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Dazwischengehen!: Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik
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eBook241 Seiten2 Stunden

Dazwischengehen!: Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik

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Über dieses E-Book

Wie wollen wir zukünftig leben und arbeiten? Welche Voraussetzungen braucht die Gestaltung sozialer Strukturen jenseits ökonomischer Verwertbarkeit? Orte der Kunst und der Bildung ermöglichen die modellhafte Erforschung und Erprobung von Verfahren, Strukturen und Institutionen und sind damit Impulsgeber für unser Zusammenleben. Sie tragen einen wichtigen Teil dazu bei, um unsere Demokratie in ihrer Komplexität zu erhalten und fortzudenken. Expertinnen und Experten aus verschiedenen sozialen Feldern untersuchen von der Norm abweichende Praxisformen, verorten sie historisch und denken soziale Gegenwart aus einer möglichen Zukunft heraus.

Mit Beiträgen u. a. von Armen Avanessian, Augusto Corrieri, Simone Hain, Isabell Lorey und Joshua Wicke.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. Juli 2023
ISBN9783957494740
Dazwischengehen!: Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik

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    Buchvorschau

    Dazwischengehen! - Regina Guhl

    Einleitung

    In einer demokratischen Gesellschaft ist die Kunst in all ihren Spielarten und Ausformungen ein zentraler Ort für Dialog und Kritik, für Begegnung, Erfindung und Verwandlung, für Erkenntnis und das Entwickeln von Fragen, für die Erforschung und Neuentdeckung von scheinbar Bekanntem. All dies findet täglich statt in der Arbeit von Künstler*innen, in den unterschiedlichen Medien der Kunst und in vielen der ihr gewidmeten Institutionen.

    Angesichts aktueller Krisen ist die Diskussion um die Relevanz der Kunst und der Praxis von Kunstschaffenden neu entfacht. Die vorliegende Publikation hat es sich zur Aufgabe gemacht, deren besonderen Stellenwert anhand vielfältiger Beispiele und Argumentationslinien herauszuarbeiten. Denn Kunst stellt neben anderen Feldern wie Politik oder Ökonomie einen ganz eigenen Praxisraum der sozialen Welt dar, der das Potential hat, unserem Sein und Handeln Sinn und Bedeutung zu verleihen und Wege des sozialen Miteinanders zu erkunden.¹ Über das Faktische hinaus schafft Kunst eine sinnhafte Organisation von Wirklichkeit, in deren Zusammenhang soziale Gebilde und demokratisch orientiertes Verhalten erst möglich werden. Das Praktizieren von Kunst in einer funktionierenden Demokratie geht über die Reflexion gesellschaftlicher Prozesse weit hinaus, was ihr gerade heute, da die Demokratie selbst beständigen Herausforderungen ausgesetzt ist, eine besondere Relevanz verleiht.

    Tragischerweise und in pervertierter Form lässt sich die Bedeutung von Kunst dieser Tage wieder an den offenbar gezielten Zerstörungen und Plünderungen von Theatern und Museen in der Ukraine durch russisches Militär ablesen. Im Ausmaß der Erschütterung selbstverständlich nicht mit den Schäden durch Krieg zu vergleichen, haben die Künste auch in der Coronakrise massive Einschränkungen und dauerhaft wirksame Verluste hinnehmen müssen – trotz aller Beteuerungen ihrer Relevanz und trotz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen. Doch die an Institutionen gebundene und durch sie legitimierte Kunst ist nur ein Teil der künstlerischen Praxen. Kunst und Kultur sterben nicht im Krieg und nicht in der Pandemie, auch wenn ihre Institutionen zerstört oder heruntergespart werden. Sie orientieren sich um und finden, oftmals unter überaus schwierigen Bedingungen, neue Wege der Wirksamkeit.

    Angesichts verschiedenartiger Bedrohung, aber auch, um das Potential der Künste im Allgemeinen wie im Detail ermessen zu können, müssen wir als demokratisch verfasste Gesellschaft den spezifischen Beitrag von Kunstschaffenden ernst nehmen und mit allem, was wir haben, sichtbar machen, um so seine Wirksamkeit zu erhöhen. Dieses Buch will hierzu beitragen, indem es die Bedeutung künstlerischer Prozesse an verschiedenen Beispielen ausbuchstabiert. Die Anlage ist eine multiperspektivische. Sie stellt Biografielinien und ungewöhnliche Solidargemeinschaften ebenso vor wie alternative Organisationsformen in Kunst, Bildung, Wissenschaft und Gesellschaft.

    Im ersten Teil mit dem Titel Ortswechsel werden Handlungsräume und Institutionen in den Blick genommen, wo Perspektivwechsel und Umnutzungen erprobt wurden. So beschreibt es Martin Schick in seinem Text Rausgehen ist Einsteigen (S. 21) als grundlegendes Prinzip seiner Arbeit, immer wieder neue Kontexte aufzusuchen oder sie gar selbst aufzubauen. Ursprünglich aus dem Schauspiel kommend, begleitet er heute institutionelle Transformationsprojekte als performative Praxis. Er hat somit die Rolle des Künstlers auf Kunst und Kultur schaffende Strukturen ausgeweitet und erläutert, wie er Umstände zum Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Arbeiten macht.

    Doreen Yuguchis berufliche Praxis ist ebenfalls von einem mehrfachen Wechsel der Rahmenbedingungen gekennzeichnet. In ihrem Text In unmittelbaren Kontakt treten – Interaktionen am Lebensrand (S. 26) schildert sie den Transfer von der bildenden Kunst mit Schwerpunkt Performance hin zu einer neuen, therapeutisch ausgerichteten Ausbildung und Arbeit. Zwischenstationen auf dem Weg waren künstlerische Arbeiten im Gefängnis- und im Hospizkontext. Im Zentrum des Beitrags steht die Frage nach Bezügen zwischen diesen sehr unterschiedlichen Arbeitsfeldern.

    Berthold Schneider berichtet in Wechsel/Wirkung (S. 33) davon, wie er als Intendant der Oper Wuppertal sein Chefbüro mit Uwe Schneidewind, dem Präsidenten des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, tauschte – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Als routinierte Leitungsmenschen suchten beide einen Perspektivwechsel auf ihre eigene Arbeitspraxis und setzten sich den täglichen Abläufen der jeweils anderen Institution aus.

    In Something might escape the plan. A dialogue on post-theatre and background dramaturgies (S. 37) reflektieren der Dramaturg Joshua Wicke und der Künstler, Forscher und Schriftsteller Augusto Corrieri die Leere des entleerten Theaterraumes, den Zustand des Aussetzens und der Nicht-Aktivität. Für ihr gemeinsames Nachdenken wählten sie die klassische Form des Briefwechsels.

    Im dritten Teil des Buches folgen die Herausgeber*innen unter dem Stichwort Praxisformen den Biografien von Menschen, die, ausgehend von ihrem künstlerisch geprägten Denken und Handeln, Wege und Methoden gesellschaftlich wirksamer Intervention gefunden haben. Den Auftakt bildet der Text Die Neuen Auftraggeber (S. 109) von Lena Ziese. Das Konzept der Neuen Auftraggeber wurde von dem Belgier François Hers 1990 entwickelt und ist in Frankreich und Belgien fest etablierter Bestandteil staatlicher Kunstförderung. Bürger*innen vergeben an Künstler*innen Aufträge, die mit ihrem konkreten Lebensumfeld zu tun haben und auf dort drängende Fragen Antworten geben können. Seit 2017 beteiligt sich Deutschland mit Pilotprojekten an dem inzwischen internationalen Netzwerk. Lena Ziese beleuchtet den Beginn des Projektes in Brandenburg, wo sie ihre vielfältigen Erfahrungen als Künstlerin, Kuratorin und Lehrende für Freie Kunst und Kunstpädagogik eingebracht hat.

    Der Künstler Philipp Furtenbach spricht Über eine andere Art des gemeinsamen Aufenthalts (S. 117). Die Interventionen des Kollektivs AO& sind darauf ausgelegt, an abseitigen Orten besondere Situationen der Begegnung zu schaffen. Furtenbach erzählt von Arbeiten, die in bestimmten Landschaften, in Bergdörfern, in Restaurants und in Hotels neue Methoden der Kommunikation testen. Sie zielen insbesondere darauf ab, bestehende Konventionen in sozialer Praxis und Kunst aufzubrechen.

    Gabriele Stötzer berichtet von ihrem Weg in der DDR, auf dem sie als Anhängerin des Sozialismus zur Systemkritikerin wurde. Nicht genehmigte künstlerische Aktionen führten zu ihrer Inhaftierung und beendeten zwangsweise ihr Kunstpädagogikstudium. Sie arbeitete fortan im Untergrund als Performancekünstlerin. Mit Aktivismus vertraut, stellte sie sich 1989 gemeinsam mit anderen Frauen der Staatssicherheit entgegen, um Akten von Dissident*innen vor der Vernichtung zu bewahren. Der vorliegende Text Einen ungeraden Weg finden (S. 126) basiert auf einem Gespräch mit der Künstlerin.

    Der Regisseur, Autor und Filmemacher Thomas Heise äußert sich über seine Arbeit als Dokumentarfilmer. Er beschreibt die besondere Form der Annäherung an seine Protagonist*innen, die er in ihrem jeweiligen Umfeld aufsucht: in einer Dorfkneipe, einem Jugendzentrum, welches zum Treffpunkt von Neonazis wurde, oder in einem Gefängnis. Unter dem Titel Alle Brücken abbrechen – in die Dorfkneipe gehen – Bier trinken – abwarten (S. 137) beschreibt Heise sein Arbeitsprinzip. Er bleibt am jeweiligen Ort so lange, bis sich eine Annäherung ergibt. Die Besonderheit seiner Arbeit besteht in der Unvoreingenommenheit, mit der er seinen Protagonist*innen begegnet.

    Der Teil Praxisformen findet seinen Abschluss mit dem Text von Uwe Lübbermann. Unter dem Titel Das Premium-Getränkekollektiv. Ein Ergebnis, das viel klüger ist, als du es alleine jemals hättest hinkriegen können (S. 146) beschreibt er die Entwicklung eines von ihm gegründeten konsensdemokratischen Getränkeunternehmens, in dem er als zentraler Moderator mitwirkt. Er legt besonderen Fokus auf die Chancen und Herausforderungen, die mit Entscheidungsprozessen einhergehen, und erläutert, wie gesellschaftliche Krisen wie eine Pandemie auf solche alternativen Wirtschaftsmodelle wirken.

    Zwischen dem ersten und dem dritten Teil findet der wissenschaftliche Blick seinen Platz, der nach Relevanz und Tragfähigkeit neuer Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik fragt. In diesem Teil unter der Überschrift Zeitsprünge erfolgt auch die historische Reflexion von Praxisformen, die sich durch ihr unbedingtes Beharren auf der Kraft demokratischer Verhandlungsformen auszeichneten und in ihrer künstlerischen Ausprägung Experiment und Modell gleichermaßen werden konnten. So bezieht sich die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey auf Das Kommune in der präsentischen Demokratie (S. 53). Lorey spürt deren Ursprüngen in der Pariser Kommune von 1871 nach und bezieht sich zudem auf die munizipalistischen Praxen in Spanien, die im Kontext der Besetzungs- und Demokratiebewegungen von 2011 entstanden sind. In der Befragung radikal inklusiver sozialer Praxen, etwa des Festes und der Gastfreundschaft sowie vielfältiger Formen horizontaler Versammlung, formuliert sie eine queer-feministische Kritik an einer möglichen Vereinnahmung.

    Armen Avanessian begründet in seinem Text Politische Zukunftsschule (S. 70) die Notwendigkeit einer Schule als Ort der Begegnung mit der Zukunft, nicht nur für die heranwachsende Generation. Dafür darf das gesellschaftliche Wissen über die Zukunft, welches auf Basis technischer Entwicklungen und durch sie generierter Algorithmen vorhanden ist, nicht monopolistisch aufgestellten Unternehmen überlassen werden. In einer demokratischen Gesellschaft kann die Schule nach Avanessian zu einem Ort werden, an dem sich alle Generationen, aus der Zukunft lernend, auf diese vorbereiten.

    Claudia Hummels Interesse gilt der Kunst im Kontext von Schule. In ihrem Text Von marxistisch informierter Spielzeugkritik zur Katastrophenwerkstatt (S. 75) rekapituliert sie künstlerische Handlungsräume während der »pädagogischen Euphorie ab den 1970er Jahren«. Sie antwortet mit den von ihr selbst initiierten Reenactments künstlerisch-partizipatorischer Projekte auf den Vorschlag des Philosophen Armen Avanessian, Schule und Bildung aus der Zukunft heraus zu denken.

    Als Architekturhistorikerin arbeitet Simone Hain seit 30 Jahren an der Vergegenwärtigung von Vergangenheiten, dabei oftmals an Gegenständen, die in Verruf geraten sind. Die Zukunftskonzepte der Vergangenheit, hier das des Bauhauses für Die neue künstlerische Hochschule (S. 83), versteht sie als Energiequelle, stille Reserve und erneuerbare Ressource für die Gegenwart. Statt die Vergangenheit zu kritisieren, legt sie den Fokus auf die Fragen: Was ist uneingelöst? Worin waren die Konzepte unserer Zeit voraus? Warum hat sich etwas nicht durchsetzen können? Und welches Uneingelöste muss man neu auf die Agenda setzen?

    Der Philosoph Jochen Gimmel ist Mußeforscher. In seinem Text Feindliche Übernahme – durch sich selbst? Entgrenzung der Arbeit – Utopie der Selbstverwirklichung (S. 92) entwickelt er eine radikale Arbeitskritik und setzt das Tätigsein ins Verhältnis zu Spiel und Erotik. Hierfür durchleuchtet er die Arbeitsbegriffe von Karl Marx, Hannah Arendt, Charles Fourier und Herbert Marcuse.

    Die sehr unterschiedlichen Beiträge des Buches, die jeweils einen eigenen Gedankenkosmos und Handlungsraum eröffnen und entsprechend für sich stehen können, eint der kritische Blick auf strukturelle Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch und die Leugnung politischer wie gesellschaftlicher Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten. In ihrem Verständnis von sozialer Wirklichkeit richten sich sämtliche Texte gegen die von Margaret Thatcher ausgerufene neoliberale Formel: »There is no such thing as society, only individual men and women and their families.«² Das Buch stellt nicht nur theoretisch ein solcherart verkürztes Gesellschaftsbild in Frage, welches vorgibt, individuelle Freiheit zu ermöglichen, in Wahrheit aber die Subjekte größtmöglicher ökonomischer Ausbeutung aussetzt, sondern es zeigt zugleich existierende Praxisformen auf, die, zum Teil spielerisch, zum Teil unter enormem persönlichen Einsatz wie auch Risiko soziale Verhältnisse jenseits von Entsolidarisierung, Ignoranz oder Unterdrückung produzieren. Je nachdem, ob die Autor*innen eher theoretische oder historische Kontexte aufsuchen oder ihre künstlerische oder anderweitige Praxis vorstellen, unterscheiden sich die Beiträge in ihrer Textform und in ihrem Sprachgestus.

    Bezüglich der Wirksamkeit subjektiver oder auch kollektiv eingebundener Praxisformen folgen die Herausgeber*innen dem Verständnis der Praxistheorie, welche das subjektive Veränderungspotential in einen unauflöslichen Zusammenhang mit der jeweiligen historischgesellschaftlichen Situation stellt. Die Praxistheorie geht weder von einem Determinismus subjektiv möglicher Praxisformen durch gesellschaftlich-ökonomische Verhältnisse aus, noch interpretiert sie das Soziale als Produkt individueller Handlungsakte. Vielmehr kreuzen sich im Subjekt verschiedene soziale Felder, etwa das der Familie, das der Ökonomie, das der Kunst und so weiter. Das Subjekt stellt somit einen Knotenpunkt zwischen verschiedenen sozialen Feldern dar, die sich in den jeweils dominanten Praxisformen erheblich unterscheiden. Aus der Verknüpfung von Praxisformen im Subjekt ergibt sich die Möglichkeit von Feldüberschreitungen und damit das Potential für Abweichung und Veränderung.

    Das Veränderungspotential liegt aber auch in der Struktur sozialer Praxis selbst begründet, indem diese zwischen Routine und Tradition einerseits sowie Unterbrechung und einer gewissen Unbestimmtheit andererseits changiert. Damit »bewegt sich die Praxis zwischen einer relativen ›Geschlossenheit‹ der Wiederholung und einer relativen ›Offenheit‹ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs«³.

    Den in der Struktur sozialer Praxis wie auch im Subjekt als Bündel unterschiedlicher, feldüberschreitender Praxisformen liegenden Veränderungspotentialen sozialer Wirklichkeit geht diese Publikation in all ihren Bestandteilen nach. Der detaillierte Blick auf diese Praxisformen führt uns die Entwicklung von Haltungen, Förderwerkzeugen, Spielregeln, Werten, neuen Arbeitsbegriffen und ein sich wandelndes Selbstverständnis von Kunst, Pädagogik, Politik und Zivilgesellschaft vor Augen. Im Weiterdenken lassen sich Antworten auf folgende Fragen finden:

    In welcher Form wollen wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben und arbeiten?

    Worin bestehen die Arbeitsprinzipien, die Ethik, die Umgangsformen der Zukunft?

    Welche Relevanz wird der Kunst in ihren unterschiedlichen Spielarten und den Kunstschaffenden noch/nun beigemessen?

    Welche Rahmungen werden für ihre Arbeit entwickelt, welche Zusammenarbeiten auch über Feldgrenzen hinweg ermöglicht?

    Welche Institutionen braucht es in der Zukunft, und wie setzen diese sich zusammen?

    Welche Regeln geben wir uns selbst, und wie setzen wir sie um und durch?

    In diesem Sinne ist das Buch auch eine Einladung dazu, aus der Zukunft heraus zu denken, wie der Philosoph Armen Avanessian ausführt, und sich der »grundsätzlichen demokratiepolitischen Herausforderung einer Toleranz«⁴ zu stellen, »gegenüber nicht nur der eigenen, sondern der Zukunft anderer und zukünftiger Generationen«⁵.

    Die Herausgeber*innen

    1Vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne , 2. Aufl., Stuttgart 2012, S. 51 ff.

    2Thatcher, Margaret: »Interview for Woman’s Own « (»No Such Thing as Society«), in: Margaret Thatcher Foundation (Hrsg.): Speeches, Interviews and Other Statements , London 1987.

    3Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praxis«, in: Zeitschrift für Soziologie , Jg. 32, H. 4 (2003), S. 294.

    4Siehe Avanessian, Armen: Politische Zukunftsschule , S. 70 in diesem Buch.

    5Ebd.

    Ortswechsel

    Martin Schick

    Rausgehen ist Einsteigen

    Von mir selbst sage ich, dass ich eigentlich kein Künstler bin, sondern Kunstarbeiter. Meine Arbeit besteht darin, mich für eine Situation oder ein Thema weitgehend zur Verfügung zu stellen, mich kritisch in die Situation einzubringen, meine Position quasi aufs Spiel zu setzen, je nachdem, wie es der Kontext fordert; eher im Sinne einer Dienstleistung oder eines Aktivismus als aus einem inneren künstlerischen Verlangen heraus. So sind es oft tatsächlich die Umstände, welche meine Arbeiten gestalten.¹

    Kunst im Spannungsfeld zwischen Dienstleistung und Aktivismus wird zum Instrument mit der Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Deshalb scheint es mir wichtig, dass die Impulse proaktiv von der Kunst ausgehen; die Künstler*innen also hinausgehen in andere gesellschaftliche Bereiche. Aber inwiefern sind wir überhaupt bereit, tatsächlich auszusteigen, rauszugehen, uns hinauszulehnen, wenn es eigentlich gerade ganz o.k. läuft in der Kunstszene? Wie groß ist unsere Bereitschaft, aus dem warmen Bad auszusteigen, das wir uns – weitgehend auf Kosten anderer – eingelassen haben? Wenn etwas im Kunstkontext gut funktioniert, ist das ein Grund, weiterzumachen? Oder ist es erst recht ein Grund, auszusteigen? Soll Kunst funktionieren? Oder gibt es Dinge, die konsequent gegen die Wand gefahren werden müssen, um überhaupt neu gedacht und aufgebaut werden zu können?

    Die Materie erklärt sich, wenn im Foyer der Prosecco fließt

    Im internationalen Kontext stellt die Schweiz in Sachen Förderung sicher ein Idealbild dar, birgt aber auch Gefahren, Kritik und eventuell viel schlechtes Gewissen. Ein solches Luxusproblem will ich kurz erläutern. Nachdem ich im Theater eine kapitalismuskritische Arbeit realisiert hatte, kam eine Anfrage, ob ich eine dreijährige Partnerschaft mit der Fondation Nestlé eingehen möchte: 9.000 Euro pro Jahr wurden angeboten, um mich vom Produktionsdruck zu befreien. Ich wollte das aufgrund der problematischen Herkunft der Finanzen ablehnen. Nachdem ich jedoch in meinen Künstlerkreisen um Rat gefragt hatte, war mir klar: besser kritisch dieses Feld betreten als es einer unkritischen Person überlassen. Die Konsequenz war eine Performance mit dem Titel Halfbreadtechnique, die sich mit diesem Konflikt auseinandersetzt und dieses

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