Ich weiß."

    Sie bestellte einen Kaffee. Der Kellner brachte ihn schnell, stellte ihn schweigend hin, ging.

    „Was hast du gefunden?", fragte Bálint.

    Anna zeigte ihm das Foto. Das Foto von der Brücke. Das Foto mit der Aufschrift: 1987. Transit 3.

    Bálint starrte darauf. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber seine Augen verrieten etwas. Erkennen. Oder Angst.

    „Was?", fragte Anna.

    „Ich habe dieses Foto schon einmal gesehen."

    „Wo?"

    „In den Akten. Damals. In Brüssel."

    „Bist du sicher?"

    „Nein. Aber ich glaube es."

    „Was bedeutet Transit 3?"

    „Ich weiß es nicht. Aber ich habe eine Vermutung."

    „Welche?"

    Er lehnte sich zurück, sah aus dem Fenster, als würde er überlegen, wie viel er sagen sollte. Dann: „Es gab Gerüchte. Während der Untersuchung. Über eine Operation, die nie dokumentiert wurde. Eine Operation, bei der Menschen... verändert wurden."

    „Verändert?"

    „Neue Identitäten bekamen. Neue Geschichten. Neue Leben."

    „Warum?"

    „Verschiedene Gründe. Manchmal war es Schutz. Jemand wusste zu viel, war in Gefahr, musste verschwinden. Manchmal war es Kontrolle. Jemand sollte infiltriert werden, sollte in eine neue Rolle schlüpfen. Und manchmal..." Er zögerte.

    „Was?"

    „Manchmal war es Strafe. Jemand wurde ausgelöscht. Nicht getötet. Nur... umgeschrieben."

    Anna starrte ihn an. „Umgeschrieben?"

    „Ja. Erinnerungen manipuliert. Dokumente gefälscht. Eine ganze Lebensgeschichte neu erfunden. Und dann wurde die Person in ein neues Leben gesetzt. Ohne zu wissen, dass sie umgeschrieben worden war."

    „Das ist unmöglich."

    „Nein. Das ist es nicht. Nicht, wenn man genug Zeit hat. Und genug Kontrolle."

    Anna lehnte sich zurück. Ihr Kopf drehte sich. „Und du glaubst, Transit war so eine Operation?"

    „Ich glaube, Transit war mehr als eine Operation. Ich glaube, es war ein System."

    „Ein System?"

    „Ja. Eine Infrastruktur. Für das Umschreiben von Menschen."

    „Und Lindner war Teil davon?"

    „Wenn diese Akten stimmen? Ja."

    Anna schwieg. Sie dachte an das Symbol. An den roten Bogen. An das Wort: Brücke.

    „Eine Brücke verbindet", sagte sie leise.

    „Oder trennt, sagte Bálint. „Je nachdem, auf welcher Seite man steht.

    Sie sahen sich an. Dann sagte Anna: „Ich muss mehr herausfinden."

    „Anna. Sei vorsichtig."

    „Das sagst du immer."

    „Weil du nie vorsichtig bist."

    „Ich weiß."

    Er seufzte. „Ich werde sehen, was ich finden kann. Aber versprich mir etwas."

    „Was?"

    „Wenn es zu gefährlich wird, hörst du auf."

    „Ich kann nicht aufhören."

    „Warum nicht?"

    „Weil Lindner tot ist. Und weil er mir etwas sagen wollte."

    „Vielleicht wollte er dir nichts sagen. Vielleicht wollte er nur, dass du kommst. Damit du auch stirbst."

    Anna schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat mir einen Hinweis hinterlassen. Das Dokument. Das Symbol. Das Foto. Er wollte, dass ich es finde."

    „Oder jemand anderes wollte, dass du es findest."

    Sie schwieg. Das hatte sie nicht bedacht.

    „Geh nach Hause, sagte Bálint. „Schlaf eine Nacht darüber. Morgen sehen wir klarer.

    „Gut."

    Sie stand auf. Er auch. Diesmal umarmten sie sich. Kurz. Fest.

    „Pass auf dich auf", flüsterte er.

    „Du auch."

    Annas Wohnung, 22:30 Uhr

    Sie konnte nicht schlafen. Sie lag im Bett, starrte an die Decke, dachte an das Symbol, an Lindners Gesicht, an die Worte: Umgeschrieben. Transit. Roter Bogen.

    Um Mitternacht stand sie auf. Sie ging zum Schreibtisch, öffnete ihren Laptop, suchte nach allem, was sie über „Transit" finden konnte.

    Dutzende von Treffern. Aber die meisten waren belanglos. Transit als Begriff für Durchreise. Transit als logistischer Begriff. Nichts Geheimes. Nichts Gefährliches.

    Bis sie einen alten Blog-Eintrag fand. Geschrieben 2011 von einem Historiker, der sich auf DDR-Geschichte spezialisiert hatte. Der Eintrag war kurz, fast eine Randnotiz.

    „Es gibt Hinweise auf eine geheime Operation zwischen MfS und sowjetischen Diensten. Codename unbekannt. Zweck unbekannt. Aber in einigen Akten taucht das Wort ‚Transit' auf – nicht als geografischer Begriff, sondern als Operation. Manche vermuten, es ging um Identitätswechsel. Andere glauben, es war eine Art Schutzprogramm für hochrangige Überläufer. Wieder andere sprechen von psychologischer Kriegsführung. Beweise? Keine. Nur Gerüchte. Nur Schatten."

    Anna kopierte den Text. Dann suchte sie nach dem Autor. Professor Erwin Schäfer. Pensioniert. Lebte in Berlin.

    Sie fand eine E-Mail-Adresse. Alt, aber vielleicht noch gültig.

    Sie schrieb ihm.

    „Sehr geehrter Herr Professor Schäfer, mein Name ist Anna Varga. Ich bin Journalistin und Autorin. Ich recherchiere über eine mögliche Operation namens ‚Transit Rot'. Ich habe Ihren Blog-Eintrag von 2011 gelesen und würde gerne mit Ihnen sprechen. Es ist dringend. Ein Mann ist gestorben, und ich glaube, es hat mit dieser Operation zu tun. Mit freundlichen Grüßen, Anna Varga."

    Sie schickte die E-Mail. Dann ging sie zurück ins Bett.

    Diesmal schlief sie. Aber sie träumte von Brücken. Von roten Bögen. Von Menschen, die über eine Brücke gingen und auf der anderen Seite jemand anderes waren.

    Budapest, zwei Tage später

    Die Antwort kam am Sonntagmorgen. Anna saß am Schreibtisch, trank Kaffee, als ihr Laptop piepte.

    „Frau Varga. Ich habe von Ihnen gehört. Ihr Buch über die Schwarze Donau hat Eindruck gemacht. Transit Rot ist eine gefährliche Spur. Ich weiß nicht viel, aber ich weiß genug, um zu sagen: Seien Sie vorsichtig. Wenn Sie nach Berlin kommen können, treffen wir uns. Aber nicht öffentlich. Ich schicke Ihnen eine Adresse. Kommen Sie allein. Sprechen Sie mit niemandem darüber. Nicht am Telefon. Nicht per E-Mail. – E.S."

    Eine Stunde später kam eine zweite E-Mail. Nur eine Adresse. Prenzlauer Berg, Berlin. Ein Datum. Dienstag, 15 Uhr.

    Anna buchte einen Flug. Dann rief sie ihren Vater an.

    „Papa. Ich muss für ein paar Tage weg. „Wohin? „Berlin."

    „Warum?"

    „Recherche."

    Eine Pause. Dann: „Sei vorsichtig."

    „Immer."

    „Nein, Anna. Nie."

    Sie lächelte. „Ich weiß."

    Nationalarchiv, Montag

    Bevor sie nach Berlin flog, ging Anna noch einmal ins Archiv. Dr. Molnár hatte sie zurückgerufen. Der Zugang war genehmigt. Eine Stunde. Drei Archivboxen.

    Anna saß im Leseraum – weiße Wände, Neonlicht, ein Tisch mit Laptop-Anschluss. Die Archivarin brachte die Boxen, stellte sie wortlos ab, verschwand wieder.

    Anna öffnete die erste Box.

    Dokumente. Hunderte davon. Reiseberichte, Korrespondenzen, Protokolle. Meistens belanglos. Aber Anna war geduldig. Sie hatte gelernt, dass die Wahrheit sich nicht in den großen Reden versteckte, sondern in den Randnotizen, den durchgestrichenen Sätzen, den Dokumenten, die fast weggeworfen worden wären.

    Sie las methodisch. Seite für Seite. Dokument für Dokument.

    Auf Seite 234 fand sie etwas.

    Ein Memo. Datiert auf den 12. März 1987. Absender: Unbekannt. Empfänger: Lindner, Georg.

    „Übergabe planmäßig abgeschlossen. Subjekt in westliche Zone überstellt. Keine Komplikationen. Dokumentation archiviert unter: RB-87-03. Markierung: Roter Bogen."

    Anna hielt den Atem an.

    Markierung: Roter Bogen.

    Das Symbol. Es war keine Erfindung. Es war ein Code. Ein Zeichen für etwas, das „überstellt wurde. Ein Mensch. Ein „Subjekt.

    Aber warum Roter Bogen? Warum eine Brücke?

    Sie fotografierte das Dokument mit ihrem Handy – schnell, verstohlen, obwohl es verboten war. Sie brauchte Beweise. Wenn das Archiv die Akten sperrte, wäre dieses Memo verschwunden.

    In der zweiten Box fand sie ein weiteres Memo. Datiert auf den 8. Oktober 1987.

    „Transit Rot, Phase 3. Subjekt erfolgreich umgeschrieben. Neue Identität etabliert unter Kennziffer: TR-87-10-B. Psychologisches Profil angepasst. Erinnerungsprotokoll abgeschlossen. Abschlussbericht folgt in versiegeltem Umschlag."

    Umgeschrieben.

    Das Wort wieder. Anna starrte darauf. Was bedeutete es, ein Subjekt „umzuschreiben? Eine neue Identität geben? Aber wie? Und warum „psychologisches Profil angepasst? Erinnerungsprotokoll?

    Sie machte sich Notizen, so schnell sie konnte. Namen. Daten. Begriffe. „Transit Rot. „Roter Bogen. „Umschreiben. „Erinnerungsprotokoll.

    Die dritte Box enthielt vor allem Verwaltungskram. Reisegenehmigungen. Budgets. Nichts Interessantes. Bis sie ganz unten ein einzelnes Blatt fand.

    Eine Liste. Ohne Überschrift. Nur Zahlen und Buchstaben.

    RB-87-03 RB-87-06 RB-87-10 RB-88-01 RB-88-04 RB-88-09 RB-89-02

    Anna zählte. Sieben Einträge. Sieben „Subjekte"? Sieben Menschen, die umgeschrieben worden waren?

    Sie fotografierte die Liste.

    Die Archivarin klopfte an die Tür. „Ihre Zeit ist um."

    Anna packte ihre Sachen. „Kann ich wiederkommen?"

    „Wenn Sie einen neuen Termin vereinbaren. Aber diese Akten sind jetzt für zwei Wochen gesperrt. Routineüberprüfung."

    „Routineüberprüfung? Anna spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. „Wer hat das angeordnet?

    „Das kann ich nicht sagen. Tut mir leid."

    Anna verließ das Archiv. Draußen blieb sie stehen, atmete die kalte Luft ein. Routineüberprüfung. Mitten in ihrer Recherche. Das war kein Zufall. Jemand wusste, dass sie hier war. Jemand wollte sie aufhalten.

    Sie sah sich um. Die Straße war leer. Nur ein paar parkende Autos. Ein Mann auf einer Bank, ein Buch lesend. Zu weit weg, um ihn zu erkennen.

    Anna ging zu ihrer Straßenbahnhaltestelle. Unterwegs sah sie sich mehrmals um. Niemand folgte ihr. Niemand sah sie an. Aber das Gefühl blieb. Die Ahnung, dass sie beobachtet wurde.

    Flughafen Budapest, Dienstagmorgen

    Anna flog früh. Der Flughafen war voll, aber nicht überfüllt. Geschäftsreisende mit Rollkoffern. Familien mit Kindern. Studenten mit Rucksäcken.

    Sie ging durch die Sicherheitskontrolle, kaufte einen Kaffee, setzte sich ans Gate. Sie hatte noch eine Stunde bis zum Boarding.

    Ihr Telefon summte. Eine Nachricht von Bálint.

    „Habe etwas gefunden. Ruf mich an, wenn du in Berlin angekommen bist. Und Anna – sei vorsichtig."

    Sie antwortete nicht. Sie würde ihn später anrufen.

    Das Boarding begann. Anna stieg ein, fand ihren Platz am Fenster, schnallte sich an. Das Flugzeug rollte zur Startbahn. Sie sah hinaus, auf die Stadt, auf die Donau, die sich wie ein schwarzes Band durch die Landschaft zog.

    Sie dachte an ihre Mutter. An Julia, die für die Wahrheit gestorben war. An ihren Vater, der für die Wahrheit gekämpft hatte. An sich selbst, die jetzt denselben Weg ging.

    War es das wert? War die Wahrheit wichtiger als das eigene Leben?

    Sie wusste die Antwort nicht. Aber sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Die Wahrheit war wie ein Virus. Einmal infiziert, konnte man nicht mehr aufhören zu suchen.

    Das Flugzeug hob ab.

    Berlin, Prenzlauer Berg, 14:30 Uhr

    Die Adresse führte zu einem alten Gebäude in einer ruhigen Seitenstraße. Grauer Putz, hohe Fenster, ein Hof im Hinterhof. Anna klingelte. Keine Antwort. Sie klingelte noch einmal.

    Dann öffnete sich die Tür einen Spalt. Ein Mann sah heraus. Ende siebzig, klein, gebeugt, mit weißem Bart und scharfen Augen hinter einer Brille.

    „Frau Varga?"

    „Ja."

    „Kommen Sie rein. Schnell."

    Sie trat ein. Er schloss die Tür hinter ihr, verriegelte sie. Dann führte er sie die Treppe hinauf, in den dritten Stock, in eine kleine Wohnung.

    Die Wohnung roch nach alten Büchern und Kaffee. Die Wände waren vollgestellt mit Regalen. Bücher, Akten, Zeitungen. Ein Leben der Forschung. Ein Leben der Suche.

    „Setzen Sie sich", sagte Professor Schäfer. Er deutete auf einen Stuhl am Fenster.

    Anna setzte sich. Er ging in die Küche, kam mit zwei Tassen Tee zurück. Er reichte ihr eine, setzte sich ihr gegenüber.

    „Sie wollen über Transit Rot sprechen", sagte er.

    „Ja."

    „Warum?"

    „Weil ein Mann gestorben ist. Georg Lindner. Ehemaliger DDR-Konsularbeamter. Er hat mich kontaktiert. Er wollte mir etwas sagen. Aber er ist gestorben, bevor ich mit ihm sprechen konnte."

    „Wie ist er gestorben?"

    „Die Polizei sagt, Herzversagen. Aber ich glaube nicht daran."

    „Warum nicht?"

    „Weil er mir einen Hinweis hinterlassen hat. Ein Dokument. Mit einem Symbol. Einem roten Brückenbogen."

    Schäfer stellte seine Tasse ab. Sein Gesicht war ernst. „Das rote Symbol. Sie haben es gesehen?"

    „Ja."

    „Dann wissen Sie jetzt, dass Transit Rot real war."

    „War?"

    „Ist. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber es war real. In den Achtzigern. Und vielleicht auch danach."

    „Was war es?"

    Schäfer stand auf, ging zu einem Regal, zog eine alte Akte heraus. Er legte sie auf den Tisch zwischen ihnen.

    „Transit Rot war keine offizielle Operation. Es gab keine Akten, keine Berichte, keine Namen. Aber es gab Spuren. Hinweise. Dinge, die nicht passten."

    „Was für Dinge?"

    „Menschen, die verschwanden. Nicht wie Überläufer. Nicht wie Opfer. Sie verschwanden einfach. Ihre Wohnungen waren leer. Ihre Konten geschlossen. Ihre Papiere verschwunden. Und manchmal – nur manchmal – tauchten sie wieder auf. Aber anders. Mit neuen Namen. Neuen Geschichten. Neuen Leben."

    „Wie ist das möglich?"

    „Psychologische Manipulation. Dokumentenfälschung. Identitätskonstruktion. Es ist nicht einfach. Aber es ist möglich. Wenn man genug Zeit hat. Und genug Macht."

    Anna lehnte sich zurück. „Wer hat es organisiert?"

    „Das MfS. In Zusammenarbeit mit den Ungarn. Und vielleicht mit den Sowjets. Aber das ist nur eine Vermutung."

    „Warum?"

    „Verschiedene Gründe. Manchmal war es Schutz. Jemand war in Gefahr, musste verschwinden, brauchte eine neue Identität. Manchmal war es Infiltration. Jemand sollte in den Westen geschleust werden, mit einer wasserdichten Legende. Und manchmal..." Er zögerte.

    „Was?"

    „Manchmal war es Bestrafung. Oder Kontrolle. Jemand wusste zu viel. War zu gefährlich. Konnte nicht getötet werden, weil das Aufmerksamkeit erregt hätte. Also wurde die Person umgeschrieben. Ausgelöscht. Nicht physisch. Aber psychologisch."

    Anna spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. „Das ist... menschenunwürdig."

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