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Das Ende der Zukunft
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eBook634 Seiten7 Stunden

Das Ende der Zukunft

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Über dieses E-Book

In Europa sterben schlagartig und ohne Vorwarnung immer mehr Nahrungspflanzen auf den Feldern ab. Profis der EU und der Schweizer Behörden ermitteln an rasant wechselnden Schauplätzen und entdecken skrupllose Machenschaften. Jemand hat mit den Risiken der Gentechnik gespielt. Handelt es sich bei dem plötzlichen Pflanzentod in Europa um die Folge eines Verbrechens oder einer neuen Waffe? Wer sind die Täter und was ist das Motiv? Bald stellt sich heraus, dass sich ein Verfahren zur gentechnischen Veränderung von Saatgut schon seit Jahren in den Händen der Chinesen befindet. Angeführt von General Fong Yu vefolgen sie einen teuflischen Plan, der außer Kontrolle gerät. Die globalen Folgen sind fatal. Gelingt es, das Tschernobyl der Gentechnik aufzuhalten? Als schon bald nicht nur Pflanzen, sondern auch Insekten sterben, die von den genmanipulierten Pflanzen naschten, beginnt für Marcel Krüger, Ermittler des European Investigation Office (EIO), und seine Freundin Hanna Losch, die als Journalistin die Öffentlichkeit wachrütteln will, ein atemloser Wettlauf gegen die Zeit...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum13. Juni 2016
ISBN9783741822193
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    Buchvorschau

    Das Ende der Zukunft - Hans Jürgen Tscheulin

    1.      Beijing (China) April 2012

    Das schmucklose und betagte Hochhaus des im Nordwesten Beijings gelegenen Chaoyang Distrikts gehörte zum Komplex des Landwirtschaftsministeriums. In einem fensterlosen Raum in der sechzehnten Etage tagten Hoa Yuan, Lij Ying und General Fong Yu.

    Hoa Yuan, der Älteste, war Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium. Der Minister hatte den anerkannten und eloquenten Experten für Reiszüchtung vor drei Jahren in seine unmittelbare Nähe geholt.

    Lij Ying, der die anderen selbst im Sitzen überragte, nahm als Beauftragter des Zentralkomitees teil, wo alle Sonderprojekte in seine Zuständigkeit fielen.

    General Fong Yu saß lässig zurückgelehnt in seinem Stuhl, dennoch war er außerordentlich konzentriert. Er sprach fließend Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch und leitete den Bereich der Industriebeobachtung und -aufklärung beim Ministerium für Staatsschutz. Da das Ministerium nach militärischen Gesichtspunkten organisiert war, bekleideten alle Beschäftigten militärische Ränge. Menschen, die nichts davon verstanden, verwechselten seine Arbeit leichtfertig mit Industriespionage. Da ihn seine Tätigkeit anfänglich nicht sonderlich herausforderte, begann er, sich nebenher intensiv mit dem eigenen Regierungsapparat vertraut zu machen und dabei ein informelles Netz aufzubauen. Seine Beharrlichkeit und Loyalität wurden schließlich mit der Bereichsleitung belohnt.

    Als Ältester genoss Hoa das unausgesprochene Privileg, die Sitzung zu eröffnen und zu leiten.

    „Lassen Sie uns zum eigentlichen Punkt unseres heutigen Treffens kommen", schloss Hoa gerade seine Vorrede ab, als Lij ungeduldig seine Stimme erhob.

    „Was meinten Sie eben mit Verstärkung der Überwachung in der Schweiz?"

    „Die Observierung von SEEDAGRO in Mexiko reicht nicht, wir müssen uns vor allem um das Hauptquartier in Lausanne kümmern. Das muss mit unserer Botschaft in der Schweiz und dem Staatsschutz vorbereitet und durchgeführt werden. Sie sorgen bitte dafür, dass unsere Führung darüber Bescheid weiß, sagte Hoa sachlich. „Die Arbeit vor Ort übernehmen wir.

    „Aber warum ist die ganze Entwicklung für uns so wichtig?, hakte Lij nach. „Tausende und Abertausende von Forschern beschäftigen sich mit diesen Themen. Sind die alle dumm? Besitzen wir im Bereich der Pflanzengenetik nicht schon längst einen immensen Vorsprung vor dem Westen?

    „Mein lieber Freund, antwortete Hoa gönnerhaft, „Sie kennen doch unsere Drei-Säulen-Strategie im Bereich der Pflanzengenetik. Erstens: Wir schaffen alle Voraussetzungen, um in der Forschung ganz vorne mitzuspielen. Zweitens: Wir verfolgen intensiv die weltweiten Aktivitäten und Forschungsergebnisse der führenden Institute und Firmen. Darin ist unser lieber Freund Fong, bekanntlich sehr erfolgreich. Drittens: Wir wollen weltweit die Vorherrschaft im Bereich der Pflanzengenetik erreichen. In zehn Jahren sollen von zehn Prozent aller weltweit vervielfältigten und angebauten Pflanzen die fälligen Lizenzgebühren in unsere Kassen fließen. Das ist nach chinesischen Maßstäben eine unglaublich kurze Zeitspanne. Deshalb ergreifen wir jede sich bietende Chance, um zusätzliches Know-how zu gewinnen und langwierige Forschungen abzukürzen. Ich weiß, wovon ich rede. Die Züchtung einer einzigen ertragreicheren Reissorte nimmt zehn bis fünfzehn Jahre in Anspruch. Und das müssen Sie mit Hunderten von Sorten parallel machen und hoffen, dass eine dabei ist, die wirklich alle Anforderungen bis zum Schluss erfüllt.

    „Ich kenne die Strategie, verehrter Hoa. Ich habe mich unklar ausgedrückt, eigentlich zielt meine Frage darauf ab, ob es sich bei der Maisforschung, die SEEDAGRO in Mexiko illegal durch Terry Hennings betreibt, um einen gefährlichen Irrweg mit unkalkulierbaren Folgen handeln könnte?"

    „Irrweg hin oder her, antwortete Fong, „wir müssen auch Irrwege sicher beherrschen. Wir können Folgen sehr gut abschätzen. Allerdings sind wir weniger ängstlich als der Westen und gehen Risiken ein, die der Westen aufgrund seines Wertekanons niemals eingehen würde, weil jeder Fortschritt, der das Leben auch nur im Entferntesten um eine Sekunde verkürzen könnte, sofort in Frage gestellt wird. Westliche Gesellschaften sind verweichlicht und werden zunehmend von irrationalen Ängsten beherrscht. Deswegen werden sie irgendwann ihre beherrschende Rolle einbüßen. Dann muss China bereit sein in die Fußstapfen zu treten!

    „General, wenn ich es richtig verstanden habe, heißt das aber: Wir wissen noch nicht, ob diese Technologie gefährlich ist oder nicht."

    „Ein Sprichwort sagt: Wer nicht lernt, ist dunkel wie einer, der durch die Nacht läuft. Wir werden nicht durch die Nacht laufen, wir werden von den Fehlern der anderen lernen. Und wenn die andern noch schlafen, werden wir schon wach sein. Wenn der Westen die Technologien fallen lassen sollte, weil sie gefährlich sind, so werden wir die Gefahr zum Bogen für den Pfeil gegen den Westen machen", orakelte Fong.

    „Als Waffen? Wie soll ich das verstehen?", wollte Lij wissen.

    Fong lächelte unerforschlich wie ein Mandarin.

    „Manchmal ist man gezwungen, einer Entwicklung auf die Sprünge zu helfen. Wir vom Staatsschutz machen keine Politik, mein Lieber, aber ihr beim ZK habt manchmal Wünsche und Vorstellungen, die sich nicht ohne sanften Druck realisieren lassen. Also bitte sparen Sie sich die gespielte Verwunderung."

    „General, als ob ich nicht selber wüsste, wie China Spitzenpositionen erobert! Ich will diese Besprechung deshalb nicht ohne zwei klare Statements seitens des ZK verlassen", antwortete Lij leicht gereizt.

    Fong verschränkte die Arme und warf ihm einen gnädigen Blick zu. Lij wusste, wenn Fong die Arme verschränkte, war das, als ob man dem Rechner den Befehl gab, ein nichtssagendes Statement auszudrucken.

    „Erstens: Das Zentralkomitee wird alles daransetzen, um in den Besitz der von SEEDAGRO entwickelten Technologie zur Pflanzengenetik zu kommen. Zweitens: Verwechseln Sie nie Ursache und Wirkung. Das Zentralkomitee bündelt den politischen Willen unseres Volkes, und Sie führen ihn durch."

    Daraufhin beschloss Hoa das Meeting, dankte allen Beteiligten und bat Lij um die Überstellung des geheimen Durchführungsbeschlusses. Alle verneigten sich voreinander und Hoa blieb die Genugtuung, als Erster den Raum verlassen zu dürfen.

    2.      Oaxaca (Mexiko), Mai2103

    Alfonso Perreira lud im Morgengrauen die Hacken und Schaufeln mitsamt einem Leinensack gestrigen Brotes und drei Plastikflaschen Wasser auf den Hänger, und warf den Traktor an, ein übrig gebliebenes Erbstück deutscher Entwicklungshilfe der Marke Fahr. Wie jeden Tag seit über zwanzig Jahren sprang er auf wundersame Weise an. Damals hatten sich deutsche Entwicklungshelfer in Heerscharen um die Kooperative gekümmert und sie mit moderner Technik aufgerüstet. Immerhin waren dabei ein Mähdrescher, ein Vorratsgebäude, ein Tiefbrunnen, eine Saatgutbeizanlage und sogar ein kleines Kooperativenzentrum herausgesprungen, das heute noch den gesellschaftlichen Mittelpunkt der Bauern in der Kooperative bildete. Hier brannten sie heimlich ihren Schnaps und beendeten ihr Tagwerk, bis sie oft spätabends von ihren schimpfenden Frauen unter wüsten Drohungen nach Hause verfrachtet wurden.

    Perreira hatte sieben Kinder. Die beiden ältesten Söhne arbeiteten illegal bei den Gringos. Die älteste Tochter hatte vor kurzem einen Beamten des Innenministeriums geheiratet. Die anderen vier Kinder gingen noch zur Schule und halfen auf dem Hof.

    Er fuhr an den weiß gekalkten Häusern des Dorfes vorbei, drei wartende Bauern warfen ihre Schaufeln auf den Hänger und sprangen wortkarg auf. Es war kühl, sie gaben sich den schaukelnden Bewegungen hin, die der holprige Feldweg verursachte, und vergruben sich vor der Staubwolke unter ihren Ponchos. In diesem Jahr konnte sich die Kooperative keine Unkrautvertilgung mehr leisten und so mussten sie täglich selbst die ausgekeimten Maispflanzen vom Unkraut befreien.

    Die Bauern auf dem Hänger riefen laut zu Perreira.

    „Stopp, Alfonso. Fahr doch rechts rüber. Schaut euch das Feld da drüben an, das wir gestern gesäubert haben."

    Alfonso stoppte. Sie sprangen vom Hänger und rannten zum Feld. Als sie davorstanden, waren sie sprachlos. Die etwa zwanzig Zentimeter hohen Maispflanzen waren beinahe restlos umgefallen. Die wenigen aufrechten Pflanzen sahen krank aus, und es gab keinen Zweifel, dass sie in Kürze das Schicksal ihrer Artgenossen teilen würden.

    „Da hat uns jemand übel mitgespielt", sagte Roberto.

    „Du spinnst, sagte Perreira, „hier wohnen überall genauso arme Schlucker wie wir.

    „Aber dann erkläre mir gefälligst diese Sauerei", meuterte Roberto.

    „Ich habe auch keine Erklärung, raunzte Perreira, „vielleicht ist es irgendein neuer Schädling. Lass uns Paolo rufen, der soll Bodenproben nehmen und die Pflanzen untersuchen, dazu ist er verpflichtet.

    „Ach was, der liegt wieder besoffen im Bett und kriegt vor Mittag kein Bein auf die Erde!, rief Roberto wütend. „Wenn wir uns nicht selbst helfen, hilft uns keiner.

    „Dann machen wir eben seinen Job und bringen ihm die Sachen hin, rief Perreira. „Der Gauner ist uns noch einiges schuldig, der hat mit Sicherheit wieder am Saatgutverkauf mitverdient.

    Sie gruben die abgestorbenen Pflanzen mitsamt den Wurzelballen aus und legten alles auf den Hänger. Anschließend fuhren sie ins Dorf zurück, wo Perreira vom Telefon des Dorfladens Paolo, den Landinspektor, anrief. Paolo klang wider Erwarten munter und versprach, sofort herzukommen.

    Die Nachricht vom erkrankten Feld ging wie ein Lauffeuer durchs Dorf. Als Paolo auf dem Dorfplatz aus seinem alten Auto stieg, redeten alle gleichzeitig auf ihn ein. In einer Traube marschierten sie zu dem Hänger. Paolo sah sich die Pflanzen genau an und schüttelte vorsichtig die Erde von der Wurzel.

    „Die Wurzel ist krank, meinte er, „seht ihr: Die Wurzeln sind grau. Und hier sogar schwarz.

    „Aber das hat doch eine Ursache", sagte Perreira.

    „Du bist ein schlaues Kerlchen. Meinst du, dass ich das nicht selber weiß?"

    „Dann unternimm was", sagte Perreira.

    „Und was soll ich deiner Meinung nach tun?", fragte der Landinspektor.

    „Lass die Pflanzen und die Erde untersuchen", schlug Perreira vor.

    „Soll ich etwa wegen jeder umgefallenen Pflanze das Parlament einberufen? Wie stellst du dir das vor? Weißt du, was eine solche Analyse kostet? Und wer zahlt das, he? Hast du eine Ahnung, wie lange man auf das Ergebnis wartet?"

    „So was haben wir auf jeden Fall noch nicht erlebt, sagte Perreira. „Das ist neu. Deshalb musst du was unternehmen.

    „Okay, aber dann müsst ihr die Analyse zahlen."

    „Auf gar keinen Fall!, rief Perreira empört. „Du bist verpflichtet, was zu tun. Vielleicht handelt es sich um eine gefährliche Krankheit, und das muss die Regierung verhindern.

    „Hör mal, du Klugscheißer, sagte Paolo, „wenn sich herausstellt, dass ihr den Schaden selbst angerichtet habt, weil ihr mit irgendeinem Mistzeug was in den Boden gegossen habt, reiße ich euch den Arsch höchstpersönlich auf.

    Paolo ging zum Anhänger, steckte einige der schlappen Maisschösslinge in den Sack und schoss in einer Staubwolke von dannen.

    Nach einer halben Stunde kam er zu Alfredos Tankstelle. Er stellte das Auto in den Schatten und trat auf die Terrasse der heruntergekommenen Spelunke neben der Tankstelle.

    „He Paolo, sprach ihn einer der herumlümmelnden Gäste an, „bist du schon munter?

    „Trink deinen Fusel und lass mich in Ruhe!", fauchte ihn Paolo an und ging zum Telefon, das auf dem Gang neben der stinkenden Toilette angebracht war. Er kannte die Nummer inzwischen auswendig.

    „Hallo", meldete sich eine Männerstimme.

    „Ich bin es, Paolo", sagte der Landinspektor.

    „Was willst du", fragte ihn die Stimme.

    „Seit heute Morgen haben wir den achtzehnten Fall in der Provinz, drüben in Funcheira, einem kleinen Dorf."

    „Verhalt dich einfach ruhig wie immer. Du kommst ja wohl nicht zu kurz", sagte die Stimme.

    „Ich falle auf, wenn ich die Fälle nicht in der Zentrale melde. Irgendwann finden die Bauern das raus, und dann bin ich geliefert."

    „Jetzt gerat nicht in Panik, keiner der Bauern wird sich bei der Zentrale über dich erkundigen. Sage ihnen einfach nach ein paar Wochen, dass die Analysen nichts ergeben haben. Hast du verstanden?"

    „Die Bauern sind nicht so dumm. Die fragen nach …"

    „Hör auf zu lamentieren, unterbrach die Stimme. „Du verdienst jedes Jahr an dem Saatgut mit, das wir an die Bauern verkaufen. Es ist unter Garantie okay.

    Paolo verdrehte die Augen.

    „Bei den ersten fünf Proben haben wir nichts, absolut nichts gefunden, antwortete er. „Ich kann doch eins und eins zusammenzählen. Ihr habt uns dieses Jahr irgendeine Junksaat verkauft, irgendeinen Scheißabfall, der nichts taugt.

    „Reiß dich gefälligst zusammen. Wir kommen jederzeit auch ohne dich aus, und wir können deinem Chef gerne einen Hinweis auf dein empfangsbereites Portemonnaie geben. Vergiss eins nicht: Ich sage nie etwas zweimal", sagte die Stimme und unterbrach das Gespräch.

    Paolo knallte den Hörer auf die Gabel.

    „Blödmann!"

    Allmählich wurde ihm dieses Geschäft zuwider. Am Anfang versprach man ihm ein gefahrloses Zubrot, wenn er das Saatgut wie vorgegeben an die Bauern verteilte. Und jetzt machten ihm die Bauern die Hölle heiß. Zornig riss er eine Packung Zigarillos auf, obwohl er aufgehört hatte zu rauchen. Sein Verlangen siegte … wie immer!

    Er ging zum Wagen zurück, ließ sich in den Fahrersitz fallen und zündete den Zigarillo an. Genüsslich zog er den Rauch ein und fuhr los.

    „Na, Paolo, jetzt fährst du doch sicher zur landwirtschaftlichen Untersuchungsstelle", sagte eine Männerstimme aus dem Fond des Autos.

    Sein Zigarillo fiel ihm auf die Hose.

    „Verdammt, sind Sie verrückt? Sofort raus aus meinem Wagen. Was haben Sie hier zu suchen?"

    Er trat auf die Bremse, sprang aus dem Wagen und riss die Türe auf.

    „Raus! Sofort raus!"

    Weiter kam er nicht. Sein Blick fiel auf die Medaille. Verdammter Mist: ein Bulle. Der Polizist, der in Zivil gekleidet war, blieb einfach sitzen.

    „Steig wieder ein, Paolo, sagte der Beamte. „Wir müssen reden. Fahr am besten zur Finca Rosso, dort können wir einen Happen essen. Und dabei kannst du mir ganz entspannt eine Geschichte erzählen.

    „Was für eine Geschichte? Ich bin schlecht im Geschichtenerzählen", antwortete Paolo.

    „Zum Beispiel über deinen Nebenverdienst. Oder über die Beschwerden der Bauern, die du nicht weitergibst."

    Paolo versuchte, Ruhe zu bewahren. Was wusste der Typ schon? Schmiss einfach auf Verdacht ein paar Vermutungen in den Ring.

    „Du bist nur ein kleiner Fisch, Paolo, fuhr der Beamte fort. „Wir sind hinter den großen Fischen her. Wenn du uns aber weiterhilfst, könnten wir bei dir schnell ein ganz schlechtes Gedächtnis bekommen. Allerdings, gegen die düpierten Bauern können wir dich nicht in Schutz nehmen.

    „Also gut, dann lassen Sie uns zur Finca Rosso gehen", meinte Paolo.

    3.      Oaxaca (Mexiko), Mai2103

    Roberto Hidalgo genoss die Cohiba und fühlte sich an diesem Abend satt und zufrieden. Das Restaurant im Hotel Regente am Place de la Constitution war eine Perle unter den Restaurants von Oaxaca. Hidalgos Blick schweifte vom Balkon auf den wunderschönen Platz. Musik und Stimmen flogen herüber. Sein Gesprächspartner war kurz in die Waschräume verschwunden. Komischer Kauz, dieser Engländer. Okay, er hat viel auf dem Kasten, aber er kriegt, verdammt noch mal die Zähne nicht auseinander.

    Plötzlich stand Terry Hennings wieder am Tisch.

    „Bestellen wir noch Kaffee?", fragte Hennings.

    „Natürlich, das ist das Mindeste, um einen solchen Abend abzuschließen", antwortet Hidalgo und winkte dem Kellner.

    Manchmal wurde Hidalgo aus dem Engländer nicht schlau. Wieso trank er nicht mal einen über den Durst? Warum war er so wortkarg, wenn es um seine Arbeit im Labor ging? Selbst er, Hidalgo, Leiter von SEEDAGRO in Mexiko, folgte der Anweisung, die Arbeiten von Terry Hennings nicht zu stören und ihm alle erdenkliche Unterstützung zu gewähren, die er wünschte.

    „Sie leben schon über zwölf Monate hier, nehmen sich aber nie Zeit für Land und Leute. Sie gehen fast nie aus. Genießen Sie diese Stadt, die hübschen Frauen, das wunderbare Essen, und die berühmten Feste unserer Stadt, sagte Hidalgo, um Hennings ein wenig aus der Reserve zu locken. „Selbst meine engsten Mitarbeiter fragen mich dauernd, warum Sie ihre vielen Einladungen ausschlagen. Ich betone dann immer, dass Sie nicht zum Vergnügen hier sind, sondern um zu arbeiten, aber das nimmt Ihnen auf die Dauer keiner ab. Deshalb würden Sie mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie ab und zu den Vorschlägen meiner Landsleute folgen und ihre Gastfreundschaft annehmen. Das würde auch unserem Betriebsklima guttun. Wissen Sie, wenn Sie einen guten Draht zu den Mexikanern pflegen, sind Sie eher akzeptiert, und dann bleiben auch dumme Fragen aus.

    „Was denn für dumme Fragen?", meinte Hennings und schlürfte von dem mittlerweile eingetroffenen Espresso.

    „Die Leute denken nach, Hennings", sagte Hidalgo.

    In der Tat wurde der blonde, gut aussende Engländer umschwärmt. Der schaute jedoch durch die Mexikaner hindurch, als existierten sie nicht.

    „Sie machen sich Gedanken darüber, warum jemand ziemlich abgeschottet Tag und Nacht in einem eigenen Labor vor sich hin forscht. Dann entstehen natürlich Gerüchte. Sie wissen, dass Mexiko wegen der laschen Bestimmungen das ideale Übungsfeld für Agrarmultis und illegale Gentechnikexperimente war. Unsere Regierung hat durch ihr entschlossenes Handeln dem illegalen Treiben ein Ende gesetzt. Trotzdem erweckt jede Geheimniskrämerei sofort Argwohn."

    Hennings Handy klingelte. Mit einem Schulterzucken und einem leise gemurmelten „Sorry" nahm er ab. Hidalgo sah, wie seine Gesichtszüge versteinerten. Grußlos beendete er das Gespräch. Was er eben gehört hatte, lähmte ihn völlig. Er sollte morgen verhaftet werden, ebenso Hidalgo. Dazu Labordurchsuchung, Aktenbeschlagnahmung, Wohnungsdurchsuchung. Er musste schnellstens verschwinden.

    „Terry, was ist mit Ihnen los?, fragte Hidalgo bestürzt. „Schlechte Nachrichten?

    „Ja, kann man wohl sagen. Meine Schwester! Es geht ihr nicht gut. Sie hatte einen Unfall. Ich fürchte, ich muss meinen Aufenthalt kurzfristig unterbrechen. Die Kinder, wissen Sie, die sind jetzt allein, sie brauchen Hilfe und Unterstützung. Ich muss das organisieren, sonst geht es schief. Wenn Sie erlauben, würde ich mich gerne zurückziehen und mich um meine Rückreise kümmern."

    Hidalgo zögerte einen Moment.

    „Das ist natürlich eine besondere Situation, antwortete er. „Kann ich Ihnen helfen? Ich könnte mich um die Flüge nach London kümmern.

    „Ich danke Ihnen, aber das ist nicht nötig. Jetzt muss ich erst mal meine Gedanken sammeln und mir einen Überblick über die Situation verschaffen. Danke für den netten Abend und die Gastfreundschaft. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich mich jetzt verabschiede."

    „Keine Ursache, bitte sagen Sie mir jederzeit, wenn ich helfen kann", antwortete Hidalgo und erhob sich.

    Vor dem Restaurant lehnte sich Hennings gegen eine Mauer und atmete tief durch. Wie sollte er vorgehen? Zuerst musste er die letzten Ergebnisse seiner Abschlussversuche aus dem Labor rausholen und die Spuren dieser Versuche beseitigen. Belastende Aufzeichnungen aus dem Labor gab es praktisch nicht. Er war doch kein Anfänger. Und die Unterlagen für die Freilandversuche? Bei genauerem Nachdenken war auch da nichts, worüber er sich Gedanken machen müsste. Aber wo war die undichte Stelle? Langsam wurde ihm die Tragweite bewusst. Haftbefehl! Was wollte man ihm vorwerfen? Niemand außer zwei Herren in der Firmenleitung in Lausanne wusste von seinen illegalen Forschungen. Und niemand konnte wissen, worauf es ihm bei den Freilandversuchen ankam. Vielleicht war der Mittelsmann, den er eingeschaltet hatte, um die Behörden zu beeinflussen, die undichte Stelle. Aber auch der wusste nur einen Bruchteil und wurde gut bezahlt. Und wegen Schmiergeld ist in Mexiko noch niemand unter die Räder der Justiz geraten. Er gab sich einen Ruck und nahm sein Handy.

    „Ja, hallo?", meldete sich eine verschlafene Stimme.

    „Hallo, Jacques, hier spricht Terry Hennings."

    „Terry, warum zum Teufel reißen Sie mich aus dem Schlaf?", knurrte Jacques Durrance.

    „Wir haben hier ein kleines Problem. Ich soll morgen verhaftet werden, und die Labors und die Firmenräume sollen durchsucht werden. Diese Warnung bekam ich vor zehn Minuten. Wir sollten sie ernst nehmen."

    „Verdammt, was haben Sie angestellt! Sind Sie verrückt? Das ist ein unglaublicher Skandal! Was ist, wenn alles auffliegt? Ich kann meinen Hut nehmen!", brüllte Jacques Durrance so heftig, dass Hennings sich automatisch umsah und fürchtete, gleich gebe es einen Menschenauflauf.

    „Jacques, bitte beruhigen Sie sich, bettelte Hennings. „Niemand wird irgendetwas finden. Aber ich muss weg, wir können es uns nicht leisten, dass ich für einige Wochen in die Mühlen der mexikanischen Justiz gerate. Wer weiß, wann man da wieder rauskommt. Ich brauche morgen früh einen Flug nach London. Dann müssen Sie Hidalgo warnen und auf den Besuch der Polizei vorbereiten. Sagen Sie ihm, dass SEEDAGRO mich offiziell wieder nach Lausanne zurückbeordert hat.

    „Hören Sie mir jetzt zu!", schrie Durrance weiter. „Sie werden Ihren Arsch in das nächstbeste Flugzeug verfrachten, dann werden Sie alles, was ihren Aufenthalt dort unten in irgendeiner Weise mit Ihrer Tätigkeit in Verbindung bringt, vernichten. Sie sind ein harmloser Gastforscher aus Lausanne. Basta! Und wehe, wenn Sie nicht alle Ergebnisse Ihrer Forschung fein säuberlich aufgeschrieben und ausgewertet bis morgen Abend bei mir auf den Tisch legen! Dann Gnade Ihnen Gott! Die Verbindung brach ab. Hennings rief die internationale Nummer der British Airways an und buchte den Flug um sechs Uhr dreißig nach London. Den Weiterflug nach Genf wollte er im Flugzeug organisieren, um keine Spuren zu hinterlassen. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken.

    Er raste zum Firmengelände. Ihm stachen sofort die Fahrzeuge und Menschen ins Auge, die sich am Firmeneingang drängelten. Es war jetzt immerhin nachts um halb zwölf.

    Gerade raste mit wildem Hupen und Sirenengeheul ein riesiges Feuerwehrfahrzeug auf den Eingang zu. Das Gitter war zurückgeschoben, und er fuhr einfach hinterher. Niemand hielt ihn auf. Als er um die Hauptverwaltung herum Richtung Labor fuhr, sah er die Katastrophe. Aus dem Dach des Labors drangen dunkle, dichte Qualmwolken. Durch die Fenster leuchtete der Feuerschein. Fassungslos starrte Hennings in das Inferno. Er riss das Steuer herum und drängelte sich mühsam zurück. Schließlich erreichte er den Ausgang, verließ das Firmengelände, ohne aufgehalten zu werden, und fuhr durch die nächtliche Stadt zu seinem Appartement.

    Seine Gedanken überschlugen sich. Der Brand konnte unmöglich ein Zufall sein, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen und fuhr mechanisch in das Parkdeck des Appartementhauses. Der Nachtportier grüßte ihn, als er in den Aufzug stieg. Er musste packen und gegen vier Uhr am Flughafen sein. Vor allem wollte er seine vielen geheimen Daten noch einmal sichern. Sein Verfahren war genial. Niemand kannte es. Man konnte es auch nicht im Laden kaufen. Nahezu beliebige Datenmengen und Datenarten ließen sich damit auf einer Film-DVD unterbringen. Niemand, der den Film anschaute, konnte ahnen, dass auf der DVD noch weitere unsichtbare Informationen schlummerten. Alles, was er brauchte, um sie wieder ans Tageslicht zurückzubringen, war seine Kreditkarte und sein Lesegerät für Smartcards. Beides hatte er nach seinen eigenen Ideen umgebaut. Die Verschlüsselungsmethoden, die ihm die Biologie jeden Tag vor Augen führte, waren unschlagbar. Er hatte den Verschlüsselungsalgorithmus bei dem Informationstransfer zwischen Bakterien herausgefunden, ein Programm geschrieben und den Smartcard-Leser mit handelsüblichen elektronischen Bauteilen von außen unsichtbar umgebaut. Die winzig kleine Infrarotschnittstelle zum Videorecorder konnte man nur bei genauerem Hinschauen erkennen. Das eigentliche Programm mit den wenigen Anweisungen war auf dem Chip seiner Kreditkarte gespeichert. Zwischen Computer und DVD-Recorder geschaltet sorgte das Gerät dafür, dass geheime Daten inmitten der digitalen Film-Datenbits für niemanden sichtbar verschwanden.

    Hennings schloss die Wohnungstür auf und schaltete das Licht ein. Im Flur des kleinen Appartements lagen wild verstreut Kleidungsstücke und Zeitschriften, die Schubladen waren aus der Garderobe gerissen und zusammen mit dem Inhalt über den Boden zerstreut. Er schaute vorsichtig in den Wohnraum. Alle Lichter waren an. Auf dem Boden türmte sich eine Riesenschweinerei. Seine Schränke waren geleert, die Bücherregale umgekippt, der PC und der neue Flachbildschirm waren verschwunden. Im Schlafraum herrschte das gleiche Chaos. Jemand hatte etwas gesucht. Er suchte das Telefon und rief den Portier an.

    „Hier ist Appartement dreiundvierzig, Terry Hennings. Sagen Sie, hat heute jemand nach mir gefragt, oder wollte mich jemand besuchen oder mir eine Nachricht hinterlassen?"

    „Nein, nicht dass ich wüsste, es liegt auch keine Notiz von meinem Vorgänger vor. Tut mir leid, Sir."

    „Danke. Gute Nacht."

    Sofort suchte er nach seinen Video-DVDs. Jemand hatte sie aus den Hüllen entfernt und in eine Ecke geworfen. Gott sei Dank. Die drei DVDs mit seinen verschlüsselten Aufzeichnungen schienen alle unbeschädigt. Das waren Trottel, dachte er. Trotzdem war es knapp. Sie hätten die DVDs zerbrechen oder darauf herumtrampeln können. Stattdessen hatten die Eindringlinge (vielleicht war es ja auch nur einer) Aktenordner, Notizblöcke, und den PC mitgenommen.

    Sie würden nichts finden.

    Mutlos setzte er sich auf die Bettkante. Er würde vor allem kein Gepäck mitnehmen, wenn er zum Flughafen fuhr. Niemand durfte Verdacht schöpfen, dass er verreisen wolle. Er packte das Notwendigste einschließlich der drei DVDs mit dem Lesegerät in einen Rucksack. Dann duschte er, zog sich um und fuhr ins Erdgeschoss. Dem Nachtportier teilte er mit, dass er dringend in die Firma müsse, weil dort ein Brand ausgebrochen sei, was ja immerhin stimmte und außerdem glaubwürdig klang, denn der Fernseher neben dem Portiertisch zeigte einen aufgeregt gestikulierenden Reporter vor der von Scheinwerfern angestrahlten SEEDAGRO-Kulisse.

    Den Flughafen erreichte er unbehelligt. Niemand schien ihm gefolgt zu sein. Er stellte den Wagen ab und verließ das Parkdeck in Richtung Check-in.

    4.      Genf (Schweiz), Juni 213

    In Genf mühte sich das Taxi durch den zähen Verkehr bis vor den Eingang des Mövenpick Flughafenhotels. Es war der Beginn der Haupttouristenzeit und ein warmer Sommerabend. Als das Taxi hielt, gab Jacques Durrance dem Fahrer einen Zwanzigfrankenschein und stieg aus. Durrance war klein und wirkte energisch und drahtig. Seine Augen verrieten wache Intelligenz. Zielstrebig steuerte er auf das Restaurant zu, wo ihn ein Kellner zum bestellten Tisch führte.

    Terry Hennings war vor zwei Stunden über London aus Mexiko eingetroffen und schlief heute Nacht im Mövenpick.

    „Hallo, Jacques, Sie sind ja wieder überpünktlich", sagte Hennings, als er an den Tisch herantrat.

    „Hallo, Terry", antwortete Durrance mit gebremster Begeisterung.

    Der lange Engländer war ihm seit jeher eine Spur unsympathisch. Er hatte keinen festen Händedruck. Und seine blonden Haare waren leider öfter strähnig als gut gepflegt.

    „Ich hoffe, Sie sind dem Desaster wohlbehalten entronnen. Ich hatte heute in der Zentrale deswegen bereits etliche unangenehme Begegnungen, bemerkte Durrance knurrig. „Gott sei Dank ist der Schaden nicht so schlimm, wie befürchtet, trotzdem haben wir wertvolle Laboreinrichtungen und wichtige, lang angelegte Kulturen verloren. Der Brand muss kurz nach unserem Telefonat ausgebrochen sein. Trotzdem hat die mexikanische Polizei versucht, den Haftbefehl gegen Sie zu vollstrecken. Hidalgo erklärte wie abgesprochen, dass Sie auf Berichterstattung im Hauptquartier seien. Wir gehen davon aus, dass die mexikanischen Behörden keinen internationalen Haftbefehl erwirken. Aber zurück nach Mexiko können Sie auf keinen Fall mehr.

    „Jacques, das tut mir alles sehr leid. Aber machen Sie doch mal einen Punkt, alles, was ich bisher drüben in Mexiko erreicht habe, wäre hier undenkbar. Ich habe während der letzten zwölf Monate den Durchbruch geschafft. Uns beiden war von vornherein klar, dass unsere Forschung selbst nicht illegal ist, aber trotzdem nichts durchsickern darf. Offiziell hat auch SEEDAGRO dem Moratorium zur Forschung an Terminatortechnologien zugestimmt. Deshalb verlegten wir die Genexperimente nach Oaxaca. Die Anzucht der Maisschösslinge, die Vermehrung für Freilandversuche und die Freilandversuche selbst waren natürlich illegal. Aber unsere kühnsten Erwartungen wurden bestätigt. Die Technologie steht! Sie ist beherrschbar und funktioniert. Von mir aus wurden alle denkbaren Vorsichtsmaßnahmen erfüllt, damit nichts durchsickert und kein Material in falsche Hände gerät. Immer wieder erwirken Verrückte Haftbefehle gegen Menschen, die in Genlaboren arbeiten, weil sie dahinter den Teufel vermuten, oder gegen Zoos, die mit geraubten, halbverhungerten Tieren unerlaubte Experimente betreiben. Jacques, niemand hat, was wir haben! Endlich können wir jetzt die halsstarrigen Länder und Bauern in den Griff bekommen, endlich können sie unsere genetisch getrimmten Pflanzensorten nicht mehr ohne unsere Erlaubnis nutzen. Damit ist jetzt mit unserer Terminatortechnologie endgültig Schluss."

    Jacques nippte nachdenklich an seinem Campari.

    „Ich brauche jetzt was Vernünftiges im Magen", sagte Hennings und stand auf, um sich am Buffet zu bedienen.

    Zurück am Tisch ergriff Durrance das Wort.

    „Ich habe die letzten Ergebnisse noch nicht selbst gesehen, aber Ihre alten Aufzeichnungen alle gelesen. Was macht Sie eigentlich so sicher, dass wir die Technologie sicher beherrschen und keine unbekannten Risiken beherbergen? Wir haben doch überhaupt keine Erfahrungen damit gesammelt! Bisher haben Sie ausschließlich mit Mais experimentiert. Die illegalen Freilandversuche können uns doch nicht die Sicherheit geben, die wir brauchen."

    „Das stimmt so nicht, warf Hennings ein. „Ich habe die Pflanzen gentechnisch nur unwesentlich verändert. Ich habe tief in den genetischen Codesequenzen, von denen wir bisher annahmen, dass sie für die Pflanze und ihre Merkmale wertlos seien, einen Schalter, um es präziser zu sagen: einen Generationenzähler, entdeckt. Das bestätigte mich übrigens in meiner Meinung, dass die Pflanze wie ein Computer funktioniert. Da läuft auf einem Betriebssystem ein Programm ab, das wir nicht verstehen können, weil wir es noch gar nicht entdeckt haben.

    „Jetzt spinnen Sie nicht, warf Durrance ein. „Sie wissen, dass ich für so einen Blödsinn kein Verständnis habe. Ich will Ergebnisse, mit denen wir unsere Marktstellung ausweiten und im Wettlauf mit den anderen Agrarmultis die Nase vorn haben können.

    „Sie verstehen mich, wie immer, falsch, Jacques, sagte Hennings. „Sie sind Biologe, ich bin Biologe. Wir beide wissen, dass wir die Komplexität einer Pflanze noch nicht mal andeutungsweise verstehen. Wir sind blutige Anfänger, Laien, die bisher die Bettdecke nur an einem Zipfel hochgelupft haben; das ist viel zu wenig, um zu wissen, was der genetische Code in Pflanzen wirklich bewirkt.

    „Das haben Sie zwar schön gesagt, Terry, macht die Sache aber nur noch schlimmer. Ich weiß, Sie sind ein begnadeter Tüftler, der genial mit dem Erbgut einer Pflanze herumexperimentieren kann, aber leider sind Ihnen die Folgen gleichgültig."

    „Jacques, wieso haben Sie plötzlich auf einmal Skrupel?, unterbrach ihn Hennings. „So kenne ich Sie ja gar nicht! Also gut, lassen Sie es mich noch mal versuchen. Meine Methode ist absolut sicher. Dieser Generationenzähler existiert gewissermaßen von Natur aus in einer Pflanze. Bisher ist er aber unentdeckt geblieben und normalerweise ist er stillgelegt, damit die Pflanze uneingeschränkt Nachkommen erzeugen kann. Ich habe nun herausgefunden, dass dieses Zählwerk aktiviert werden kann. Und ich kann es auf eine feste und endliche Anzahl von Folgegenerationen einstellen. Wenn die Pflanze die Nachfolgegeneration Null erreicht hat, stirbt sie mitten im Wachstum ab. Sie verübt Selbstmord. Ist der Generationenzähler erst einmal aktiviert, dann zählt er selbstständig runter auf Null. Fantastisch, oder?

    „Das mag ja alles richtig sein, warf Durrance ein, wobei seine Gabel suchend über dem Zürcher Geschnetzelten schwebte. „Aber gibt die Pflanze den Zählerstand dann auch an die Nachfolgegeneration weiter? Oder wird er abgeschaltet?

    „Auch hier sind die Ergebnisse der Freilandversuche eindeutig, antwortete Hennings. „Die Weitervermehrung funktioniert nur mit sich selbst bestäubenden Pflanzen. Wenn aber die Zählerstände bei männlicher und weiblicher Pflanze unterschiedlich aktiv waren, bekam ich überwiegend Pflanzen, bei denen der Zählmechanismus inaktiv war.

    „Was heißt überwiegend?", fragte Durrance gereizt und wischte sich den Mund ab.

    „Ich habe ziemlich konstant bei drei von hundert Maispflanzen die Weitergabe des Zählers entdeckt. Und er stand dann immer auf Null. Das bedeutet, diese drei Prozent Pflanzen sterben und erzeugen keine Nachkommen mehr. Wir sind auf der sicheren Seite, Jacques. Wir sollten das Patent anmelden."

    Durrance wusste, worauf Hennings hinauswollte. Immerhin hatte er Hennings eine Provision von einer halben Million englische Pfund in Aussicht gestellt, falls er die Terminatortechnologie sicher mache und ein Patent angemeldet werden könne.

    Das Handy von Durrance trällerte. Er nickte still.

    „Okay, ich melde mich morgen bei Ihnen", sagte er.

    Als er das Handy wieder einsteckte, sah er durch Hennings hindurch. Spätestens jetzt wusste Hennings, dass er ihm den Gesprächsteilnehmer (es war der Leiter des Eidgenössischen Biologischen Institutes) verschweigen würde. (Der Haftbefehl für Terry Hennings sei bekannt, hatte ihm der Eidgenosse mitgeteilt. Man werde nun von behördlicher Seite darauf hinwirken, dass Hennings die Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz nicht verlängert bekomme.)

    Endlich sah Durrance zu ihm auf.

    „Zurück zu uns. Wie bekomme ich Ihre Unterlagen?"

    „Ich habe sämtliche Unterlagen hier in diesem Paket. Alles in doppelter Ausfertigung auf DVD. Bitte!", sagte Hennings und reichte das Paket an Durrance weiter.

    „Sie halten noch eine Kopie für sich zurück?",

    „Natürlich, Jacques, sagte Hennings. „Ich hebe immer alles gut auf.

    „Ich bin nicht einverstanden!, sagte Durrance bestimmt. „Sie sollten keine eigenen Unterlagen mehr aufheben. Das ist mir zu unsicher.

    „Dann lassen Sie uns schnell und unkompliziert über die Provision reden, lieber Jacques, dann können Sie alles bekommen, was Sie wollen. Solange behalte ich meine Version der Aufzeichnungen."

    Durrances Stirnadern schwollen deutlich an.

    „Es wird trotzdem noch einige Tage mit der Provision dauern. Erscheinen Sie auf keinen Fall unverlangt in der Firma. Bleiben Sie solange hier im Hotel. Ich melde mich wieder."

    „Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, danke für das Essen. Und ich freu mich auf Ihren Anruf, Jacques."

    Hennings erhob sich. Wütend winkte Durrance dem Kellner. Er bestellte noch einen Espresso und die Rechnung. Hennings benahm sich zu sorglos. Er war nur auf das Geld scharf. Natürlich hatten sie jetzt ein Werkzeug in der Hand, um die Pflanzenerzeugung und Pflanzenvermehrung wesentlich besser zu kontrollieren und die vielen illegalen Saatguterzeuger auszuschalten. Aber das Werkzeug war noch stumpf und konnte auf keinen Fall genutzt werden. Dafür war die Zeit noch nicht reif. Als Nächstes musste er sich Einblick in Hennings’ Material verschaffen und sich vergewissern, dass sie jederzeit in der Lage waren, seine Ergebnisse zu reproduzieren.

    5.      Genf (Schweiz), Juni 213

    Obwohl Terry Hennings erst seit wenigen Tagen in dem Appartementhaus der Rue Henri Dunant wohnte, war er froh, als die Swisscom den Telefon- und Internetanschluss freigeschaltet hatte und die Zeit des Internet Cafés vorbei war, wo er sich immer beobachtet fühlte. Durrance hatte ihm mitgeteilt, dass momentan eine ganz schlechte Stimmung herrsche und man die Provision nicht so einfach abzweigen könne, ohne unnötige viele Fragen zu provozieren. Er solle sich gedulden. Schließlich bat ihn Durrance, der Firma bis auf Weiteres fernzubleiben. Das war vor zwei Wochen, danach hatte er sich entschieden, aus dem teuren Hotel auszuziehen. Durrance hielt ihn offensichtlich hin. Offensichtlich beabsichtigte Durrance, das Spiel noch eine Weile fortsetzen. Aber ohne ihn. Die letzten fünf Jahre seines Lebens hatte er der Firma geschenkt. Er war bereits siebenunddreißig Jahre alt und hatte bisher nur wenig Spaß in seinem Leben. Biologie, Pflanzen und Genetik waren seine Passion, seine Berufung. Ein Labor war alles, was er brauchte. Frauen sagten ihm wenig. Zurück blieben nur Erinnerungen an Stress und wie er seine kostbare Zeit mit Knutschen, Kino und Partys vertrödelte, anstatt seine Versuchsreihen im Unilabor durchzuziehen. Schon lange reifte in ihm der Traum vom eigenen Labor, in dem er unabhängig seine Forschungen betreiben konnte. Dazu war viel Geld nötig, und die Provision hätte ihn diesem Traum näher gerückt. Wenn Durrance ihn verarschte, musste er eben andere Wege gehen. Seine Freunde waren mittlerweile alle in guten Positionen in der Privatwirtschaft untergebracht. Wassili Orgakow hatte ihn inzwischen sogar schon besucht. Er kümmerte sich um westliche Firmen, die ihre Produktion aus Kostengründen nach Osten verlagerten, und sorgte dafür, den Speckgürtel um Moskau noch fetter zu machen. Orgakow hielt Hennings als Einziger die Treue und schrieb ihm mindestens einmal im Monat eine unverfängliche Mail. Vor drei Tagen hatte er Orgakow angerufen und ihn um dringenden Rückruf gebeten. Als sich Orgakow am nächsten Tag meldete, vergewisserte er sich Hennings als Erstes, dass Orgakow von einem anonymen Handy aus sprach.

    „Wassili, ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Hör mir zu und frag mich am Schluss, wenn du etwas nicht verstanden hast."

    „Okay", brummte Orgakow am anderen Ende.

    „Ich habe das Problem gelöst, sichere Terminatorpflanzen herzustellen. Mein Auftraggeber wird mir meinen Anteil an der mühsamen Arbeit nicht honorieren. Ich bin sicher, sie überlegen, wie sie mich abservieren können."

    „Für wen ist deine Arbeit interessant? Willst du Wissen verkaufen oder dich dazu?", fragte Orgakow.

    „Interessant ist es für alle Agrarfirmen, Pflanzenzuchtfirmen und Saatgutproduzenten, weil sie sich damit ein Monopol aufbauen können. Gerade in Russland, wo Gesetze nicht so ernst genommen werden, kann jemand sehr schnell mit dieser Technik die halsstarrigen Bauern und Großagrarproduzenten in die Knie zwingen und ihnen sein Saatgut aufzwingen. Ich habe die Technologie zwar erst für Mais beherrschbar gemacht, aber auch für andere Pflanzen lässt sich die Technik mit vertretbarem Aufwand anpassen. Schön und gut: Ich möchte mein Wissen verkaufen, Wassili."

    „Hast du etwas, das du mir zeigen kannst?, fragte Wassili. „Du weißt, dass in dem Geschäft nur Beweise zählen.

    „Das ist kein Problem, antwortete Hennings. „Wie kann ich dir eine DVD sicher zukommen lassen?

    „Gib sie persönlich an Olga Gromskaja in der Botschaft in Bern ab. Dann gelangt sie auf sicherem Weg zu mir. Verschlüssele alles mit dem lateinischen Namen jenes Wesens in der Mitte des Bildes, welches du erfolgreich mit einem Bierglas von der Tresenrückwand geschossen hast."

    „Lass mich überlegen …", meint Hennings.

    „Du kommst drauf, ganz sicher, denk nach und sag nichts am Telefon. Ich warte auf deine DVD, dann melde ich mich, sobald sich Unternehmen interessieren. Ciao, mein Freund."

    Hennings fiel das Bild wieder ein. Sie lungerten damals in einer Kneipe im Zentrum Edinburghs herum und waren furchtbar betrunken. Hennings wollte Wassili und die anderen Freunde beeindrucken, indem er den Wirt mit dem einzigen, aber furchtbar hässlichen Bild aufzog, das hinter dem Tresen an der Wand hing. Es war purer klassizistischer Irrsinn hinter Glas und Goldrahmen. Das Bild zeigte im Hintergrund eine stolze, mittelalterliche Burg mit heruntergelassener Zugbrücke, über die eine Schar Reiter zur Jagd in Richtung Wald stob, voran die wilde Meute geifernder Hunde. Im Vordergrund und in der Bildmitte formte eine Schar fülliger und in fließende, weiße Gewänder gehüllte weibliche Schönheiten einen Kreis, umrundet von liegenden, stehenden und schwebenden Putten. Und inmitten der grinsenden, hopsenden und leicht gekleideten jungen Damen äste ein Hirsch ruhig vor sich hin.

    „Der Wirt wurde wohl wegen Schwarzbrennerei als Hirsch hinter Glas verbannt", lallte Hennings damals laut und provozierend, damit es der Wirt hörte.

    „Von wegen, lachte der Wirt. „Das Bild hat mir meine Schwiegermutter zur Eröffnung der Kneipe geschenkt. Solange sie lebte durfte ich es nie entfernen, sonst hätte sie meine Frau enterbt. Vor einer Woche hat sie uns für immer verlassen. Wenn Sie, lieber Freund, anstatt mich zu beleidigen, mir dabei helfen, das Bild mit einem Glas Guiness von Ihrem Stuhl aus zu treffen, dann gebe ich eine Runde an Sie und ihre Freunde aus.

    Daraufhin hob er seine Rechte und traf tatsächlich mit einem halbvollen Glas genau den Hirsch.

    Jetzt fiel ihm das Passwort wieder ein.

    Dann rief er die russische Botschaft in Bern an und ließ sich mit Olga Gromskaja verbinden.

    6.      Lausanne (Schweiz), Juni 2013

    Marco Helfiger nahm nur kurz Notiz vom herrlichen Panorama, das sich von der Terrasse des Hotel Au Lac bot. Am anderen Ufer erkannte man deutlich Evian, den kleinen, aber berühmten französischen Ort am See. Das französische Genferseegebiet wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt. Es gab immer wieder Zwischenfälle, weil Flüchtlinge nachts versuchten, über den See zu schwimmen. Deutsche Patrouillenboote suchten regelmäßig den See mit starken Scheinwerfern ab. Schweizer Boote des Grenzschutzes markierten genau die Staatsgrenze, die von den Nazis respektiert wurde. Die entkräfteten Flüchtlinge wurden in der Seemitte von unbeleuchteten und wendigen Booten empfangen. Oft fielen im Dunkeln Schüsse am anderen Ufer. Alle Menschen auf dieser Seeseite hassten die Nazis.

    Helfiger riss sich los von der dunklen Vergangenheit und schaute auf das in die milde Abendsonne getauchte Montblancmassiv, das die anderen Berge mühelos überragte. Seit über dreißig Jahren genoss er diesen Anblick. Als Jacques Durrance von einem Kellner begleitet auf seinen Tisch zusteuerte, wurde er jäh in die Gegenwart zurückgerissen.

    „Na, hast du die Sitzung mit deinen Jungs gut überstanden?", fragte Helfiger belustigt.

    „War nicht einfach. Forschung überrascht immer wieder, mein lieber Marco. Vor allem, wenn die Forschungsarbeiten nicht so durchgeführt worden sind wie vereinbart. Beispielsweise wissen wir immer noch nicht, ob es Bakteriophagen gibt, die auch bestimmte Bodenbakterien befallen. Da hat jemand nicht mitgedacht und die Analysen zu früh abgebrochen. Jetzt muss alles wiederholt werden."

    Durrance machte eine kurze Pause.

    „Essen bestellen wäre eine gute Idee. Ich bin hungrig."

    „Fisch musst du nehmen, mein Lieber. Hier sind die Felchen einfach köstlich. Und ich nehme dazu Bärlauchkartoffeln."

    „Gute Idee. Okay, ich bin dabei."

    Sie bestellten und blieben trotz der köstlichsten Weinversuchungen hartnäckig bei Wasser.

    „Unser Thema heute hat einen Namen und heißt Hennings, führte Helfiger in den weniger angenehmen Teil des Abends ein. „So wie du es mir geschildert hast, ist er mir einfach zu dreist. Natürlich habe ich ihm die eine halbe Million Pfund Provision versprochen, wenn wir es als Patent anmelden können. Aber im Moment wird das Moratorium zur Weiterentwicklung der Terminatorpflanzen wahrscheinlich verlängert. Wir können uns dem nicht widersetzen, ohne dass die ganze Welt aufheult. Ich stehe als Forschungsvorstand von SEEDAGRO im Rampenlicht. Du weißt, wie empfindlich uns Analystengeschwätz treffen kann. Diese Klugscheißer haben zwar keine Ahnung, welche Vorteile uns diese Technologie bringen könnte, aber sie geben Statements ab, die todsicher für wahr gehalten werden. Ergo: Hennings muss noch warten. Aber sag mal, ist es wahr? Die Terminatorpflanze ist wirklich machbar?

    „Ja, die Entwicklung scheint stabil zu sein. Ich habe alles gecheckt, hat mich eine Woche

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